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15.

In dieser Nacht lag Susanne wach und starrte ins Dunkel. Und wenn sie auf kurze Zeit in fiebernden Schlaf verfiel, träumte sie, sie sei eine Hexe und stände nackt auf dem Markte und sei an einen Pfahl gebunden. Und ein junges, wildes Weib mit flatterndem, rotem Haar peitschte sie vor allem Volke. Und der Riemen fegte um ihre nackten Brüste und riß tiefe, klaffende Striemen bis hinein ins schlagende Herz.

Dann fuhr sie mit leisem Klagelaut empor und starrte wieder ins Dunkel. Und hörte Hoff sich im Bett werfen und ächzend stöhnen.

Seit dieser Nacht beugte sie das Bewußtsein nieder, daß sie ihm im Wege stehe. Und sie sann und grübelte und suchte einen Weg in der finsteren Nacht und stieß ihre schone Stirn wund an dem dunklen Tor, durch das sie dann gegangen ist.

Sie war keine Kämpferin, die große, seelenvolle Susanne Neubert. Nein, das war sie nicht. Sie war eine Lebensträumerin. Sie konnte wohl in den Wald hineinlaufen und in der Ferne ein diamantenes Schloß im Schein der Morgensonne strahlen sehen. Und sie konnte selbstvergessen die Hand eines Märchenprinzen ergreifen und mit ihm dem Zauberschlosse entgegenlaufen. Das konnte sie. Und kam ein tiefer Graben mit stachligen Sumpfpflanzen, da konnte sie ihres Prinzen Hand fest umklammern und mit ihm getrost den Sprung wagen. Denn sie wußte, sie käme hinüber, hinüber zu dem Märchenschloß. Das konnte sie. Sprangen ie aber zu kurz und fielen sie in den häßlichen, dunkelnassen Graben und schlangen die langen Gewinde des Sumpfes ihre feuchten Arme um ihre Glieder und stachen die stacheligen Binsen ihr in die Augen und sah sie ihren Prinzen kämpfen, sie beide über dem schwarzen Wasser zu halten, da war sie nicht geschaffen, seine Hand noch fester zu umkrallen. Da gab sie seine Hand frei und legte die Arme ergebungsvoll vor die Augen, daß die Stacheln nicht so stachen, und begriff es nicht recht, daß sie das Märchenschloß nicht gefunden hatte. Und versank dann still in dem häßlichen, schwarzen Wasser.

So war Susanne Neubert. Und so war ihr kurzes, junges Leben –

Wohl war Hoff gut und lieb. Wohl stand es fest bei ihr in aller Not. Wohl bargen die kurzen Tage, die ihr Leben noch währte, reiche, kostbare Stunden voller Verzückung und Vergessen. Doch der Kummer ließ sie nicht wieder aus seinen Klauen, Nachmittag auf Nachmittag lohte ein herzbeklemmender Kampf und durchschnitt ihre Lebensstränge. Sie konnte schließlich gellend aufschreien, wenn sie nur Schritte auf dem Kiesweg unten am See vernahm. Und sie hatte die langen, einsamen Stunden des Vormittags zum Grübeln und Sinnen und zum Pochen an das dunkle Tor, hinter dem ein Weg lag.

Nein, die feine, scheue Susanne Neubert war dem selbstsüchtigen Kampf dieses schonungslosen Lebens nicht gewachsen. Sie war keine Gegnerin für Lebensstreiter wie Frau Hoff und deren Tochter Herta. Und dann hatte sie noch ihr eigenes Leid um die Mutter. So trieb sie hinab ihren kurzen, wehen, dunklen Weg.

Noch am Abend schrieb Hoff an seine Mutter. Nicht Feigheit noch Schuldbewußtsein zwinge ihm die Feder in die Hand, sondern allein die Erkenntnis, daß sie zu einer ruhigen Aussprache alle noch zu erregt seien. Er stellte ihr in leidenschaftlichen Worten vor, daß er Susanne liebe und daß sein Lebensglück unzerreißbar mit ihrem Lose verknüpft sei. Zum Verzweifeln liege kein Grund vor. Sie müßten von diesem unverrückbaren Standpunkte aus die Lage ruhig mit klaren Augen betrachten. Dann würden sie finden, die Zukunft ließe sich einrichten. Und er sprach wieder davon, daß auch Susanne arbeiten werde und daß sie sich durchbringen könnten, wenn sie nur alle in Liebe zusammenhielten. Er habe seine Pflicht ihnen gegenüber nicht vergessen, noch die Entbehrungen, die sie seinetwegen gelitten. Er sei auch bereit, ihnen jedes Opfer zu bringen unter Wahrung der Pflichten, die ihm seine Mannhaftigkeit und die Treue gegen Susanne auferlegten.

In der verzweifelten, zornbebenden Stimmung verhallten seine Worte. Als die Mutter den Brief gelesen hatte, reichte sie ihn wortlos der Tochter, die ihr, vor Spannung zitternd, über die Schulter blickte. Herta zerfetzte ihn, trat ihn unter die Füße und rief wieder: »Der Schuft – dieser erbärmliche, niederträchtige Schuft?«

Lisbeth freilich sagte leise: »Wenn er sie liebt, ist es ein Unglück, das wir tragen müssen.«

Doch die Mutter sah nur ihr Lebenswerk, dieses mit blutrünstigen Händen aufgetürmte Lebenswerk, von seinen täppischen Fäusten in Trümmer geschlagen. Sie hatte die Energie wiedergewonnen, die nach ihres Mannes Tode der Familie den Halt gegeben.

»Liebe, Liebe!!« schrie sie heftig. »Liebe! Hör' auf mit Liebe! Wenn das Weib nicht dazwischengetreten wäre, hätte er Esther Honigmann geheiratet und hätte sie ›geliebt‹. Was heißt denn Liebe! Geschmeichelt hat das Weib ihm, weiter nichts. Aber so sind die Männer! So wie eine Frau ihnen Honig um den Bart schmiert! Sie hat sich ihren Pappenheimer angesehen. Ist zu ihm gelaufen, hat getan, als ob sie ihm Gott weiß welches Opfer bringt. Und der dumme Junge ist natürlich darauf reingefallen. Auf diesen platten, uralten Trick. Aber –« und sie lief gehetzt im Zimmer umher – »sie hat mit mir dabei nicht gerechnet. Sie hat sich verrechnet, diese Dirne, wenn sie glaubt, wir werden das so ruhig hinnehmen. Sie kann sich auf was gefaßt machen, wenn sie mir unter die Finger kommt. Die Maske werde ich ihr herabzerren, daß sie dasteht in ihrer raffinierten Gemeinheit.«

Und sie suchte sich damit zu beruhigen, daß man Ewald nur ihr wahres Gesicht zu zeigen brauche, um ihn von seiner Betörung zu heilen.

Am Nachmittag fuhr die Mutter mit Herta hinaus. Da kam es zwischen Hoff und den Frauen zu einer Auseinandersetzung, bei der die bleiche Not, rotglühender Zorn und fahle, ohnmächtige Wut gellend ihre verzweifelten Stimmen erhoben. Und schließlich riß die Mutter die Tür zum Nebenzimmer auf. Susanne flüchtete angstgehetzt in die äußerste Ecke der Stube und streckte die Hände abwehrend aus gegen die rasende Frau. Ein Hagel grausigster Schmähworte prasselte nieder auf ihr weißes Gesicht. Hoff mußte die Mutter mit Gewalt entfernen. Sie ging, nachdem sie ihm in grotesker, alttestamentarischer Weise geflucht hatte.

Und wenn Hoff seine zitternde, bleiche Suse dann auch in die Arme nahm und streichelte und liebkoste und flüsterte: »Denk' nicht daran, denk' nicht mehr daran«, bekam sie doch einen Weinkrampf nach dem anderen und mußte zu Bett gebracht werden. Und fieberte und fuhr mit wirren Schreckensrufen aus den Kissen auf und klammerte sich mit heißen Fingern an seine Brust und flehte herzbrechend, sie vor den Peitschenhieben zu schützen. Es brenne ja so unendlich.

Hoff gab Mutter Ebeling den strikten Befehl, jedem den Zutritt zu wehren. Die Alte nickte: »Die sollen nur noch mal kommen. Das wollen feine Leute sein! Na! Natürlich glauben so 'ne immer, die jungen Herren könnten sich bei unsereinem verplempern! Als ob wir nicht auch Herz und Gemüt hätten und das bißchen Geld alles tut. Die sollen mir nur kommen. Ich werd' sie schon heimgeigen!«

Doch nun saßen sie wie in einein Gefängnis. Und vormittags, wenn Hoff im Dienst war, fröstelte Susanne bei jedem Säuseln in den Blättern.

In dieser wehen Stimmung schrieb sie einen, langen, kindlich-flehenden Brief an die Mutter. Noch einmal suchte sie ihr zu erklären, daß sie Ewald liebe und ihm habe folgen müssen. Sie erhielt keine Antwort vor ihrer letzten schwarzen Stunde. – –

Frau Hoff empfand schon auf dem Heimwege ihre sinnlose Heftigkeit als bösen Mißgriff. Sie war weit davon entfernt, die Hoffnung aufzugeben. So unlöslich hatte sie sich in ihrem Lebensplan verstrickt, daß keine Möglichkeit anderer Lebensgestaltung in ihren Sinnen Raum fand. Sie hatte sich in dem Mittel vergriffen, das allein sah sie ein. Gegen Heftigkeit war er mit Trotz und Erbitterung gewappnet. Aber gegen Milde und liebevolle Güte war sein weiches Herz wehrlos. So urteilte sie. An sein Kindesgefühl und seine Geschwisterliebe wollte sie appellieren. Dann würde er nicht versagen.

Doch Herta schüttelte, aller eifrigen Selbsttröstung müde, den blonden Kopf. Sie hatte in diesen beiden Tagen etwas Fremdes in des Bruders Stimme metallisch mitklingen gehört. Sie ahnte, daß seine Lebensenergie erwacht war. Daß er seinen Weg gehen würde, auch über die Gräber ihres Glückes. Stumm und untätig hockte sie in dem kleinen Zimmer, in dem Hoff früher gewohnt hatte. Sie rührte keine Nadel an. Nein, das hatte nun doch keinen Zweck mehr. Und jetzt hätte sie nicht mehr den Brief an Esther schreiben können, den sie noch gestern abends zur Post gebracht hatte. Jetzt hätte sie nicht mehr lügen können und der Freundin mitteilen, daß die Begegnung da am Fenster sich als sehr harmlos entpuppt habe. Es sei nur das Fräulein gewesen, das seine Arbeit abtippte. Der Bruder sei auf wenige Tage dienstlich verreist und lasse sie herzlich grüßen. In wenigen Tagen werde sie von ihr und ihm hören.

Auch die Mutter stickte nicht mehr. Sie grübelte aber Briefe an den Sohn, die sie schrieb und wieder zerriß. Nein, nein, sie mußte ihm anders schreiben. Wärmer, herzlicher, unwiderstehlicher.

Lisbeth wurde die Stütze des Hauses. Sie nähte für zwei und hielt den Haushalt in Ordnung, still und wortlos nach ihrer Art. Tief im Herzen gab sie dem Bruder recht. Denn sie glaubte an seine Liebe. Sie dachte daran, wie blaß und gebeugt er oft in letzter Zeit gewesen. Heute wußte sie, damals rang er mit sich und seiner Liebe zu ihnen. Ja, sie gab ihm recht. Aber sie bückte mit brennenden Augen in die Zukunft. Was sollte werden? Sie wußte am besten, daß ihr Mut und ihre Kräfte erschöpft waren; daß sie sich nur an die Hoffnung auf nahe Erlösung keuchend, todesmatt geklammert hatten. Und sie nähte und nähte, und alles verschwamm vor ihren müden, umflorten Augen, und sie dachte an ihren Bildhauer und nähte verzweifelt. Was sollte bloß werden?! – Mein Gott, was sollte werden?! Und sie wußte, das beste wäre, sie legten sich hin und starben. Ja, das war das beste und schmerzloseste. Und sie nähte weiter und spann mit dem Faden den düsteren Gedanken aus, Am Abend saß Frau Hoff noch immer gebeugt über ihren Brief. Sie konnte die rechten Worte nicht finden.

Lisbeth nähte. Die Augen schmerzten wieder so sehr von der Anstrengung der Arbeit und vom Starren ins Dunkel der Zukunft.

Endlich, gegen zehn Uhr, war es der Mutter gelungen. Sie steckte das Schreiben ins Kuvert, schrieb mit energischen großen Buchstaben die Adresse und stand auf.

»Jetzt soll Herta ihn gleich zum Kasten tragen«, sagte sie, »und dann soll sie zu Bett. Wenn sie nicht arbeiten kann, soll sie sich wenigstens ausruhen. Das lange Grübeln führt doch zu nichts.« Damit ging sie ins Nebenzimmer.

Lisbeth hörte sie gleich darauf draußen im Hausflur Hertas Namen rufen, dann kam die Mutter schreckensbleich herein und ächzte: »Du, Lisbeth, sie ist nicht da!«

Mutter und Tochter starrten sich einige Sekunden lang erdfahl in die Augen. »Sie hat sich etwas angetan«, schrien die stummen Blicke.

Als die Lähmung von Lisbeth wich, sprang sie empor und rannte durch alle Räume der kleinen Wohnung. Jeden Winkel durchstöberte sie und rief klagend nach der Schwester. Sie öffnete die Eingangstür und flüsterte in das hallende Dunkel des Stiegenhauses: »Herta – Herta – bist du hier?« Dann kam sie zurück ins Zimmer, riß die Fensterflügel auf, lehnte sich hinaus, daß die Mutter aufschreiend hinzusprang und sie am Rock faßte, und suchte jeden Stein der Straße mit sshreckensdurchdringenden Augen ab.

Wieder starrten die beiden Frauen sich hilflos in die von Grauen weit geöffneten Augen.

»Um Gottes willen, wo kann sie nur sein?« wimmerte die Mutter.

»Vielleicht ist sie noch einmal zu Ewald gefahren«, sagte Lisbeth hoffnungslos, sie glaubte es selbst nicht.

»Nein. nein. Dort ist sie nicht. Sie hatte keine Hoffnung mehr.«

Da stand wieder das Schaudern vor dem Furchtbaren zwischen ihnen.

»Man muß etwas tun!« schrie Frau Hoff. »Um Christi willen, man muß doch was tun!« Sie riß den Kragen der Bluse auf, der sie würgte.

»Lisbeth, schnell, schnell! Vielleicht ist noch Zeit. Steh' nicht da, steh doch nicht so stumm da, und sie stirbt inzwischen. Wir müssen doch etwas tun!«

»Ja – Mutter –. Was sollen wir tun?«

»Vielleicht – – lauf zur Polizei, Lisbeth, und – –«

»Nein, nein, Mutter«, wehrte Lisbeth. Sie hatte ihre beherrschte Ruhe wiedergefunden. »Nicht Polizei! Was kann die tun! Wir wollen nicht gleich Lärm schlagen. Vielleicht rennt sie in ihrer Verzweiflung durch die Straßen. Ich werde mal scheu, ob sie den Hausschlüssel hat.«

Sie ging hinaus. Der Hausschlüssel fehlte an seinem Platze. Da kam sie mit der Freudenbotschaft zur Mutter.

Ein wenig beruhigt, doch mit schreckhaft pochendem Herzen lehnten sich die beiden Frauen zum Fenster hinaus und warteten. Und immer wieder jammerte die Mutter: »Wenn sie nur käme, wenn sie nur bald käme! Wenn ihr nur nichts zustößt. Sie war doch noch nie so spät allein aus dem Hause!«

Und die Straße wurde einsamer. Immer seltener kam ein Nachzügler und erschloß mit hellem Klirren sein Haustor. Licht auf Licht erlosch in den Flurtüren auf der anderen Seite der Straße. Lautlos ging die Straße zur Ruhe. Von der Zwölf-Apostel-Kirche her schlug die Uhr. Elf halte sie schon gerufen. Zwölf. Die Frauen durchzitterte die Kühle der Nacht und das Frösteln der Sorge. Sie starrten hinaus. »Halb eins«, drang es tönend durch die Stille. Da erklangen Schritte auf dem widerhallenden Pflaster. Sie kam von der Bülowstraße her – mit einem Herrn. Wie von einer schnellenden Feder zurückgezerrt, prallten die beiden Frauen vom Fenster. Sie tauschten einen schnellen, verständnislosen Blick. Es dauerte noch Minuten.

Die Eingangstür wurde aufgeschlossen, sie hörten, daß sie ins Nebenzimmer ging. Dann war es ganz still. Sie lauschten mit verhaltenem Atem. Nichts regte sich. Endlich rief Frau Hoff: »Herta!«

»Ja?« klang es von nebenan.

»Herta, komm einmal herein«, rief die Mutter.

Das Mädchen öffnete die Tür, blinzelte in das Licht und fragte: »Ja – was denn?«

»Willst du nicht hereinkommen?« gebot die Mutter plötzlich hitzig.

Herta trat auf die Schwelle. Sie war sehr bleich und um den Mund lag ein seltsam dreister Zug.

»Wo bist du gewesen?« forschte die Mutter streng.

»Fort«, antwortete sie kurz.

»Und der Herr, der dich begleitete?«

Da rief Herta mit einer jähen, unbegründeten Heftigkeit: »Ich verbitte mir dieses Verhör. Ich bin mündig und kann tun und lassen, was mir behagt.«

»Herta!« fuhr Lisbeth auf.

Die Mutter starrte drein.

Herta aber höhnte: »Gott, Lisbeth, erstick nur nicht an deinem Entsetzen. Übrigens könnt ihr's ruhig wissen. Ich kenne ihn schon lange, fast zwei Jahre. Er ist Schauspieler. Wir haben uns dann und wann getroffen. Wollten uns heiraten, so wie Ewald uns etwas unterstützte. Damit ist's ja nun vorbei.«

»Und? Und?« schrie die Mutter.

»Und – und! Na ja – damit ist's doch vorbei.«

»Und da läufst du in der Nacht mit ihm auf der Straße herum?!«

»Gott, Mama, mach doch darüber nicht solches Hallo! Was soll ich denn tun? Ich habe das Warten satt. Ich will mein Leben jetzt nicht mehr verdorren lassen. Wenn ich nicht so zu meinem Glück komme, komme ich eben so dazu. Aber ich will mein bißchen Glück haben, ich will es haben, ich will es haben!«

Hier war ihre Fassung zu Ende. Sie taumelte gegen den Türpfosten, schlug die Hände gegen das schwarze Holz, preßte ihr Gesicht auf die nackten Arme und schluchzte haltlos.

Die Mutter stand bei ihr.

»Kind«, sagte sie leise, mit weher Trauer, »du bist – bei ihm – gewesen?!«

Da hob Herta das tränennasse Gesicht von den Armen und trotzte wieder mit dieser Heftigkeit, die sie sich aufbaute als Wehr gegen die Scham: »Ja, – ja, – ich war bei ihm und werde immer wieder zu ihm gehen. Worauf soll ich warten? Auf das Alter? Glaubst du, er wird mich wollen, wenn ich alt und verblüht bin? Ich werde immer wieder zu ihm gehen!«

Und sie glitt langsam an dem Türpfosten entlang, kauerte auf dem Boden und winselte kläglich.

Die Mutter brach in den Knien ein und fiel auf einen Stuhl. Ihr war wie damals, als es in der röchelnden Brust ihres Mannes ganz still, so hörbar still geworden war.

Lisbeth beugte sich zu der Schwester nieder, streichelte und küßte sie und hob sie endlich empor und führte sie in ihr Zimmer. Und zog ihr die Sachen vom Körper und legte sie wie ein Kind zu Bett. Und Herta ließ schluchzend alles mit sich geschehen.

Dann ging Lisbeth ins Wohnzimmer zurück. Die Mutter hatte sich nicht gerührt. »Den Brief«, sagte Lisbeth, »brauchst du nicht abzusenden. Morgen ist Sonntag. Da ist er daheim. Ich fahre gleich früh zu ihm hinaus.«

Und mit vielem Bitten und Kosen brachte sie die Mutter ins Bett.

Dann setzte sie sich wieder nieder und nähte. Schlafen konnte sie heute doch nicht. Und alle Viertelstunde schlich sie zum Bett der Mutter und zu Herta. Herta schlief mit feuchten Wangen, wie ein Kind, das sich in den Schlaf geweint hat. Die Mutter aber lag mit brennenden, wachen Augen.

Und Lisbeth sagte jedesmal: »Muttchen, schlaf doch. Auf mich wird er hören. Und dann kann doch noch alles werden. Schlaf jetzt. Ich werde die Tür weiter anlegen, damit das Licht dich nicht stört. Schlaf jetzt doch. Es wird schon noch alles.«

Und wenn sie dann wieder über der Arbeit saß, entsank ihr der Boden unter den Füßen. Sie glaubte an keinen Erfolg. Sie sah nichts vor sich Als den Untergang, das Herabsinken in den tiefen, schwarzen Schlund. Herta glitt schon hinab. Mit Grauen verfolgte sie ihren Weg. Heute ihr Schauspieler, der sie liebte. Und wenn der sie verließ, morgen ein Zweiter, dem sie gleichgültig war, der seine Zerstreuung suchte. Sie sah den Weg und sie sah die feuchte, dämmrige Straße, auf der er mündete. – Und Mutter und sie? Mutter konnte nun nicht mehr arbeiten, Sie war mürbe und ihre Kraft war gebrochen. Und sie selbst? – Mein Gott, mein Gott! Aber sie wollte es versuchen, noch einmal. Ihm alles vorstellen – Hertas dunklen Weg – Mutters Hinwelken nach all der Mühe – alles – alles.

Als Lisbeth am Sonntag morgen die Villa betrat, fuhr Mutter Ebeling sie an wie eine bissige Dogge«

»Wohin wollen Sie?«

»Zu Herrn Assessor Hoff.«

»Ist nicht zu sprechen.«

Lisbeth blickte erstaunt zu der eingeschrumpften Alten nieder. »Ich bin seine Schwester«, sagte sie.

»Kann ich mir schon denken«, brummte Frau Ebeling. »Schwester und Mutter und noch 'n mal Schwester – kennen wir schon. Aber nu ist's genug. Das Fräulein haben Sie nu glücklich schon krankgemacht.«

»Aber, liebe Frau, ich werde doch wohl meinen Bruder sprechen dürfen!«

»Nee, werden Sie nich!«

Und sie stellte sich verteidigungslüstern auf die erste Stufe der Treppe.

Lisbeth zwang sich zu einem schattenhaften Lächeln.

»Gehen Sie doch bitte hinauf und sagen Sie Herrn Assessor Hoff, seine Schwester Lisbeth sei hier. Das können Sie doch tun.«

»Nee, kann ich nich. Ob Sie nu die Lisbeth sind oder die Rosalie, das ist mir ganz schnuppe. Wollen tun sie alle doch nur dasselbe. Drangsalieren und kirremachen. Aber davon haben wir alle hier nu nachgerade genug gehabt.«

Und sie blieb unerschütterlich auf der ersten Stufe angewurzelt.

Gerade wollte Lisbeth laut nach dem Bruder rufen, da ging oben die Tür und Schritte näherten sich der Treppe.

Hoff und Susanne erschienen an der Rampe. Sie wollten hinaus in den Wald und ihr verlorenes Glück wiederfinden in der grünen Einsamkeit.

Hoff blieb überrascht stehen.

»Lisbeth – du – da!« rief er freudig.

»Ja – Ewald. Die Frau will mich nicht vorbei lassen.«

»Die Lisbeth können Sie ruhig durchlassen, Mutter Ebeling«, lächelte er und sprang die Treppe hinab. In der Mitte begegneten sie sich.

»Tag, Lisbeth.« Er hielt ihre Hand. Dann wandte er sich zurück zu Susanne, die noch an der Rampe stand und sagte: »Dir kann ich wohl meine – Suse vorstellen. Das ist hier die Lisbeth, Suse, von der ich dir immer erzählt habe.«

Die beiden Frauen neigten still den Kopf. Lisbeth hob die Augen sofort und musterte schnell die andere, Susanne war bleich und schmal. Ihr Gesicht schien in ihrem kranken Kummer noch feiner und seelentiefer als in den Tagen ihrer gesunden Blüte. Sofort wußte Lisbeth, daß alles, was die Mutter und Herta von »hergelaufenem Geschöpf« und »raffiniertem Frauenzimmer« räsoniert hatten und von »Geld anbieten«, zornige Verständnislosigkeit war und – weiter nichts.

»Komm herauf«, forderte jetzt Hoff auf. »Wir wollten zwar ausgehen, aber wenn wir so lieben Besuch bekommen – –«

Sie traten ins Zimmer.

»So, Lisbeth, nun leg ab«, bat Hoff munter. »Und jetzt wollen wir mal endlich wieder gemütlich miteinander plaudern.«

Er nahm ihr den Schirm aus der Hand. Susanne stand still und ängstlich dabei.

»So«, rief er, »und nun den Hut. Suse, Liebes, steh nicht so traurig da. Vor Lisbeth brauchst du dich nicht zu furchten. Die ist auf unserer Seite. Was, Lisbeth?«

»Ja, Ewald«, zögerte Lisbeth, »ich bin eigentlich gekommen, um noch einmal mit dir zu reden.«

»Wie?« stutzte er, »du – auch?«

Dann setzte er sich ergeben auf einen Stuhl und sagte: »Na – dann leg du meinetwegen auch noch los. Ich meine allerdings, daß wir allmählich genug davon gehört haben.«

»Ich glaubte – noch diesen – letzten Versuch machen zu müssen«, stotterte sie.

Susanne ging zur Tür.

Da eilte er zu ihr und legte den Arm um ihre Schulter: »Das ist euer Werk«, sagte er bitter, »Mutters und Hertas. Krank und bleich habt ihr sie mir nun schon gemacht. Schreckhaft läuft sie davon, wenn sie nur einen von euch sieht. Willst du uns diese neue Auseinandersetzung nicht ersparen, Lisbeth? Komm, sei du doch vernünftig.

Leg deine gesalbte Gesandtenwürde ab und sei Mensch mit uns, wie du es immer mit mir gewesen bist.«

»Ewald, du weißt wohl doch nicht recht, wie es zu Hause steht. Ich möchte Sie bitten, zu bleiben, liebes Fräulein«, wandte sie sich plötzlich an Susanne. »Es kommt mir so häßlich vor, hinter Ihrem Rücken über das zu sprechen, was doch – in erster Linie Ihr Schicksal ist. Ich möchte auch so gern, daß Sie alles wissen – alles – und selbst mit entscheiden.«

Da führte Hoff Susanne nur Chaiselongue, zog sie auf das Polster nieder, setzte sich neben sie, lehnte den Kopf an ihre Schläfe und sagte: »Setz dich, Lisbeth, wir wollen also ganz ruhig darüber sprechen. Ich bin überzeugt, du wirst einsehen, daß wir im Recht sind. Wir beide hier, die Suse und ich.«

Lisbeth setzte sich und suchte nach Worten. »Liebes Fräulein Susanne«, begann sie zaghaft, »wenn ich Sie so nennen darf – sehen Sie – ich weiß genau, daß Sie – der erste Blick hat es mir gesagt – Sie sind als Mensch – es ist so häßlich dreist von mir, Kritik an Ihnen zu üben. Aber Sie müssen wissen, daß ich davon ausgehe, daß Sie als Mensch genau so vollwertig, ja, ich empfinde es stark, daß Sie ein weit größerer Mensch sind, als ich – als wir alle. Ich möchte Ihnen so gern begreiflich machen, wie hoch ich Sie achte. Daß nicht eines meiner Worte sich gegen Sie als Menschen richtet. Sie sind so – so – lieb – sind – Sie –, daß –«

Ihre mühsam niedergerungene Scheu sperrte ihr die Kehle, Aber sie fühlte, sie mußte reden, mußte um Hertas und Mutters willen.

»Wenn die Verhältnisse nicht so unselig lägen, würde ich glücklich sein, Sie als Braut meines Bruders umarmen zu können und –«

Lisbeth sprang auf und setzte sich neben Susanne auf das Sofa. Sie hielten sich bei der Hand und schwiegen.

Da ging Hoff leise hinaus. Er fühlte, hier war er überflüssig –

»Es ist mir furchtbar«, brach Susanne endlich das Schweigen, »diesen – schrecklichen Kummer über Sie alle zu bringen. Aber – aber – was soll ich tun? Ich kann jetzt doch nicht zurück!«

»Wenn Herta und Mutter – hart zu Ihnen waren, Susanne«, sagte Lisbeth, »nehmen Sie es sich nicht zu Herzen. Bedenken Sie – wir kämpfen – ja, um unser Leben geht es.«

»Um meines auch«, entgegnete Susanne.

Da kam Hoff wieder herein.

»Nun wirst du begreifen«, sagte er, »daß ich nicht von ihr lassen kann.«

»Es ist alles so – uferlos traurig«, seufzte Lisbeth und dachte an die Mutter, die bang auf ihre Heimkehr harrte. »Du hast recht, Ewald, und Susanne hat recht und – wir, wir haben auch recht. Wenn ich nach Hause komme und sage, daß du nicht – anders kannst – geht Mutter und Herta zugrunde.«

»Na – zugrunde«, beschwichtigte er.

»Ja – zugrunde, Ewald! Wenn wir nicht am Abgrund ständen, wäre ich nicht mit solchen – Worten gekommen. Herta – hat schon den Halt verloren.«

»Herta? Wieso Herta?«

»Sie kennt seit Jahren einen Schauspieler. Sie wollten sich heiraten, wenn sie eine kleine Unterstützung bekämen.«

»Einen Schauspieler? Welchen Schauspieler?« fragte er nervös. »Davon weiß ich doch gar nichts!«

»Wir wußten auch nichts, Ewald. Gestern abend – weil sie jede Hoffnung auf Heirat zerrinnen sah – du weißt, wie impulsiv sie ist –« »Und? Und? Was ist geschehen?« rief er erregt.

»Sie ist zu ihm gegangen –« »Wie denn? Was heißt das: zu ihm gegangen?« Er sprang auf.

»Wie Mädchen zu Männern gehen, die sie lieb haben«, sagte Lisbeth leise.

Er stand einen Augenblick starr.

»Willst du – sagen –« preßte er hervor – »soll das heißen, daß sie – daß Herta –?!«

Lisbeth nickte.

Da wandte er sich ab und trat zum Fenster. Kein Laut kam aus seinem Munde. Doch an dem Zucken der Schultern sah Susanne, wie es in ihm arbeitete.

Kalt und weh kroch es ihr über das Herz. Das zerschmetterte ihn. Bei der Schwester zerbrach es ihn! Und sie? – Und sie?! Hatte sie nicht aus Liebe zu ihm das gleiche getan! Genau das gleiche? Und bei der Schwester zerschmetterte es ihn!

»Das ist ja furchtbar«, flüsterte er endlich und kehrte der Schwester sein bleiches Gesicht zu.

Sie nickte vor sich hin.

»Und Mutter? Was sagt denn Mutter?«

»Sie sagt kaum noch etwas. Nur einmal hat sie gestöhnt, es sei ihr, als wäre Vater zum zweiten Male gestorben.«

Er setzte sich wieder auf die Chaiselongue, beugte den Kopf tief zwischen die Knie, streckte die gefalteten Hände von sich und schwieg.

Tiefe Stille schlich durch das Zimmer. In Susanne war es immer wunder. Sie fühlte, daß sie – wie eine Feindin zwischen den Geschwistern stand.

Da hob Hoff den Kopf und stand auf; »Ja – Lisbeth – es ist furchtbar – dies alles. Aber – du siehst selbst – ich kann da nichts tun. Ihr müßt es als Schicksal tragen, wie wenn ich gestorben wäre. Darein müßtet ihr euch auch finden.«

Eine eiskalte Hand legte sich auf Susannes Herz. Sie hörte aus seinen Worten nur heraus, daß sie sein Unglück war, sein Unglück wie der Tod. Und ihre Gedanken flatterten wieder hinab den Weg zu dem schwarzen Tore.

Lisbeth hatte sich erhoben. »Ja – ja, Ewald –; ich begreife es. Wir müssen es tragen. Es ist nur so sehr traurig. Ich begreife es ja.«

Stumm gab sie Susanne die Hand, stumm geleitete Hoff sie hinab.

Dann saßen sie schweigend beieinander und hatten nicht den Mut, zu sprechen. Susanne legte Hut und Jackett ab und setzte sich ans Fenster. Er kauerte auf dem Sofa. Und immer unentrinnbarer wußte sie, daß sie sterben müsse. Daß sie ihn von seiner Bürde befreien müßte. Sie fühlte, wie er sich von ihr entfernte. Rein körperlich! fühlte sie es. Ja – ja, sie wollte gehen, so lange er sie noch liebte. Ehe die Kälte kam, das eisige Pflichtgefühl, das ihn allein noch an sie band. Lautlos wollte sie von ihm gehen. Dann dachte sie an die Mutter. Sehr, sehr weh würde sie ihr tun, aber nicht weher, als sie ihr getan hatte. Nein, zu ihr konnte sie nicht zurück. Nein – nein – das nicht. Die Trümmer ihres Glückes zu ihr tragen! Bei ihr in ihrem Jammer unterzukriechen! Nein, nein, das konnte sie nicht, das konnte sie nicht. Und – nein – sie mußte fort, ganz fort, Unerreichbar weit. Daß keine Macht der Erde sie ihm wiedergeben konnte. Sonst brachte sie ihm nicht den Frieden. So lange sie lebte, kam er nicht von ihr los. Nein. So lange lebte auch seine Sehnsucht. Ganz frei sollte er sein. Ganz frei – ganz frei.

Sie wiegte den Gedanken, daß er ganz frei sein müsse, wie ein schlafendes Kind in ihren Armen.

Ja – ganz frei. Und sie würde gehen – weit, weit fort. Wo er sie nicht fand. Wohin kein Weg führte. Wo es still war und ohne Kampf.

Ein tränendes Gefühl stieg in ihr auf. Sie dachte an ihren hellen Traum vom Leben. Das alles sollte nun vorbei sein. Alles – alles – für immer – immer. Plötzlich zog eine dunkle Wolke über ihr Gemüt.

Ein Schauer rann durch ihre Glieder. Schwarz war es vor ihr – schwarz, öde und schwarz. Nein, nein, es war nicht schwarz. Es war ganz hell – immer heller sah sie es werden. Sie hatte das Beste doch genossen. Reine, starke, jauchzende Liebe. Was konnte nun noch kommen! Kinder? Tränen traten ihr in die Augen. Ja, Kinder hätte sie gern gehabt. Und noch ein Weilchen wäre sie gern Hand in Hand mit ihm gewandert durch die Sonne.

Sie hörte ihn tief seufzen.

Nein – nein – sie ging. Er sollte frei sein von seiner Last. Er sollte sehen, wie groß ihre Liebe war. – Nein, sehen sollte er es nicht. Ganz heimlich wollte sie gehen. Nichts sollte er ahnen. Nicht der Schatten eines Schmerzes sollte ihm seine Zukunft verdunkeln. Morgen beim Baden. Still versinken. Er würde trauern – ja, sehr trauern. – Aber dann würde das Leben mit seinen lauten Forderungen kommen und ihn aufrütteln. Und er würde seinen Weg gehen. – Und die Liebe würde immer in ihm liegen – weich und gut und warm – ohne Verlangen, ohne Sehnsucht – Und in leisen Stunden würde sie aus der See auftauchen – wie eine Wasserfee, und zu ihm kommen und ihn küssen – ganz leise –

Ihr wurde zart und lind. Ganz sacht ging sie zu ihm. »Du armer Lieber«, flüsterte sie und schlang die Arme um seinen Hals. »Warte – warte – es wird schon gut werden Du wirst alles einrenken. Es ist nur der erste Schmerz bei ihnen. Das mit Herta darfst du dir nicht so sehr zu Herzen nehmen. Wenn er ein braver Mensch ist, wird er sie nicht verlassen. Er wird doch vorwärts kommen, und dann kann er sie heiraten. Und – und – –« Sie redete wie im Fieber auf ihn ein, alle möglichen bunten Trostgründe, bis er wieder hoffnungsfreudig auflebte.

Und dann saß sie auf seinen Knien und hielt seine Hände und küßte sein Gesicht. Und dachte immerzu daran, daß sie ihm heute alles – alles Liebe antun müsse, weil sie ihm morgen das große Leid bereiten wollte. Und sie dachte auch daran, daß sie heute noch nehmen müsse, mit gierig raffenden Fingern nehmen, weil sich alles, was das Leben ihr noch zu geben hatte, in diese kurzen enteilenden Stunden zusammendränge. Und weil dahinter das Nichts lag, das hohle, leere, bleiche Nichts. Und sie schmiegte sich an ihn und küßte und streichelte ihn immer wieder, immer wieder.

Er glaubte, sie wolle seinen Kummer scheuchen, und kam ihr dankbar nehmend und spendend entgegen.

Und nach Tisch bat sie ihn, noch einmal mit ihr nach Grünheide zu fahren. Sie wollte noch einmal mit ihm die Stätte ihres sorgenfreiesten Glückes besuchen. Er hatte Bedenken. Heute Sonntag, so viel Leute unterwegs. Doch sie erwog, das Wetter sei trüb, die wenigsten würden sich hinauswagen.

So fuhren sie.

Und immer wieder feierten sie Erinnerungen. »Hier hast du mich damals so von der Seite angesehen. Weißt du noch?« Ja, er wußte es noch. »Und hier in Rummelsburg hast du ganz ›zufällig‹ meine Hand berührt. Weißt du es noch?« Er wußte es noch. Dann ging es wieder die Löcknitz hinauf. Die Blätter hatten ihren frischen Schmelz schon verloren. Es war Juli geworden. Und heute kannte sie keine Scheu. Sonst entzog sie ihm vor Fremden die Hand. Heute wollte sie jeden Augenblick bis zur Neige kosten. Sie saß dicht bei ihm und hielt seine Finger fest umschlungen. Und einmal beugte sie sich nieder und küßte schnell seine Hände.

Und wieder gingen sie auf den Kirchhof und setzten sich auf die Bank am Grabe der Siebzehnjährigen.

Und blickten wieder hinab auf den See, der blank und milchig unter dem trüben Himmel ebbte.

Hier in dieser Grabesstille packte sie eine verzweifelte Angst. Zitternd drückte sie sich an seine Seite.

Da begann er vom Tode zu sprechen.

»In diesem Frieden hier oben und der Ruhe dort über dem See«, sann er, »kommt eine Sehnsucht nach Stille. Früher habe ich das nie gekannt. Da lief ich ins Leben hinein und dachte nur an Sieg und an Erfolg. Das liegt nun so weit. So weit. Mir ist der Kopf so müde von all diesem Streit Wenn du nicht wärst, mein Liebling – – es könnten böse Gedanken in einem lebendig werden. Schlußmachen, hinauslaufen – immer weiter hinaus – wo es kein Ende gibt!«

Das Herz zitterte ihr. Was? Was? Wenn sie nicht wäre? Sie atmete kaum. Wenn sie nicht wäre? Vater im Himmel, wenn er dann hinginge und – –

»Wo hinaus?« fragte sie mechanisch.

Er deutete ins Weite. »Dort hinaus – ins Weltall.«

Da stammelte sie: »Ewald, du mein Liebling, mein Alles. Du darfst solche Gedanken nicht hegen. Sag, sag, daß du noch mehr auf der Welt hast als mich. Sag mir das. Du hast doch –, nein, du hast doch noch nicht gelebt. Denk mal, die Sonne nicht mehr sehen! Und keine Knospe mehr begrüßen. Und dein Herz nicht mehr beben zu fühlen, wenn die Sonne in den See sinkt. Denke doch an alles das!«

Er zog sie noch dichter an sich und lächelte.

»Aber Kind, das war doch nur solch törichter Gedanke, der in mir aufzuckte. So ernst brauchst du das nicht zu nehmen, mein liebes Sorgenmütterchen. Natürlich ist da noch so allerhand, das sich zu erleben verlohnt.«

»Nicht wahr? Deine Arbeit.«

»Ja, gewiß, die Arbeit, die möchte ich zu Ende führen. Na – und was sonst noch so ist.«

Sie hätte ihn so gern angefleht, mutig sein Leben dann weiter zu tragen, wenn sie – – Ja, wo war sie dann? Wo nur?

Nach langem Sinnen fragte sie: »Ewald, hast du Furcht vor dem Tode?«

»Nein«, sagte er fest. »Tod ist nur ein Übergang. Nichts geht im Weltall an Kraft verloren.«

»Ja – ja – aber die Seele!«

»Seele? Ich glaube, Seele und Geist und alles das ist Ganglienbewegung.«

»Du meinst, man geht in eine andere Form über?«

»Ja. Der Körper zerfällt und düngt die Erde. Nährt einen Baum oder eine Blume oder –«

»Was würde ich wohl werden?« grübelte sie. »Was glaubst du? Wenn ich dort unten versänke in den See.«

»Eine Wasserlilie«, sagte er lächelnd. »Eine weiße, zarte, seelenvolle Wasserlilie. Die würde wunderhold leuchten aus dem Dunkel der Nacht Und wer vorbeiführe, den würde eine milde Sehnsucht ergreifen, zu der weißen Wasserlilie heranzufahren und sie leise zu streicheln.«

»Und wenn du fährst, dann wirst du kommen und mich auch küssen«, flüsterte sie und kristallhell lief es ihr über die Wangen.

»Aber, Lieb!« tröstete er und küßte ihr die Tränen fort.

»Dein Traum war so – schön«, entschuldigte sie, wehmütig lächelnd, ihre Weichheit.

Eine fahle Sonne stand am Horizont. Sie war fast blau und hatte keinen Glanz. Der Himmel war wolkenbedeckt, schwer und schwarz lastete er auf der Erde.

»Wie bleich die Sonne heute sinkt«, sagte er.

»Ja«, nickte sie und fühlte, wie ihr die Brust kalt wurde vor Schmerz, daß sie es nie mehr sehen würde, nie mehr. Morgen abend – – ihr schwindelte. Sie suchte es auszudenken. Aber es taumelte alles in ihrem Gehirn durcheinander. Wie wird es sein? Wie bloß? Ob man sie um diese Zeit schon gefunden haben wird? Oder ob sie tief dort unten liegen muß, von Binsen umschlungen? Die Augen weit offen, das Haar verwirrt und im Wasser treibend. Sie schauerte und schloß sich enger an ihn. Da begannen die Grillen ihren hellen Sang.

Sie horchte auf.

»Jetzt fehlt nur noch der Dorfmusikant«, scherzte er. Doch auch der spielte bald sein sonntägliches Abendlied.

Melancholisch trug der Wind es herüber: »Muß i denn – muß i denn zu–u–um Städtli hinaus – Städtli hinaus, und du, mein Schatz, bleibst hier.«

Da verlor sie die Herrschaft über ihren Schmerz.

Ihr Gesicht sank in seinen Schoß. Und alle Verzweiflung und alles Weh, daß sie ihr junges Leben lassen, daß sie von ihm gehen sollte, nachdem sie ihn kaum gefunden hatte, quoll in bitteren schluchzenden Fluten aus ihrer keuchenden Brust. Er koste sie und sprach, halb belustigt, auf sie ein.

»Aber, Mädel, geh – sei nicht sentimental. Was ist denn mit meiner tapferen Suse? Bist ja die reine Tränensuse geworden. Na – komm, Kind. Kopf hoch. Aber wein doch nicht so –!«

Doch sie weinte immer haltloser, lange, lange noch, nachdem der Musikant dort drüben sein Programm schon längst gewechselt hatte.

Als sie sich endlich beruhigte, sagte sie: »Du mußt nicht böse sein, Lieber. Ich bin etwas matt – von dem – du weißt ja –«

Er nickte. Ja, er wußte, wie sie gelitten hatte.

Es dunkelte früh.

Dann standen sie dort und blickten hinaus in die rasch fallende Nacht.

»Es ist so dunkel heut«, klagte sie, »und am Himmel kein Stern.«

Sie zitterte wieder. Der Himmel war häßlich grau, und die Welt lag dort unten, kalt und leer und unermeßlich.

»Dort hinein schwinde ich morgen«, dachte sie fröstelnd, »in dieses Weite – Weite – –«

Und plötzlich faltete sie die Hände, und Worte formten sich in ihrem Bewußtsein: »Gott, Gott hilf mir, laß es mich durchführen. Mach es nicht zu schwer. Denk, daß ich doch schwach bin und es nur tun kann, weil ich es um ihn tue. Halte du die Hand über ihm – hilf du ihm, Gott –, hilf ihm – hilf ihm, wenn ich morgen nicht mehr bei ihm stehe – weit, weit fort bin – und er verzweifeln will – hilf du ihm – du lieber Gott –«

Da sagte er: »Suse – du hattest eben Augen, als sähest du weit hinaus über das dunkle All dort unten.«

»Das tat ich auch«, flüsterte sie.

Und dann blickte sie noch einmal hinab und atmete die kühle Abendbrise tief in sich hinein, »Ade«, dachte sie, »du schöne, weite, geliebte Welt. Ade.«

Dann lehnte sie sich an ihn und bat wie ein Kind:

»Jetzt nimm mich hier noch einmal in deine Arme, du Geliebter, und sag mir vor der raunenden Allmacht, daß du mich so lieb hast, wie ein Mann ein Weib nur lieben kann. Sag mir es noch einmal. Dann wollen wir still nach Hause gehen.«


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