Johannes Scherr
Rosi Zurflüh
Johannes Scherr

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Vierzehntes Kapitel. Die gesprungene Saite.

Rosi war darauf gefaßt, zu erfahren, daß Schwarzelsi sich nicht ohne einen Begleiter auf den Rückweg nach Berlin gemacht habe. Sie hatte ja droben hinter der Bilgismatte mit anhören müssen, wie die beiden, Elsi und Ruodi, künftig mitsammen in der genannten Stadt leben wollten. Freilich deutete der Brief an den Pfarrer an, daß Elsi mit derselben Leichtfertigkeit, womit sie ihr Kind verlassen, auch dessen Vater aufgegeben habe. Aber was war einem solchen Geschöpfe überhaupt zu glauben? Ohnehin hatte aller Wahrscheinlichkeit nach ihr Weg sie über Thun geführt, und da würde sie den verleiteten Mann wohl abgeholt haben.

Hierin irrte sich aber Rosi ganz und gar. Schwarzelsi war allerdings über Thun gereist, aber in aller Eile, und hatte sich wohl gehütet, den Ruodi aufzusuchen. Sie war fertig mit ihm, sobald sie zu der Überzeugung gelangt, daß die Charakterschwäche des Mannes sie verhindern würde, den Zweck zu erreichen, um dessen willen sie ins Tal von Windgellen gekommen. Zur Entschädigung für diesen Fehlschlag ergötzte sie sich an dem Gedanken, an der Verhaßten, die ihr als halbwüchsigem Kind eine brennende Eifersucht eingeflößt hatte, vollwichtige Rache genommen zu haben. Auch war es doch der prächtigste »Jux« von der Welt, wie sie ihr Kind nicht nur losgeworden, sondern dasselbe auch der Nebenbuhlerin aufgehalst hatte. Der Ruodi interessierte sie weiter nicht mehr. Hatte er sich doch, meinte sie, während ihrer Anwesenheit in der Höllenschwärz gar so miserabel benommen! Auch hatte es sie angewidert, den Ruodi mit dem Strobelchäpi trinken zu sehen, und endlich war sie eine echte Lorettennatur, deren zigeunerisches Blut lebhaft neuen Abenteuern entgegenpulsierte. So war sie gegangen, ohne es auch nur der Mühe wert zu halten, den Ruodi davon in Kenntnis zu setzen.

Ein paar Tage darauf kehrte dieser aus dem Dienst nach Hause und traf seine Frau allein in der Stube. Er mußte unterwegs endlich seinen Entschluß gefaßt haben, denn kaum hatte er Waffen und Gepäck abgelegt, als er mit aller Fassung, welche er aufzubieten vermochte, anhob:

»Los', Rosi, so kann es nicht länger gehen. Du mußt alles wissen –«

Sie unterbrach ihn, indem sie, von ihrer Arbeit – sie nähte Kinderzeug, was er aber nicht beachtet hatte – aufstehend, sagte:

»Ich weiß alles. Komm!«

Sie winkte ihm, und er folgte ihr in das Hinterstübli, wo er mit Überraschung ein Bett aufgeschlagen und neben demselben die Wiege stehen sah.

Rosi schlug sachte das grüne Tuch zurück, welches über den Wiegenbogen gebreitet war, und der treulose Mann erblickte sein schlafendes Kind.

Er fuhr mit einem Schrei zurück, der ihm in der Kehle erstickte.

»Lueg,« sagte sie mit jener einfachen Erhabenheit, von welcher nicht die Kunst, sondern nur die Natur weiß, »lueg, Ruodi, deine Prophezeiung ist erfüllt. Noch sind nicht zwei Jahre um, und da liegt ein Chnäbli in der Wiege.«

Der kalte Schweiß trat ihm auf die Stirne, und er konnte nur eine flehende Gebärde mit der Hand machen.

»Seine Mutter,« fuhr sie fort, »hat mir das Kind nachtschlafender Weile ins Haus gestellt. Da hab' ich es in meine Arme genommen und hab' das Gelübd' getan, ihm Mutter zu sein, und das will ich halten, so mir Gott helfe. – Und jetzt los, Ruodi, ich bitt' dich, fass' dich und merk, was ich sag'. Um des Kindes willen, um deines Kindes willen, welches auch das meine sein soll, wollen wir, wenn dir's recht ist, mitsammen fortleben, als wäre nichts geschehen, und wollen Eheleute bleiben vor den Leuten. Aber unter uns, Ruodi, unter uns kann es nicht mehr sein wie früher. Verlang das nicht, Ruodi, verlang das nicht – es brächt' mich um! 's ist ebbis abenand da innen in mir. Ob es wieder zusammenheilen wird oder kann, ich weiß es nicht. Die Zeit, sagt man, heil' alles, und ich will dran glauben, ich will dran glauben. Aber rühr du jetzt nicht daran, nur um das bitt' ich dich!«

Sie sprach das, wenn auch, ernst, doch milde. Aber gerade diese Milde, diese Großmut erdrückte den unglücklichen, schon lange haltlos gewordenen Mann, so daß er ganz in sich zusammenbrach. In dieser qualvollen Stunde ward er sich erst recht klar bewußt, was er besessen, was er verraten, was er verloren.

Vernichtet warf er sich seiner Frau zu Füßen, umfaßte flehend ihre Knie und konnte nur schluchzend das Wort »Verzeihung!« hervorstammeln.

»Ich habe verziehen,« sagte sie, sanft seine Hände lösend und ihn aufrichtend, »dir und auch der, welche ihr Kind und dich so leichtfertig verlassen konnte. Ja, ich habe verziehen. Wäre sonst das Kind hier? Woher hätt' ich sonst die Kraft genommen, es mein Kind zu nennen, unbekümmert, was die Leute dazu sagen? Laß auch du sie reden. Nie sollst du ein Wort des Vorwurfs von mir hören, nie! Aber sei ein Mann, Ruodi, sei ein Mann! Werde wieder brav und gut, noch ist es Zeit, und lueg, wir haben ja jetzt ein Kind!«

Er konnte nicht hinsehen, wie sich Rosi, zu dem inzwischen erwachten Kinde neigte, wie der Kleine, der seine zärtliche Pflegerin schon kannte, die Händchen nach ihr ausstreckte, und wie sie ihn mit Liebkosungen bedeckte. Nein, er konnt' es nicht mit ansehen. Er fühlte auch, daß er seine Augen nie mehr zu denen seiner Frau erheben könnte, nie mehr!

Einige Wochen lebte er so hin. Er hielt sich zu Hause und versuchte seine Arbeiten wieder aufzunehmen. Aber er war wie ein Schlafwandler, und alles mißriet unter seinen matten Händen. Das Hinterstübli floh er. Das Kind war ja dort – ein atmender Gewissensbiß. Zur Zwihl hinaufzugehen konnte er nicht über sich bringen. Wenn die Zwihlbäurin oder das glückliche Vreneli ins Rütli herabkamen, verschloß er sich ängstlich in die Oberstube.

Rosi war freundlich und gütig gegen ihn und sparte weder tröstlichen Zuspruch noch verständige Ermunterung. Aber dabei ließ sie es. Eine von geliebtester Hand so tief geschlagene Herzenswunde, wie sie eine empfangen, heilt nur langsam, wenn sie überhaupt jemals wieder heilt.

Es sei da innen in ihr ebbis abenand, hatte sie gesagt, und so war es. Sie hatte damit gemeint, die Saite des innigsten Vertrauens sei in ihrer Seele gesprungen, und wenn die gesprungen, knüpft kein Gott sie wieder so zusammen, daß sie den früheren reinen und vollen Klang gäbe.

An einem der ersten Septembertage – es war der vierte Jahrestag, seit Ruodi die Rosi von der Zwihl ins Rütli heimgeführt – trat er, zur Jagd gerüstet, vormittags zu seiner Frau in die Stube.

»Willst du denn heute auf die Jagd?« fragte sie, etwas verwundert, da er diesem seinem früheren Lieblingsvergnügen schon lange nicht mehr nachgegangen.

»Ja, Rosi, ich muß wieder mal in die Berge hinauf.«

Und nach einigem Bedenken fügte er unwillkürlich hinzu, was ihm bittere Reue eingab:

»Hätt' ich nur unsere Berge nie verlassen und dich! Aber es ist nun schon so, ja, es ist nun schon so. – Weißt aber, Rosi, heut' vor vier Jahren –«

»Heut' vor vier Jahren? Was meinst?«

»War unsere Hochzeit.«

O, das war eine schmerzliche Erinnerung für die arme Rosi. Wie war alles, alles anders gekommen, als sie damals geträumt, gehofft, geglaubt!

»Unsere Hochzeit? Es ist ja wahr!«

Sie schaute betroffen auf, und innigstes Mitleid schmolz ihr Herz, als sie bemerkte, wie gebeugt der einst so stattliche Mann vor ihr stand und wie er nur noch so in seinen Kleidern hing.

»Los, Ruodi,« sagte sie, »geh' heut' nicht jagen, 's ist stürmisch Wetter und der Föhn weht so grüsli.«

»O, das macht nichts. Grad' bei solcher Witterung kommen die Gemsen gern weiter herab als sonst. Ich will zum Gummgletscher, wo ein guter Standort ist. Gib mir noch deine Hand, Rosi. Das wird mir Glück bringen.«

»Da!«

Ermutigt durch den leisen Gegendruck ihrer Hand, beugte er sich zu ihr herab, und sie ließ es geschehen, daß sein Mund den ihrigen berührte. Aber ihre Lippen waren kalt und regten sich nicht unter den seinigen.

Unter der Türe blieb er stehen und sah nach ihr zurück.

»Du tätest besser, heute nicht zu gehen, Ruodi,« sagte sie. »Aber wenn du durchaus willst, so nimm dich doch recht in acht auf deinen Wegen.«

Es lag Güte und Besorgnis in dieser Mahnung, als käme sie von den Lippen einer Schwester; aber keine bebende Zärtlichkeit. Wenn er in früheren Tagen zur Gemsjagd ausgezogen, 0, da war's anders gewesen!

In diesem Augenblicke hörte man durch die geöffnete Türe das Kind vom Hinterstübli her weinen, und Rosi eilte hinüber.

Das Kind! das Kind! – Es trieb ihn fort.

Als Rosi mit dem Kleinen auf den Armen zurückkam, war Ruodi gegangen.

Ja, er war gegangen und – kehrte nicht wieder.

Weit droben in der Öde, in einem wilden Tobel, auf dessen Grund ein Eisarm des Gummgletschers lastet, fand am folgenden Tage ein Geißbub den Ruodi Zurflüh, der kalt und starr auf dem Eise lag, mit gebrochenem Rückgrat. Über der Stelle, wo er lag, erhebt sich zu schwindelnder Höhe das Nägelisgrätli, ein schmaler, scharfzulaufender Felskamm, dessen Scheitel über den Gletscher zu seinen Füßen hoch heraushängt, ein den Gemsjägern der Umgegend wohlbekannter, aber gefährlicher Steig, der von dem Gumm in die Schluchten des Glanzhorns herüberführt.

Da droben mußte ihn der heftige Wind, der gestern wehte, erfaßt haben. Da mußte sein Fuß ausgeglitten sein zum rettungslosen Sturze.

Oder?

Ach, dieses Oder? Es wühlte wie ein Schwert in der Brust Rosis. Wenn sie ihn doch zurückgehalten, wenn sie seinen Abschiedskuß erwidert hätte?

Sie fühlte, sie hätte es tun sollen, tun müssen.

Jetzt, als man ihr den Toten gebracht, als sie sich aufschreiend über ihn warf, als sie seinen bleichen Mund küßte, als sie seine Stirne, an welcher das blutgetränkte Haar festgeklebt war, mit ihren Tränen badete – jetzt liebte sie ihn wieder!

Am Tage der Bestattung ihres Gatten fiel sie in ein hitziges Fieber, das diesem schwer, zu schwer geprüften Herz jene Ruhe bringen zu wollen schien, wie nur das Grab sie sichert. Aber sie genas unter der liebevollen Pflege der Mutter und Schwester.

Als sie aus den Fieberphantasien wieder ins Bewußtsein zurückkehrte, war ihr erstes Wort: »Das Kind! Sein, mein Kind!« Man brachte es ihr, und als der Kleine sie anlächelte, fühlte sie, daß sie noch leben könne, leben müsse. Der geliebte Tote hatte ihr ja ein Vermächtnis hinterlassen, das ihrer bedurfte.

An dem Stabe dieser Pflicht rankte sich ihr Dasein wieder empor, nicht mehr zu seiner vollen Höhe, aber doch zu jener ruhigen Ergebung, die sich über schwergeprüfte edle Gemüter herbreitet wie nach vertostem Gewitter die Abendstille über die Landschaft.

Bevor der Winter einbrach, wurde in der Zwihl eine recht stille Hochzeit gefeiert. Das war ganz im Sinne Milders, und Vreneli hatte es ausdrücklich so verlangt, damit die kaum wieder genesene Schwester auch dabei sein könnte, ohne daß ihr das Herz zu schwer würde.

Als das Pfarrhaus von Windgellen durch die Anwesenheit einer Frau Pfarrerin endlich ein rechtes Pfarrhaus geworden – zur nicht geringen Genugtuung der ehrsamen Jungfer Bibbeli – zog Rosi, den vereinten Bitten der Ihrigen nachgebend, mit dem Kinde zur Mutter in die Zwihl. Aber sie tat das erst, nachdem sie eines Tages ihre Mutter unversehens überrascht hatte, wie diese mit großmütterlicher Zärtlichkeit den kleinen Ruodeli in den Armen wiegte.

Eine große, noch während Vrenelis Brautstand in Ordnung gebrachte Angelegenheit war es ihr, die Adoption des Kindes in aller Form vollzogen zu wissen. Als die Sache durch den Pfarrer auf dem Bezirksamt bereinigt wurde, fragte ihn nach vernommenem Bericht der nicht wenig verwunderte Statthalter:

»Aber ist' die gute Frau auch völlig zurechnungsfähig?«

»Zurechnungsfähig?« erwiderte Milder. »Jawohl! Aber ihr Rechnungsfaktor war und ist ihr selbstloses, lauteres, treues Herz.«


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