Johannes Scherr
Rosi Zurflüh
Johannes Scherr

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Elftes Kapitel. Am Wildsee.

Es waren auch keine heiteren Gedanken gewesen, welche den Pfarrherrn von Windgellen schon frühmorgens in die Bergwildnis getrieben hatten.

Am gestrigen Abend war 's Vreneli aus der Zwihl zu ihm ins Pfarrhaus gekommen und hatte ihn unter Tränen angegangen, der Mutter und ihr einen Rat an die Hand zu geben, was sich für die arme Rosi tun ließe. Denn was seit vormittags in betreff des Ruodi und des Schwarzelfi im ganzen Dorfe in aller Mund war, hatte natürlich auch nach der Zwihl gelangen müssen, und jetzt war dort der Jammer groß. So etwas war der Zwihlbäurin noch nicht vorgekommen, und sie wußte sich in der ersten Bestürzung gar nicht zu helfen.

Der Pfarrer hatte heute am frühen Morgen mit der bekümmerten Mutter eine Unterredung in der Zwihl gehabt und war dann ins Rütli hinabgegangen. Er hatte zu diesem Gange die ganze Stärke seines seelsorgerlichen Pflichtgefühls aufbieten müssen, um so mehr, da er wohl fühlte, daß bei Gestalt der Sachen mit den gewöhnlichen pastorlichen Hausmitteln nicht auszukommen sei. Er wollte aber doch bei dem Ruodi einen ernsten Versuch machen, zu retten, was überhaupt noch zu retten sei. Da er aber im Rütli weder den Hausherrn noch die Hausfrau antraf und vom Mareili erfuhr, daß jener nach Thun in den Dienst sei, mußte er einstweilen unverrichteter Dinge fortgehen, da er die Heimkunft Rosis nicht abwarten wollte. Er hatte nicht den Mut dazu, das Leid der armen Frau mit anzusehen. Schon die Öde und Stille des Hauses machte einen tiefschmerzlichen Eindruck auf ihn, dem er sich nicht lange hingeben mochte.

»Hier waren alle Bedingungen eines friedlichen und glücklichen Daseins gegeben,« dachte er im Fortgehen, »und dennoch – was ist jetzt aus diesem Frieden und Glück geworden? Nur Zerstörung. Vertrauen, Wahrhaftigkeit, Liebe – alles dahin, der törichtsten Schwäche, der jämmerlichsten Sinnlichkeit zum Opfer gefallen. O, der Elende, der Elende! In den Armen einer herzlosen Gauklerin hat er das treueste Herz vergessen, das je für einen Mann geschlagen. Einer Schwarzelfi hat er eine Rosi geopfert. Ist es denn möglich, wirklich möglich? Kann es denn sein, daß der Mensch den lautersten Diamant wegwirft um einer Glasperle willen? O, du arme, arme Rosi, du wirst das nie verwinden, so wie ich dich kenne, nie! Du wirst nicht verzweifeln, wirst nicht klagen, wirst ohne Murren dein Kreuz auf dich nehmen; aber du wirst auch all dein Leben lang nie mehr von Herzensgrund lachen. So jung du noch bist, ist dein Leben doch schon beschlossen; denn was noch übrig bleibt, ist nur wie ein Schatten, welchen die Vergangenheit in die Gegenwart hinüberwirft. Glücklich kannst du nie mehr werden, denn du gehörst zu jenen Wesen, die nur glücklich sind, wenn sie beglücken, und beglücken kann nur ein ganzes, nicht aber ein bis in seine Tiefen zerrissenes Herz. Armes Weib, nicht drei volle Jahre ist dir der Mann treu geblieben, für welchen du tausend Tode gestorben wärest. Und du hast auch kein Kind, an dessen Lächeln du dir das wunde Herz heilen könntest und das dich, indem es dir den süßen Namen Mutter zuriefe, erinnerte, daß dein Leben doch noch einen heiligen Zweck hätte. Nein, du bist nur dazu da, ein neues trauriges Beispiel für die trostlose Lehre abzugeben, daß das Schöne bloß geschaffen sei, um in den Staub getreten zu werden, und daß die Guten nur in die Welt kommen, um zu leiden. – O, diese Welt, diese Welt! Es liegt in dem finsteren Glauben an ihre Ver- und Durchteufelung ein tieferer Sinn, als unsere Philosophie sich träumen läßt. Dieser Glaube ist nur der wahnsinnige Aufschrei der Kreatur über die schreckliche, zwischen Geburt und Tod sich bewegende Komödie, in welcher wir alle in dieser oder jener Rolle aufzutreten gezwungen sind. Wohl dem noch, der nur eine allerbescheidenste Nebenrolle zu spielen hat! Er entgeht wenigstens jenem Martyrium, welches die bleichen, todesbangen Stirnen seiner Opfer wie zum Hohn mit Lorbeer bekrönt. Der banausischen Mittelmäßigkeit gehörte von jeher die Erde mit ihren Genüssen, während die Träger des Genius, die Verkünder des Ideals, alle die Denker und Dichter, Seher und Propheten, alle die wirklichen Helden der Menschheit als unerkannte, ja verkannte, verlästerte und verfolgte Fremdlinge darüber hinwandeln und zufrieden sein müssen, wenn ihnen die Brosamen vom Bankett des Lebens zufallen. Dann, wann sie, von Mühen und Sorgen verzehrt, in ihren frühen Gräbern schlummern, kommt die gemeine Betriebsamkeit und Eitelkeit herbei und bläst die Trompete und schlägt die Pauke, und derselbe stumpfsinnige Haufe, der die Lebenden verkümmern und verhungern ließ, vergöttert die Toten oder stellt sich wenigstens so an. Da hab' ich gestern in der Zeitung gelesen, daß in England die Säkularfeier von Burns', in Deutschland die Säkularfeier Schillers aufs festlichste begangen werden soll. Und den Burns ließen sie sein Leben lang zwischen der Pflugschar und dem Schuldturm sich abmühen und den Schiller ließen sie sich zu Tode arbeiten, und als der große Tote begraben werden sollte, war nicht Geld genug im Hause, den Sarg zu bezahlen. O, man könnte angesichts solcher Tatsachen unschwer zu der Überzeugung kommen, das ganze menschliche Leben, die ganze Weltgeschichte sei nur eine Ironie Satans.«

Wenn der gute Milder, wie nicht selten geschah, in Selbstgesprächen von solcher Färbung sich erging, war er schon gewohnt, die Einsamkeit der Berge aufzusuchen, und so war er denn auch an diesem Morgen vom Rütli aus ohne Plan und Ziel die Schluchten am Glanzhorn hinaufgestiegen bis zum Wildsee. Er kannte den Ort und war schon häufig da gewesen. Schon manche Stunde lang hatte er unter den moosbehangenen Arven gesessen und auf den düsteren Wasserkessel zu seinen Füßen geblickt! Schon manchmal hatte er dabei träumerisch vor sich hin gesprochen: »Da unten ist's kühl und still, da müßte sich's gut ruhen.«

Er traute auch kaum seinen Augen, als er die arme Rosi an diesem unheimlichen Orte so plötzlich vor sich sah. Hatte ein schrecklicher Entschluß sie hergeführt? Die trübe Unstete in ihrem sonst so klaren und sanften Auge gab ihm diese Frage ein. Aber er sprach sie nicht aus, sondern seine Überraschung, so gut er konnte, bemeisternd, stand er auf, ging ihr entgegen, bot ihr nach Landesbrauch die Hand und sagte, sich zu einem unbefangenen Tone zwingend:

»Euch hätte ich wahrlich nicht hier zu sehen erwartet, Frau Zurflüh.«

»Ja,« versetzte sie, nach Fassung ringend, »ich weiß nicht – 's ist wunderlich – es trieb mich so, den Wildsee wieder einmal zu sehen.«

Da er bemerkte, wie sie zitterte, führte er sie sanft zu dem Baumstamm, worauf er gesessen.

Als sie sich niedergelassen, blickte sie auf die finstere Tiefe, schauderte zusammen und sagte mit bebender Stimme:

»Herr Pfarrer, Ihr seid stets so gut gegen mich gewesen – ich kann und will's Euch nicht verschweigen – ich – oh, wenn Ihr nicht dagewesen, läge ich jetzt da unten.«

»Arme, arme Rosi, so weit ist's mit Euch gekommen?«

»Ja, so weit! Oh, ich hab' heut' morgen und gestern und schon lange, lange her mehr Leid erfahren, als Fleisch und Blut zu ertragen vermögen.«

»Ich weiß, ich weiß und – glaubt mir, es lebt einer, der um Euch und mit Euch litt, seit er bemerkte, daß das Lächeln von Euren Lippen verschwunden.«

Sie sah zu ihm auf mit dem Zutrauen eines Kindes, das eine Vertrauen erweckende Stimme in seinem Leide tröstet. Der teilnahmevolle Blick des Pfarrers tat ihr wohl.

»Aber wir müssen die Last tragen, die uns auferlegt ist, Rosi,« fuhr er fort. »Wir müssen sie tragen. Es ist ein hartes Gebot, aber es ist das Gebot einer Pflicht, welche den Fortbestand der menschlichen Gesellschaft verbürgt. Sei es ein Segen, sei es ein Fluch, das Leben muß ertragen werden. Doch ich will Euch nicht vorpredigen. – Arme Frau, es sind schon andere hierher gekommen als ihr, in der Absicht, den Wildsee zu sehen und – sonst nichts mehr. Es ist viel Leid in der Welt und erträglich wird es nur dadurch, daß es auf so viele verteilt ist. Seht mich an, Rosi, seht mich an! Glaubt Ihr, ich sei glücklich?«

»Meine Schwester, 's Vreli, meint, nein. Ihr seied immer so still und schwermütig, Herr Pfarrer, sagt sie. Ihr glaubt nicht, wie sie sich oft um Euch abkümmert. Das Kind hängt ja mit ganzer Seele an Euch.«

»An mir?«

»An Euch. Ich hab' es wohl bemerkt, obschon ich schon seit lange mehr, als es recht ist, nur an mich selbst dachte. – Ich fürcht', ich nehme mir zu viel gegen Euch heraus, Herr Pfarrer; aber haltet's mir zugut, ich bin heut' nicht recht bei Verstand. Ihr solltet nicht länger so allein sein, solltet eine Frau in Euer einsam Haus führen, und wenn auch 's Vreli meine Schwester ist, so darf ich's doch sagen: Heiratet sie! Sie wird Euch glücklich machen. Oh, sie ist gesund, heiter und klug wie ein Vögeli und die best' Seel' von der Welt.«

»Und das sagt Ihr mir, Rosi, Ihr?«

Sie hob fragend das Auge zu dem vor ihr Stehenden, senkte es aber erschrocken sogleich wieder. So hatte Milder sie noch nie angesehen. Es lag ein lang und schmerzlich verhaltenes Geständnis in seinem Blick.

»Ihr sagt mir das, Rosi?« wiederholte er. »Ihr ratet mir, eine andere zu heiraten? Wißt Ihr denn nicht, daß ich Euch grenzenlos geliebt habe?«

»Mich?«

»Ja, Euch, Rosi! O, hättet Ihr mein Gefühl beizeiten bemerkt, vielleicht daß Ihr dann gelernt, es zu erwidern. Ich hätte Euch auf den Händen getragen all mein Leben lang.«

»So hat er einst auch zu mir geredet, und jetzt – jetzt trägt er eine andere im Herzen und auf den Händen.«

»Ihr habt das Recht, so zu sprechen – ja, Eure Bitterkeit ist gerecht.«

»Nein, nein, verzeiht mir! verzeiht mir! Ich weiß ja kaum, was ich rede. – Aber da ich nun doch einmal von meinem armen Schwesterli geredet, seid Ihr denn dem Kinde gar nicht es bizzeli gut?«

»Doch, Rosi, doch. Wer müßte auch dem Vreneli nicht gut sein? Aber ich muß doch bezweifeln, ob, was ich für das herzige Mädchen fühle, ausreichend sei zu einem Bunde für das ganze Leben.«

»Zweifelt nicht, Herr Pfarrer, zweifelt nicht!« sagte sie eifrig, und Milder fühlte sich von diesem Eifer gerührt. Er merkte wohl, daß Rosi mit dem ihr angeborenen Takt ihn rasch über die leidenschaftliche Regung, welche er soeben gezeigt, hinwegführen wollte, und er widerstrebte um so weniger, als es seiner Herzensgüte wohltat, zu sehen, wie die Verzweiflung der armen Frau durch die Beschäftigung mit dem Glücke der Schwester sich milderte.

»Lueget, Herr Pfarrer,« fuhr sie fort, »ein kleines, aber stetig glimmendes Fünkchen überdauert einen Flackerbrand. Schnelles Feuer Strohfeuer, pflegte mein Vater selig – Friede sei mit ihm! – zu sagen. O, ich hab's ja erfahren, wie es mit dem Flackerfeuer und dem Strohfeuer endigt, ich hab's erfahren. Alles Lug und Trug! – Verraten und verlassen zu werden um eine solche!«

Und murmelnd wiederholte sie: »Um eine solche – eine solche – solche!«

Es drängte den guten Pfarrer, die Unglückliche wieder von der peinvollen Vorstellung abzulenken, welche ihren Geist beschäftigte, und er sagte daher:

»Ihr sprachet von einem Fünkchen, Rosi. Angenommen, es glimmte mir so eins im Herzen, fürs Vreneli –«

»O, so pflegt es, Herr, pflegt es und laßt es anwachsen zu einer still und stet brennenden Flamme. Mein lieb's gut's Schwesterli wird die Flamme zu nähren wissen. Sie ist so klug und hat so viel gelernt. Wär' sie an meiner Stelle gewesen, vielleicht – Doch wir wollen von Euch sprechen, Herr Pfarrer, und vom Vreli. Und Ihr seid also dem Kind gut, gewiß, Ihr seid ihm gut?«

»Das bin ich, Rosi; aber ich darf Euch nicht verbergen, daß ich über mein Gefühl noch nicht klar genug bin, um Eure Schwester der Gefahr auszusetzen, sich in mir getäuscht zu finden. Ich möchte sagen, meine Zuneigung für das liebe Mädchen sei nur erst wie ein Veilchen –«

»O, das Viönli ist ein herzig's Blüemli, Herr Pfarrer – unscheinbar, aber voll Wohlgeruch. Lueget, da fällt mir ein, Ihr habt mal in der Predigt gesagt, in einem einzigen duftenden Vionli sei schon der ganze Frühling enthalten. Zeigt dem Vreli, daß das Viönli da ist, in Eurem Herzen, und Ihr werdet sehen, daß dem Kind ein ganzer Glücksfrühling aufgeht.«

»Ich will es bedenken, Rosi, ich will es bedenken, und wenn das Ergebnis meiner Selbstprüfung ein solches ist, wie es einen Mann von Ehre und Gewissen befriedigen kann, so will ich mein Glück beim Vreneli versuchen.«

»Tut das und Ihr werdet das Glück finden.«

»Ich nehme die Weissagung an und sie klingt mir aus Eurem Munde doppelt verheißungsvoll. Aber jetzt kommt, Rosi. Seht, die Sonne steht schon über den Felswänden. Wir wollen uns auf den Heimweg machen.«

Sie sprachen auf dem Wege die Schluchten abwärts nicht viel mitsammen, denn beide waren zu sehr mit ihren Gedanken beschäftigt. Als sie aber, beim Rütli angelangt, sich trennten, sagte Rosi ruhig und gefaßt:

»Loset, Herr Pfarrer, der Ruodi wird wohl nächster Tage aus Thun an Euch schreiben, von wegen – von wegen der Scheidung, Ich erklär' Euch, daß ich darein willige. 's wird zwar meiner armen Mutter schier das Herz brechen, aber ich kann nicht anders. Er soll seinen Willen haben, er soll ihn haben, Gott verhüte, daß ich seinem Glück im Wege stünde.«

»Seinem Glück? Er wird bald mit bitterster Reue erfahren, was das für ein Glück sei.«

»Ich fürcht' es auch, ja, das tu' ich; aber ich kann's nicht ändern. Ich kann ihm nur zeigen, daß ich bis zuletzt das meinige tun will, ihn zufrieden zu stellen.«


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