Johannes Scherr
Rosi Zurflüh
Johannes Scherr

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Fünftes Kapitel. Ruodi und Rosi.

Wie alles, was die Menschen beseligt oder vergrämt, vorübergeht, ging für das junge Ehepaar auch jene süße Zeit vorüber, für welche sich unsere teure Muttersprache das schöne Wort Honigmond geschaffen hat. Ach, der Honig ist oft schon ausgeschlürft, bevor der Mond Zeit gehabt, zweimal seine Gestalt zu ändern, und nicht selten birgt der Ehebecher unter dem rasch genippten Schaum des Glückes nur noch die Bitterkeit der Enttäuschung, der Sorge, der ganzen herben Lebenswirklichkeit.

Nicht so im Rütli auf dem Hügel am See. Mochte der Herbst gehen und der Winter kommen mit seiner ganzen Schneelast und allen seinen Nordstürmen, da droben in dem wohnlichen Haus mit seinen hellen Fenstern grünte das Reis der Liebe und des Glückes fort und fort.

Gegen Lichtmeß zu, wo sich auch in diesem hochgelegenen Alpental die ersten leisen Anzeichen verspüren ließen, daß wieder eine Zeit kommen würde, wann Eis und Schnee sich Schritt für Schritt aus der Niederung weiter und weiter berghinan zurückziehen müßten, um zuletzt auf den Gipfeln des Ritzlihorns und des Glanzhorns sommerlang ihr Standquartier zu nehmen – also gegen Lichtmeß zu gingen der Zwihlbauer und seine Bäurin von dem Rütli heimwärts zur Zwihl. Es war den Winter über keine Woche vergangen, ohne daß sie mehrmals ins Bödeli herabgekommen wären. Die Mutter mußte doch gäng ihre Herzensfreude daran haben, wie ihre Rosi so 'ne »gattige« Hausfrau fürstellte, wie in Stube, Kammer und Küche, in Gaden und Stall alles und jedes so »hübschli in Ordnig« war und wie der Ruodi beim dritten Wort immer sagte: »My guet's Rosi« oder: »My lieb's Wybli.« Der Vater seinerseits hatte den »Holzschnäfler« mächtig liebgewonnen. Sowie es ihm in den Winternachmittagen daheim langweilig wurde, tubäkelte er ins Rütli abe und sah da stundenlang dem Schwiegersohn zu, wie der, an seinem Werktisch am großen Erkerfenster sitzend, so fix und flix Sägen, Messer und Meißel von allen Arten handhabte und, ohne daß man sich's versah, unter seinen »künstlichen«, will sagen kunstreichen Händen so »verflixt niedlinetti« Sachen und Sächelchen hervorgehen ließ, deren er gar nicht genug gen Bern und anderswohin versenden konnte, so begehrt waren sie. Und dabei wußte der Ruodi so »wetterli g'schyd« z' reden von Gemeinds- und Staatssachen, und war es drum nummeeinisch nur billig g'si, daß er neulich in den Gemeinderat gewählt worden. Ein weiteres Band zwischen Schwiegervater und Schwiegersohn knüpfte der Umstand, daß dieser ein ebenso großer Jäger vor dem Herrn wie jener und es für beide eine Feiertagsfreude war, droben in den Bergen den Gemsen nachzustreichen. Für den Ruodi war das zudem noch ein künstlerisches Studium, was nicht ohne Früchte blieb. Von allen seinen Schnitzwerken hatten seine Gemsen und anderen Alpentiere, einzeln oder zu mancherlei Gruppen vereinigt, den größten Ruf. Das machte, er lauschte sie der Natur ab, und arbeitete nie rascher und glücklicher, als wenn er tags zuvor mit seiner Büchse in den Bergen gewesen war und der Hausfrau einen feisten Jährling von Gemsbock in die Küche geliefert hatte.

»Nu, Vater,« fugte die Zwihlbäurin im Heimgehen zu ihrem Bauer, »gelt, ich hei doch recht g'ha, daß euser Rosi mit dem Ruodi würd' glücklich werden? 's ist gäng e Freud', die junge Lütli so beisamme z' g'seh'.«

»Wohl, wohl, Müetti« – seit der Verheiratung ihrer Tochter nannte der Leuenberger sein Anneli Mutter und die Bäurin ihren Kuori Vater – »wohl, Müetti, hast recht g'ha. Aber säg', ist denn gäng noch nüd um d' Weg'?«

»Was meinst?«

»Der Dunder schlag'! Was werd' ich meinen? Weißt gäng wohl.«

Ein höchst charakteristischer Kopfruck und ein ungeheuer pfiffiges Augenblinzeln begleitete diese Worte.

»Ah so, Vater? Nei, wahrli nei, 's ist noch nüd um d' Weg'.«

Der Zwihlbauer kratzte sich auf diesen Bescheid hinter den Ohren, tubäkelte mörderisch und sagte auf dem ganzen Heimweg kein Wort mehr. Es ging ihm ein widerwärtiger Gedanke im Kopf herum; es war etwas nicht, wie es sein sollte, das war klar. Er blieb den ganzen Abend über schweigsam, und als die Bäurin beim Zubettegehen beschwichtigend zu ihm sagte: »'s wird sich wohl machen, Vater; 's hat ja gäng noch alle Zyt dazu,« brummte er nur wie zweifelnd: »Gott geb's!«

Der Winter ging, der Frühling kam und diesem folgte ein zweiter, ein dritter, ohne daß das Leben in dem Tal von Windgellen eine Abweichung von den gewohnten Gleisen gezeigt hätte, wenigstens im ganzen und großen, denn im besonderen wurde doch dies und das anders, als es gewesen.

Da war zum Beispiel 's Vreneli während dieser Zeit aus einem überlustigen Chind zu einer recht gesetzten Jungfrau geworden, so daß sie nicht mehr Gefahr lief, von der alten mürrischen Kathri ein »Göhl« gescholten zu werden. Ja, selbst der alte Schurbauer hätte kaum noch Veranlassung gehabt, sie ein »Äffli« oder einen »Baggäugel« zu nennen. Die Zwihlbäurin fragte sich oft verwundert: »Was ist's denn mit dem Chind? 's tut ja gäng so still und sacht wie ein Nönneli.« Zuzeiten brach freilich die angeborene Heiterkeit des Mädchens wieder durch, aber zu anderen Zeiten hörte man wochenlang Vrenelis herzliches Lachen weder in der Zwihl noch sonstwo. Ihre größte Lebensfreude war der zweimalige sonntägliche Kirchgang. Da saß sie in ihrem Stuhl, die ganze Seele in den Ohren, um ja kein Wort von den Predigten des Pfarrers zu verlieren. Sie hätte dieselben nachher immer auswendig hersagen können und tat es auch oft im stillen, ganz im stillen. Eine Kopfhängerin wurde sie darum doch nicht. Wohl aber wurde sie, weil sie sich nach und nach ganz in die Anschauungs- und Denkweise Milders hineinlebte, mehr auf die geistigen Lebensbezüge hingewiesen, als sie sich je hatte träumen lassen. Ihr Gedankenhorizont wurde weiter, denn sie ergriff jede Gelegenheit zur Erweiterung desselben mit Begierde. Sie las gerne, an den Sommersonntagsnachmittagen und zur Winterszeit, wenn das Spinnrad Feierabend hatte. Ihr Schwager hatte ein Bücherbrett in seinem Erkerwinkel und standen darauf Tschudis Chronik, Zschokkes Schweizergeschichte, Hebels Schatzkästlein und Alemannische Gedichte, ein sehr zerlesenes Exemplar von Schillers Tell und noch mehr solche »herzige« Sachen, deren Inhalt sich Vreneli nach und nach aneignete. Daß sie nicht verbildet wurde, dafür war gesorgt. So ein Bauerngewerb wie die Zwihl gibt der Tochter des Hauses jahrein jahraus genug zu schaffen. Aber ihr Geist war für ihre Stellung ungewöhnlich bereichert, ihre Vorstellungsweise geklärt, sie wußte sich auszudrücken und die Feder zu führen. Als einmal, etwa zwei Jahre nach Rosis Hochzeit, der Herr Gemeindspräsident dem Pfarrer einen schriftlichen Bericht über Armensachen zu Händen der Bezirksbehörde zugestellt hatte, kam Milder nach der Zwihl und sagte dem Hausherrn viel Artiges über die umsichtige und klare Fassung des Schriftstücks. »Ja, lueget, Herr Pfarrer,« meinte darauf der Zwihlbauer mit verzeihlicher Vatereitelkeit, »eigetli solltet Ihr das dem Chind da, dem Vreli sagen. Denn es hat gäng den B'richt nit nur g'schriebe, sondern au g'machet, nach myne Angabe, versteht si.« Vreneli wurde blutrot, dann ganz bleich und wieder rot, aber es tat ihr doch bis ins Herz hinein wohl, daß sie der Pfarrer so wohlgefällig ansah und ihr ein so herzliches Lob spendete, wie er tat.

In Wahrheit, Milder hatte bei dieser Gelegenheit das junge Mädchen aufmerksamer angesehen als jemals. »Sie ist schön,« sagte er auf dem Heimweg bei sich, »und besitzt eine ganz eigene Anmut in ihrem Tun und Reden. Auch ist sie gewiß von Herzen gut, aber eine Rosi ist sie doch nicht. Es gibt in der weiten Welt keine zweite Rosi.«

Vreneli, als sie in der Dämmerung auf dem Söller stand und, wie es allabendlich geschah, nach dem Pfarrhaus hinübersah, wo das Licht in Milders Studierzimmer schon brannte, flüsterte in sich hinein: »Ein so braver, seelenguter, g'lehrter Herr, den centum alle Leut' voll Achtung und Zutrauen ansehen, und doch ist er so traurig. Wenn ich nur wüßt', was ihm Kummer und Sorgen macht. Ich wött' eins meiner Augen, ich wött' alle beide ich wött' mein Leben drum geben, daß ich ebbis könnt' tun, was ihn fröhli und glückli tät machen.«

Und allweg, glücklich und fröhlich war der arme Milder nicht. Schon zum äußerlichen Behagen ist es so einem Landpfarrer, und vollends in solcher Bergeinsamkeit, schlechterdings notwendig, daß er verheiratet sei, wohlverstanden mit einer Frau, die ihrem Eheherrn wirklich häusliches Behagen zu schaffen vermag. Er aber lebte noch immer einsam in seinem Pfarrhaus, welches daher auch von einem gewissen anfröstelnden Unbehagen durchzogen war. Die »Zytig vo Windgellen« hatte zwar schon zu wiederholten Malen »aus sicherer Hand« die bestimmte Nachricht in Umlauf gesetzt, daß der Herr Pfarrer ein »Hochzyter« sei. Zuletzt wollte sie drunten in Meyringen ganz gewiß, ja diesmal gäng ganz gewiß in Erfahrung gebracht haben, daß der Herr Pfarrer mit nächstem eine der »rychsten Jumpfere« von Bern heimführen werde. Aber es hatte mit diesen geredeten Zeitungsnachrichten die nämliche Bewandtnis wie mit so vielen gedruckten, das heißt es war am Ende immer wieder nichts daran, gar nichts. Jungfer Bartbibbeli ermüdete aber nicht, stets neue Heiratspartien für den Pfarrer auszuhecken. Denn was man wünscht, hofft man. Ein lediger Pfarrer war ja gäng eigetli gar kein rechter Pfarrer und in ein Pfarrhaus gehörte eine Frau Pfarrerin, so gut wie die Bibel und der Kirchenrock. Die Gute hätte nachgerade »verzwarzeln« mögen, daß ihr der Herr Pfarrer, »abg'seh davon ein meisterlicher und kreuzbraver Herr«, noch immer nicht den Gefallen tun wollte, ihren kanonischen Rechtsbegriffen nachzuleben.

Milder hatte freilich keine Ahnung davon, welche schwere Sorgen sich das Bartbibbeli um ihn machte. Es war etwas in dem ganzen Wesen und Auftreten des jungen Geistlichen, was Schranken um ihn zog, welche dörfliche Klatschfreude nicht zu durchbrechen wagte. Er war eine vornehme Natur, wenngleich ein standhafter Bekenner des demokratischen Glaubens. Alles Gemeine widerte ihn an und war das vielleicht sein Unglück, insofern wenigstens, als dieses sein Feingefühl den nach Rosis Heirat unternommenen Versuch, seine unterbrochene politische Laufbahn wieder aufzunehmen, scheitern gemacht. Er hatte bei aller von der Hinneigung zur Beschaulichkeit nicht ganz freien Idealität seiner Denkweise die Notwendigkeit empfunden, aus der lähmenden Verdüsterung, die infolge jenes Ereignisses ihn übermannt, sich aufzuraffen. Er wollte im Geräusche der Parteipolemik sich selbst vergessen, und noch einmal tauchte sein Name im Staatsleben auf. Aber nur vorübergehend. Man merkte bald, daß er nicht mehr der studentische Heißsporn, der rücksichtslose Agitator sei, und er merkte es selber. Er merkte noch mehr. Einsamkeit und Nachdenken hatten seinen Geist gereift, und es konnte daher nicht ausbleiben, daß er manches, vieles, ja, alles anders ansah als früher und daß er, der Redliche und Selbstsuchtslose, an dem vulgären Liberalismus mit seinen aufgebauschten Phrasen, seinen kleinen Pfiffen und Kniffen und seinen jammerseligen Persönlichkeitskrämereien sich verekeln mußte. Dieselbe Gemeinheit erkannte er unter der frommen Tünche des Konservatismus, welcher ihn noch dazu durch seine aller schaffenden Kraft bare Borniertheit abstieß. Solche sensible Naturen passen nicht für das Forum und vollends nicht für das Forum einer kleinen Republik, wo sie täglich und stündlich Begegnungen und Reibungen mit den zudringlichsten und widerwärtigsten Elementen ausgesetzt sind. Milder trat daher ebenso rasch wieder in seine Verschollenheit zurück, wie er plötzlich aus derselben hervorgetreten. Fortan wollte er sich damit begnügen, der Pfarrer von Windgellen zu sein; aber wohl ihm, daß ihm sein Amt Zeit ließ, aus jenem ewigen Jungbrunnen des Trostes zu schöpfen, welchen dem wahrhaft Gebildeten Kunst und Wissenschaft allzeit sprudeln lassen. Er hatte eine Ader vom Poeten in sich, allein er täuschte sich nicht über den Umfang derselben. Er wußte, daß er kein produktives Talent sei, aber seine Gabe der Reproduktion bildete er um so schöner aus, als ihm dabei sein reiches Wissen, namentlich im Fache der Sprachenkunde, zu Hilfe kam. Der hagestolzen Unbehaglichkeit des Pfarrhauses ungeachtet gingen dort Götter und Genien aus und ein und weilten gerne unter dem stillen Dache. Er las wieder und wieder die großen Dichter und Geschichtschreiber des Altertums, verwandte viele seiner Mußestunden auf die Sammlung und Sichtung der Sagen und Mythen des Gebirges oder versuchte sich in der poetischen Übersetzungskunst, indem er die Idyllen des Theokrit, das Gedicht Virgils vom Landbau und die Lieder von Burns und Hogg in die Berner Mundart, übertrug.

Unter solchen Beschäftigungen und überall, wo er als Mensch oder Geistlicher dazu Gelegenheit hatte, mit Rat und Tat wohltätig eingreifend lebte er so hin. Äußerlich stets ruhig und gefaßt, konnte er doch den großen Fehlschlag seiner schönsten Lebenshoffnung nimmer verwinden, so wenig als er die Nachwehen dieses Fehlschlags aus seinen Zügen zu wischen vermochte. Es war doch immer etwas Störendes da, ein Stachel, den die Zeit wohl einigermaßen stumpfte, aber nicht vernichtete. Er vermied es, wo er, ohne auffällig zu werden, konnte, Rosi Zurflüh zu sehen; denn so oft er sie sah, flüsterte es schmerzlich in seiner Seele: »Oh, wie glücklich hättest du werden können!« Und wenn vollends die junge Frau, in der Zwihl oder wo sie sonst sich gelegentlich trafen, in ihrer freundlichen Art mit ihm sprach oder ihn gar scherzend fragte, ob denn die Gemeinde noch lange ohne eine Frau Pfarrerin sein sollte, dann kamen finstere Stunden und Tage über ihn, Tage, wo ihm das Herz in Galle schwamm, Himmel und Erde, die Menschen und das eigene Selbst ihm verleidet waren. Dann trieb es ihn in die ödesten Wildnisse des Gebirges hinauf, als müßte er, dem düsteren Helden Byrons gleich, sein geheimes Weh den Gletscherwinden preisgeben. Das Rütli hatte er noch nie betreten, obgleich der Ruodi es gerne gesehen hätte, weil sich mit dem geistlichen Herrn gar so »unterhaltlich sprächlen« ließ. Einmal aber konnte er doch nicht wohl umhin, in das Haus im Bödeli zu gehen. Nämlich bei einer Begegnung mit der Rosi in ihrem väterlichen Hause, wohin den Pfarrer häufige Amtsgänge führten und zwar nicht immer die angenehmsten – pflichttreue Landgeistliche, die mit protzigen Dorfmagnaten zu verhandeln haben, besonders in Armensachen, wissen davon zu erzählen – also die junge schöne Frau lud den Pfarrer einmal zu einem »Familienanlaß« ein, zur Feier ihres zweiundzwanzigsten Geburtstags, welche im Rütli von der Familie begangen werden sollte. Er konnte die Einladung nicht wohl ablehnen, obgleich et es gerne getan hätte. Er versuchte es auch, aber während er sich anschickte, seine Entschuldigung vorzubringen, sahen ihn Rosis Augen mit so viel Herzensgüte an, daß er es nicht über sich brachte, ihr zuwider zu handeln. So sagte er denn ja statt nein; aber indem sie, zufrieden mit dem Bescheid, sich wegwandte, murmelte er zwischen seinen Zähnen den Virgilschen Vers:

Infandum, regina, jubes renovare dolorem.

Die gute, harmlose Rosi! Ihre großen Kornblumenaugen blickten doch sonst klar und verständig in die Welt, aber in betreff der Gefühle des Pfarrers für sie waren diese Augen wie blind. Sie hatte in der Unschuld ihres Herzens keine Ahnung davon, daß sie die »Königin« Milders gewesen war und noch war. Es ist freilich eine der gewagtesten Behauptungen, zu sagen, es gebe ein Mädchen oder eine Frau, welche die innige, wenn auch noch so stumme und zurückhaltende Neigung eines Mannes für sie jahrelang nicht gemerkt hätte. Aber trotzdem, es gibt solche weibliche Wesen, nicht viele allerdings, aber es gibt welche, deren Seele und Augen von dem Bilde dessen, den sie lieben, so voll sind, daß ein zweites keinen Platz darin findet, nicht den allerkleinsten. Solche Frauen bewahren die Jungfräulichkeit der Seele, die mädchenhafte Unbefangenheit auch in der Ehe. Die Einsicht in solche Frauengemüter hat jenen großen Malern den Pinsel geführt, welche Madonnen schufen, die mit dem vollen Ausdruck der Jungfrauschaft auf den göttlichen Säugling an ihrer Brust niederblicken.

Der arme Pfarrer hatte am folgenden Tage einen schweren Abend im Rütli durchzumachen. Er mußte mit ansehen, wie glücklich der Ruodi war, mit ansehen, wie Rosi, weit entfernt von jener Zurschaustellung von Zärtlichkeit vor Zeugen, welche die Taktlosigkeit junger Eheleute leider nicht immer vermeidet, dennoch eigentlich nur für ihren Gatten da war. Eine brennende Eifersucht wandelte ihn an, und es half wenig, daß er sich die Torheit dieser Regung in ihrem ganzen Umfange klar machte. Um sich aus dem quälenden Gedränge seiner Gefühle zu retten, zwang er sich zuletzt, recht angelegentlich mit dem neben ihm sitzenden Vreneli zu plaudern, und es fiel ihm dabei nicht im entferntesten ein, zu bemerken, daß die schönen Augen seiner Nachbarin freudig aufleuchteten. Der Rosi entging es nicht, daß die Schwester heute so munter war und so herzlich lachte wie seit lange nicht mehr, und wenn sie das traulich mitsammen plaudernde Paar ansah, lächelte sie stillvergnügt. Sie hätte wenig Ursache dazu gehabt, wenn sie ein paar Stunden darauf den heimgekehrten Milder in seiner Studierstube gesehen haben würde, wo er bis spät in die Nacht ruhelos auf und ab ging. Er hatte noch nie einen solchen Überdruß am Leben empfunden. Jener Dämon, welcher uns in Stunden herbster Prüfung zuflüstert: »Was bist du für ein feiger Tor, daß du das alles länger tragen magst!« wisperte auch ihm ins Ohr. Zum Glück war der Pfarrer ein Mann, dem es groß erschien, wie Demosthenes und Kato, aber klein, wie Werther und Ortis zu sterben.

Eine zufällige Wendung des Gesprächs hatte es an diesem Abend gefügt, daß die Rede auf das anrüchige Ehepaar in der Höllenschwärz kam, und so erinnerte man sich auch wieder einmal des Schwarzelsis, mit welchem 's Vreneli in die Schule gegangen und »b'hört« worden war. Das wilde Kind war verschwunden, seit es damals, an Rosis Hochzeitsmorgen, einen so wunderlichen Abschied von Milder genommen – spurlos verschwunden. Der Pfarrer war zwar, bevor er sich an jenem Tage zum Brautmahl in die Zwihl begab, nach der Höllenschwärz gegangen und hatte den Strobelchäpi und sein Weib tüchtig »abkapitelt«, daß sie auf ihr Kind nicht besser achtgegeben. Aber die Leute hatten das Abkapiteln nicht minder gleichmütig aufgenommen als die Nachricht, daß Elsi in die weite Welt gelaufen. Der Strobelchäpi meinte, das wunderfitzig Närrli würde schon von selber wiederkommen, wenn es ihm draußen unter den Leuten schlecht ginge, und die Strobelbäbi sagte mit Fassung, es sei gar nicht verwunderli, daß 's Elsi sich auf und davon gemacht. Was hätt' es denn da in der Höllenschwärz hocken bleiben sollen? Es hätt' ja doch nie ein Windgellener Gotschem ihr Töchterli zum Weib genommen. Und 's Elsi sei ein verflixt kochem Schiksel, das gut lisamen und kesfajemen könne und zu was Besserem da sei, als all sein Lebtag' Hafersuppe und Knollen zu essen. Nein, nein, sie habe gar keine Mooren für das Elsi. Das werde sich schon forthelfen können in der Welt, und sicherlich in keine Misemaschinne geraten. Als dann der gute Pfarrer dieser zigeunerischen Lebensphilosophie und diesem Rotwelsch gegenüber den sittlichen Gesichtspunkt betonte und die Gefahren andeutete, welchen ein so junges, leichtsinniges und unerfahrenes Mädchen in der Welt ausgesetzt sei, gab ihm die würdige Mutter die tröstliche Versicherung, 's Elsi sei gar nicht so unerfahren, wie er glaube, 's Elsi sei kein schlimiil Gambes, es werde sich nicht mit Zores einlassen, und was seine Tugend angehe, o, da brauche der Herr Gallach keine Sorge zu haben, 's Elfi sei viel zu gewitzt, als daß es sich nur so mir nichts dir nichts zur Nafkine machen ließe. – Gegen diese mütterliche Überzeugung war nicht aufzukommen, und es blieb dem gewissenhaften Pfarrer nichts anderes übrig, als von Amts wegen die Bezirkspolizei aufzufordern, den Flüchtling im Betretungsfalle anzuhalten und heim zu liefern. Diese Maßregel kam aber zu spät. Elfi war zurzeit schon über alle Berge und hatte die Polizei der Mühe enthoben, sich mit ihr zu beschäftigen. Wohin sie geraten und was aus ihr geworden, man hatte darüber nicht einmal Vermutungen. Doch ja, das ehrsame Bartbibbeli wollte allerlei über diesen Kasus wissen. Hatte doch das Schwarzelsi nach seinem Verschwinden vierzehn Tage oder gar drei Wochen lang einen stehenden Artikel auf den Blättern, will sagen auf der Zunge der Zytig vo Windgellen ausgemacht, bis es durch eine Fatalität »abg'löst« wurde, welche des Grüblibauers Hans Heiri begegnete, indem er beim Kiltgang von einer Holzbeige fiel und den Arm brach. Tatsache war aber, daß weder damals noch später weder 's Bibbeli, die allwissende Schöne von fünfzig und etlichen Jahren, noch sonst jemand etwas vom Elsi wußte. Auch das würdige Ehepaar in der Höllenschwärz nicht und, die Wahrheit zu sagen, es kümmerte sich wenig darum. Hatte doch 's Strobelbäbi, als es, wenige Tage vor der erwähnten geselligen Zusammenkunft im Rütli, bei einer zufälligen Begegnung von dem Pfarrer gefragt worden, ob denn Elsi nie geschrieben, beim Nachhausekommen weiter nichts zum Strobelchäpi gesagt als: »Was geht's den Gallach an, ob das Schiksel gekesfajemet hat oder nicht? Die Schwarzfärber müssen doch ihre Schnorre in jede Massenmaite stecken.«

Da, so um Ostern herum, ja gerade in der Karwoche geschah es, daß das verschollene Schwarzelsi wieder zu Windgellen in aller Leute Mund kam. Herrgott, was bekam da Bartbibbeli zu tun! Die ehrsame Jungfrau war Feuer und Flamme. Sie galoppierte nur so im Dorfe herum, als wären ihre Beine fünf- statt fünfzigjährig. Die Zytig vo Windgellen erlebte täglich fünf bis sechs Auflagen. Es war aber auch gäng 'ne große G'schicht'. Der Postbote, welcher in der Regel wöchentlich einmal, zuweilen auch zweimal von Hasli im Grund herüber kam, brachte eine »grüsli schweri« Talerrolle mit und war dieselbe an die Strobelbäbi in der Höllenschwärz adressiert. Nun allgemeiner Klatschaufruhr. Zwei Stunden nachdem der Postbote vom Dorfe zur Höllenschwärz gegangen, fegte Bartbibbeli das Tal hinunter. Sie mußte ja um jeden Preis heute noch ein Telegramm ausgeben, was es mit dieser mysteriösen Talerrolle für eine Bewandtnis habe. Allein selbst der redliche Pflichteifer kann nicht immer, was er will. Das angekündigte Telegramm erschien nicht, denn Bibbeli war bald wieder heimgekommen und zwar mit dem Aussehen einer Person, die einen großen Staatszweck verfehlt hat. Sie hatte die Höllenschwärz noch nicht erreicht, als ihr der Strobelchäpi und sein Weib begegneten und ohne viel Notiznahme an ihr vorübergingen, als wollten sie gen Meyringen hinunter. Weiter wußte die Zytig nur zu sagen, das Bäbi habe sie »schüli spöttisch« angelugt und dazu mit harten Talern in der Tasche »gekläpperet«.

Indessen klärte sich dieses nicht unwichtige Kapitel der Geheimnisse von Windgellen schon am Ostersonntag einigermaßen. Da kam nämlich die Strobelbäbi in die Kirche und hatte eine »spritzfunkelnagelneue« Jüppe an von schwarzem Tibet, die Elle zu zwei Franken mindestens – (Zytig vo Windgellen vom Ostermontag 185*) – und ein dito neues Schäpli mit Seidenbändern und Silberzindeln auf ihrem struppigen grauschwarzen Haar. Und aber am Nachmittag erschien, angetan mit einem neuen oder wenigstens wie neu aussehenden Tschopen und auf dem Kopf einen ewig hohen neuen Zylinder, der Strobelchäpi im blauen Fuchs, das heißt im Wirtshaus von Windgellen, und hatte, wie er bald sehen ließ, ein neues »Bohrmunnäh« in der Tasche und darin wohl 'ne Handvoll Franken- und Halbfrankenstücke. Und nachdem der Mann erst warm geworden, das ist, nachdem er einen Schoppen »Brännt's« versorgt, fing er an zu flunkern und zu glorifizieren und erzählte von seinem Elsi, dem »Tusigedundersglüntli«, wie er das Mädchen in überwallender Zärtlichkeit nannte. Ja, das syg es Meitschi, das, centum gäb's kei sölligs. Es Meitschi? Ja, ahsograd'! Nei, e Dam' syg's, und was für eine! E grüsli große, ja, bym ewige Stralsakerment! Jetzt sollten nur die herkommen, welche früher sein Schwarzelsi uszännet hätten. Er woll's ihnen schon sagen, er! Da draußen, »im Dütschland«, in der schüli großen Stadt Soundso, da hätt' 's Elsi sy Glück g'macht. Nüd als Syde uf em Lyb, urche Syde und Sammet, sogar an den Füßen, und Geld hätt's wie Dreck. Und mit de fürnehmste Herre, im Verglüch mit dene d' Herre vo Bern syge wie Gülle im Verglüch mit Rosooli, geh' das Ketzersglüntli um, als hätt's sy Lebtig nüd anders g'seh'. Ja, das syg e wahre Pracht, und d' Windgellener würden, bym ewige Hagel, nit schlecht d' Augen ufryße, wenn 's Elseli so eines Tages daher käm' g'fahren, vierspännig und langg'spanne. Er könnt' no viel sagen, er, wenn er wött', bym Eid! Aber ma werd' schon sehen, ma werd' schon sehen. – In dieser Tonart ging die Litanei noch lange fort. Als gegen Abend zu der Strobelchäpi, mehr beduselt als billig, sich heimgetrollt hatte, hielt Bartbibbeli in der Küche des blauen Fuchses mit der Wirtin eine geflügelte Zungenkonferenz ab, und hernach telegraphierte die Pflichteifrige im Dorfe umher, es sei richtig, das Schwarzelsi werde einen Grafen, einen Fürsten, einen Prinzen oder gar einen König zum Ma übercho.


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