Johannes Scherr
Rosi Zurflüh
Johannes Scherr

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Neuntes Kapitel. Ein Donnerschlag.

Der Frühling kam und verging den Bewohnern des Rütli in leidlichem Frieden. Aber ein Liebesfrühling war es nicht mehr. Es stand etwas zwischen Rosi und ihrem Gatten, etwas, das kalt und hart war wie eine eiserne Wand. Sie fühlte es wohl, und in mancher schlummerlosen Nacht setzte sie sich neben dem Ruodi im Bette auf, ängstlich lauschend, wann er sich im Schlafe unruhig hin und her warf, wie von schweren Träumen gequält. »Er hat eine Last auf dem Herzen,« dachte sie dann, »eine schwere Last. O, wenn er sie mir nur offenbaren wollte; ich würde sie ja gern mit ihm tragen, für ihn!«

Doch der Ruodi schwieg. Er war überhaupt sehr schweigsam geworden, zerstreut, mitunter sogar launisch. Manchmal überkam ihn die alte Arbeitslust wieder, und er konnte dann tagelang an seinem Werktische sitzen wie hingebannt. Mit solcher fieberhaften Tätigkeit wechselte ein Müßiggang, der ihn jede Veranlassung, vom Hause abwesend zu sein, mit Begierde ergreifen ließ. Manchen Tag streifte er mit seiner Büchse in den Bergen, aber er brachte nur selten eine Jagdbeute heim. Abends saß er auch viel im blauen Fuchs, was früher kaum ein paarmal im Jahre vorgekommen, und da war der alte Strobelchäpi sein beständiger Gesellschafter. Die Glossen, welche man über den letztern Umstand im Dorfe machte, waren jedenfalls keine schmeichelhaften. Einmal kam er erst nach Mitternacht heim. Rosi war aufgeblieben, ihn zu erwarten, und wie erschrak sie nun über den stieren Glanz seiner Augen, über sein launisches Lachen! Sie verging fast vor Scham und Jammer, als sie die widerlichen Liebkosungen eines Berauschten abwehren mußte.

Und dennoch hoffte sie noch, hoffte auf die Wiederkehr früherer glücklicher Tage. Sie betrachtete und behandelte ihren Mann wie einen Kranken. Mittels Geduld, Sanftmut, Güte würde es ihr, redete sie sich ein, vielleicht doch gelingen, ihn auf den rechten Weg zurückzuführen und zu ihr.

Vielleicht! Wort voll Täuschung und doch voll Trost! Wenn die Menschen das »vielleicht« nicht hätten, würden sie sich über den zahllosen häßlichen »aber« auf ihrem Lebenswege den Hals brechen, bevor sie zwanzig Jahre alt sind.

Mit ängstlicher Sorgfalt suchte die arme junge Frau vor aller Welt, besonders aber vor der Mutter und Schwester zu verbergen, was aus ihrem häuslichen Glücke geworden. Das konnte jedoch nicht ganz gelingen. Aber wenn die Mutter sie ins Gebet nahm oder wenn's Vreneli, die ihrer Schwester von ganzer Seele zugetan war, verfänglich-mitleidige Fragen an sie richtete, nahm sie doppelt sich zusammen und suchte wohl gar die von jenen geäußerten Besorgnisse in Scherz zu verkehren. Wie ihr dabei zumute war, sie hatte es nicht verraten mögen, nicht um die Welt! Selbst der Mutter und Schwester nicht. Diese sollten ihren Ruodi liebhaben wie bis dahin, denn sie selbst liebte ihn ja immer noch.

Ein wahrhaft liebendes Weib vermag alles, wenn auch nicht über andere, so doch über sich selbst. Aber der Liebe Lebensodem ist die Achtung. Mit unendlicher Seelenqual fühlte Rosi manchmal, daß dieser Odem in ihrer Brust schwächer und immer schwächer wurde. Wenn er eines Tages ganz ausginge? O, dann müßte alles dahin und vorbei sein!

Eines Vormittags kam die Zwihlbäurin zum Rütli herab. Sie war gestern drüben auf einem Hof gewesen, welcher zur Gemeinde Hasli im Grund gehörte. Es hauste dort eine Tochter ihres verstorbenen Bruders. Sie war die Gotte der jungen Bäurin, welcher gestern das siebente Kind getauft worden. Dabei hatte die Gottebas' natürlich nicht fehlen dürfen.

Die Mutter grüßte ihre unten in der Küche beschäftigte Tochter nur flüchtig, fragte dem Ruodi nach und stieg, als sie erfahren, daß er oben sei, die Treppe hinan.

»Was hat denn nur die Mutter?« fragte sich Rosi. »Sie hat mit ja gar nichts von der gestrigen Taufe verzählt und macht ein so schüli ernst G'sicht.«

Sie überwand sich, nicht hinaufzugehen, obgleich eine geheime Besorgnis bei dem um diese Tageszeit ganz ungewohnten Erscheinen der Mutter sie angewandelt hatte. Zuletzt brannte ihr aber der Boden so unter den Füßen, daß sie doch hinaufgehen mußte.

Als sie mit möglichst unbefangener Miene in die Stube trat, brachen die Mutter und der Ruodi das Gespräch, welches sie mitsammen geführt, plötzlich ab und ganz unverkennbar in jener Weise, welche deutlich genug verrät, daß man eine dritte Person nicht wissen lassen will, um was es sich handelt.

Rosi konnte das leicht merken. Sie machte sich einige Augenblicke an einem Schrank zu schaffen und wollte dann wieder hinausgehen. Da brach aber auch die Mutter auf und sagte, der Ruodi sollte sie eine Strecke zur Zwihl hinauf begleiten. Sie hätte ihn um einen Rat zu fragen. Derweil könnte 's Rosi 's Imbißessen vollends rüsten.

Das Essen stand auf dem Tisch, als er zurückkam. Aber er schlang nur hastig einige Bissen hinunter. Er war augenscheinlich sehr aufgeregt, fing bunt über Eck von allerlei zu reden an, brach dann schnell wieder ab und versank in ein finsteres Brüten.

»Ruodi, was hast?« fragte Rosi, als das Mareili hinausgegangen war.

»Was werd' ich haben? Nichts, gar nichts! Aber ich hab' vergessen, dir zu sagen, daß ich heut' noch, jetzt gleich nach Hasli im Grund 'nüber muß.«

Und aufstehend murmelte er zwischen den Zähnen:

»Der Hundsketzer, der! Aber ich will dem Fluoch 's Mul scho stopfe, ich!«

Was meinte er nur damit? Das war ja gar nicht die gewählte, »herrenmäßige« Redeweise, in welcher sich, wie die Leute von Windgellen spöttelten, der Ruodi so gefiel, seit er »draußen im Dütschland«, gewesen.

Rosi wagte keine weitere Frage. Er hätte ihr ja doch kaum eine Antwort gegeben, so hastete er sich mit dem Anziehen und Fortgehen. Gegen Abend drängte es sie nach der Zwihl: die Mutter mußte ja doch gewiß etwas von der wunderlichen Sach' wissen. Aber die Zwihlbäurin war heute die diplomatische Zurückhaltung selbst, wollte Rosis Anspielungen gar nicht verstehen, und als diese mit deutlicheren Fragen herausrückte, sagte sie: »Was wird's groß's sein? Man kann neime nit nach allen Mucken schlagen, Rosi, weißt? Der Züfimelcher z' Hasli im Grund, der Holzschneider, der mit dem Ruodi im Dütschland g'si ist, hat gäng den Leuten allerhand vorpäpperet. 's ist dumm's Zug!«

»Aber, Müetti –«

»O, ich hab' gar nit druf g'loset, Rosi. Mach's du gäng auch so, wenn d' ebbe ebbis hören solltest. Aber du wirst neime nüd hören. Der Ruodi wird, denk' mir, dem Schlufi scho 's Mul stopfe.«

Verzeihlicherweise wollte sich Rosi damit nicht zufrieden geben. Aber die Zwihlbäurin wurde gerade in den Stall gerufen, wo eine Kuh im Begriffe war, den Viehstand der Zwihl zu vermehren, und dieses idyllische Ereignis entzog sie den besorgnisvollen Fragen ihrer Tochter.

Der Ruodi kam erst spät in der Nacht heim, roch stark nach Wein und bot seiner Frau mit so schwerer Zunge gute Nacht, daß sie gerne darauf verzichtete, ihn zu fragen, warum er denn nach Hasli im Grund hiuübergemußt.

Von jetzt an zog sich die arme junge Frau mehr und mehr in sich zurück. Sie mochte nicht fragen, sie mochte nicht klagen. Sanft und still trug sie ihre Last. Die Rosen auf ihren Wangen blaßten mehr und mehr, und ihr Gang verlor die Schnellkraft. Sie verbarg ihren Kummer vor den Menschen, sie hätte ihn gern vor sich selbst verborgen. Nur dachte sie oft: »O, wie gut ist's, daß der Vater gestorben. Er hätte das alles nicht so mit ansehen können.« Unter die Leute zu gehen vermied sie, wo sie nur immer konnte, und je mehr ihr so traurig verwandelter Gatte von Hause fortstrebte, um so eingezogener hielt sie sich, fast klösterlich. Sie meinte – und nicht ohne Grund – die Leute müßten's ihr ansehen, daß das Glück nicht mehr im Rütli daheim, und das drückte sie schwer, so schwer, daß sie dadurch manchmal auf die selbstquälerische Vorstellung kam, am Ende sei nur sie daran schuld, daß das Glück nicht geblieben: sie habe es nicht zu fesseln verstanden. Wahrhaft reine und edle Gemüter wissen ja nichts von jener wohlfeilen Selbstgerechtigkeit, zu welcher sich unlautere und selbstsüchtige so gern hinaufheucheln, und kommen unschwer dazu, sich als Fehlende anzuklagen, wo sie nur Opfer sind.

Ließ sich die Zwihlbäurin durch das heitere oder wenigstens ruhige Gesicht, welches ihr, wenn sie ins Rütli kam, die Tochter zu zeigen sich bemühte, wirklich täuschen, oder tat sie nur so? Jedenfalls war sie eine von jenen Naturen, welche die Sachen gern an sich herankommen lassen und dann erst klug und resolut einzugreifen lieben. Wenn sie daher merkte, wie es eigentlich zwischen der Tochter und dem Tochtermann stand, so mochte sie es noch nicht für an der Zeit halten, zu intervenieren, und ließ demnach die Sachen vorderhand ihren Gang gehen, 's Vreneli seinerseits war nicht so diplomatisch. Das Mädchen verriet dem Schwager, welchen sie zu hassen oder zu verachten begann, deutlich, wie sehr es sein Tun und Treiben mißbilligte. Einmal traf sie den Strobelchäpi im Rütli, welcher jetzt, zu Rosis Qual, nicht selten dahin kam und allerhand mit dem Hausherrn zu verhandeln hatte, geheim und offen, 's Vreneli rümpfte ihr hübsches Näsli und sagte laut genug, daß der Chäpi und der Ruodi im Erker es hören mußten, zu der Schwester: »Pfüdi, der Bränntsludi! Rosi, geh' doch und hol' d' Räucherpfann'. 's ist gäng schüli nötig, daß man da mit Essig und Wachholder räuchert.«

Der Ruodi kam aus dem Erker in die Stube herein und bemühte sich, seine Schwägerin zornig anzusehen. Es wollte aber nicht recht gelingen. Er war unruhig und fahrig, und 's Vreneli meinte nachher, er sei gäng ganz »verdatteret« gewesen. Er zeigte seiner Frau an, daß er nach Meyringen hinab müßte, in »Geschäften« – er hatte jetzt immer solche Geschäfte bei der Hand – und wahrscheinlich erst morgen abend heimkommen würde. Bald darauf ging er mit dem Strobelchäpi fort.

Der folgende Tag – es war inzwischen Sommer geworden – war ein Sonntag. Sonnenbeglänzt, in der Hut seiner gewaltigen Berge, lag das Tal in jener sonntäglichen Ruhe, welche die ländliche Stille noch stiller macht. Über die ganze Landschaft war jene feierliche Stimmung hingehaucht, welche Uhlands Sonntagslied so wunderbar reproduziert hat. Rosi stand am offenen Fenster, und als jetzt ein sanfter Luftzug den Glockenklang vom Dorfe zum Bödeli herabbrachte, bereute sie es fast, daß sie nicht mit ihrem Mareili zur Kirche gegangen. Aber vor acht Tagen, als sie dort gewesen, hatten die Frauen, welche hinter ihr saßen, einander so seltsam in die Ohren gezischelt, und als sie nach dem Gottesdienst über den Kirchhof gegangen, hatte eine Stimme, welche sicherlich die der Jungfer Bibbeli war, vernehmlich genug hinter ihr drein gesagt: »Habt ihr g'seh', wie bleich 's Rosi ist? 's muß gäng aus sein mit der Herrlichkeit im Rütli.«

Es war aus damit, und wie sehr, machte der armen Frau das peinliche Nachdenken klar, in welches sie versenkt blieb, bis sie ihre aus der Kirche zurückkehrende Magd die Halde heraufkommen sah.

Was hatte denn das Mareili? Es war doch sonst eine ziemlich phlegmatische Person, die sich in nichts übereilte. Nun aber lief sie mit rotem Gesicht und wie scharfgeladen eilends den Abhang herauf, und als sie, durch das Gärtchen vor dem Hause daherkommend, die Hausfrau am Fenster erblickte, schoß sie alsbald ihre Ladung los, indem sie ausrief:

»Denket au, Frau, denket au!«

Das übrige ging für Rosis Ohren verloren, da 's Mareili derweil um die Hausecke eilte; aber gleich darauf platzte die Magd zur Stubentüre herein.

»Was hast du denn, Mareill? Du tust gäng, als ob's wo brännte.«

»Nei, nei, brennen tut's nit. Aber denket au, Frau, 's Strobelchäpis Elfi aus der Höllenschwärz ist in der Kille g'si. Herrgöttli, das ist 'ne Dam'!«

Das gute Mareili hatte nicht die entfernteste Vorstellung von der schrecklichen Gewißheit, welche diese Neuigkeit der armen Rosi verschaffte.

Es war ihr, als hätte der Blitz vor ihr in den Boden geschlagen.

Sie wankte auf ihren Füßen und mußte mit der Hand hinter sich greifen, um sich am Tischrand zu halten.

»Was? Das Schwarzelsi?« brachte sie mühsam hervor, denn der Name wollte sie ersticken.

»Ahsograd' 's Schwarzelsi. Nei, was di alles an sich umme g'hängt hat! Ma cha nit g'nug luege. 's ist 'ne wahre Pracht!«

»Wirkli?« entgegnete Rosi tonlos. »Aber weißt, Mareili, 's ist jetzt hohe Zeit, z' Imbiß z' kochen.«

Es ist merkwürdig, daß der Mensch oft gerade in solchen Augenblicken, wo sein ganzes Wesen in den Grundfesten erschüttert ist, nach dem allergewöhnlichsten als einem Anhaltspunkte greift. Ein tiefer Menschenkenner und mehr noch Frauenkenner hat gesagt, eine Frau sei imstande, in demselben Augenblicke, wo sie den Bankrott ihres Mannes erfahren, über die Magd wütend zu werden, welche einen Suppenteller zerbrochen habe. Allerdings, aber es möchte sich doch fragen, ob der bankrotte Suppenteller nicht nur der zufällig gegebene Gegenstand sei, an welchem sich der Jammer über den größeren Bankbruch auslassen kann. Was Rosi angeht, so war ihr die Vorstellung des Kochens von dem Instinkt eingegeben, ihre Magd nicht sehen zu lassen, wie sie litt, 's Mareili hatte aber auch Augen im Kopfe und sagte daher:

»Ich mein', Frau, Ihr müsset krank sein. Ihr seht gäng so schüli übel aus. Ja, da will ich waidli e kräftig's Süppli kochen.«

Als die Magd hinaus war, brach die arme Frau nicht in Tränen aus. Der wohltätige Quell in ihrer Brust hatte sich erschöpft; sie konnte nicht mehr weinen und murmelte nur vor sich hin:

»Also darum hat er gestern so eilends nach Meyringen hinab gemußt? Das war das wichtige Geschäft! Das Schwarzelsi konnte ja nur von dorther kommen. Er hat sie abgeholt. Und wo ist er jetzt? Aber wo wird er sein? In der Höllenschwärz! Er war ja die letzte Zeit her schon halbe Tage lang dort. – O, Ruodi, das hab' ich doch nicht um dich verdient, das nicht!«

Ja, ein Blitz war vor ihr niedergefahren, und sein grelles Licht zeigte ihr die ganze Trostlosigkeit ihrer Lage.

Dem Blitze pflegt aber der Donner zu folgen. Er zögerte zwar ungewöhnlich lange, mehrere Stunden, allein er blieb doch nicht aus. Die Zytig vo Windgellen ließ ihn los.

Wie dehnte sich der unglückselige Nachmittag hin! Wollte es denn heute gar nicht Abend werden? Einmal war Rosi schon auf dem Wege zur Zwihl, aber sie kehrte wieder um. Sie konnte sich unmöglich vor jemand sehen lassen, selbst vor der Schwester, selbst vor der Mutter nicht. Sie schämte sich bis in die tiefste Seele hinein, für ihren Mann, für sich selbst, daß er, ihr Ruodi, ein solcher geworden.

Unstet trieb es sie im Hause umher, und hinauszugehen fürchtete sie sich. Es konnten ja Leute vorbeikommen und sie ansehen, um ihrer Schmach willen. Um ihrer Schmach willen? Ja! Seine Ehre war ja auch die ihrige gewesen. O, noch immer fühlte sich die Unglückliche in allen Fibern ihrer Seele mit dem verlorenen Manne verwachsen.

Sie trat endlich in den Erker, wo in glücklicher Zeit ihr Ruodi sonst um diese Stunde oft mit ihr und dem Vreneli gesessen und den Schwestern aus seinen Büchern vorgelesen hatte. Daran dachte sie, als sie aufs Geratewohl ein Buch von dem Brett herunterlangte. Es war der Tell, und da steckte noch das Papierzeichen bei der Stelle, die Ruodi zuletzt vorgelesen. Wie lange war es her, und was lag alles zwischen damals und heute! Nur ein Jahr, und doch soviel Enttäuschung und Kummer! Sie schlug mechanisch das Buch auf, und mechanisch überlief ihr Auge die Stelle, wo Ruodi damals stehen geblieben, jene wunderbare Szene auf dem Rütli, die zu dem Besten gehört, was je von Menschenhand niedergeschrieben wurde. Aber die von Unruhe verzehrte Seele der armen Rosi hatte jetzt weder Sinn noch Verständnis dafür. Nur der Name des Schauplatzes im Schauspiel erregte ihr Interesse. Das Rütli! Hatte Ruodi, als er sie in jener Nacht, wo sie sich ganz ihm zu eigen gegeben, in sein Haus führte, ihr nicht auch von einem Rütlibund gesprochen, den sie mitsammen haben und halten wollten in Freud' und Leid? Die Freuden hatte er mit ihr geteilt, das Leid überließ er ihr allein.

Das Buch entsank ihren Händen, die wie im Fieber zitterten.

Sie durchflog im Geiste die ganze Zeit von jener Nacht an bis zum heutigen Tag. Sie mußte doch irgendwie gefehlt, irgendwas verschuldet haben, daß sich die Liebe Ruodis von ihr hatte abwenden können. Es konnte nicht anders sein! Sie peinigte sich mit dieser Untersuchung, bis ihr der kalte Schweiß auf die Stirne trat und –

»Gott grüetzi, Frau Rosi! Nei au, so andächtig? Ging neime grad' da vorbei und dacht' mir, wollt' doch mal einsprechen, z' luegen, wie's dem junge Fraueli ging' in diesen Zytläuften.«

Rosi schrak auf. Sie hatte die Türe nicht gehen hören, und da stand sie nun schon mitten in der Stube, die ehrsame Jungfer Bibbeli, in der ganzen Länge ihrer dürren Jungferschaft, mit Bart und allem.

»Nehmet Platz, Jungfer Bibbeli, nehmet Platz.« sagte Rosi, sich gewaltsam fassend.

»O, gar z' gütig, gar z' gütig! Bin grad' nit müd« – das war richtig, denn auf Geschäftsgängen begriffen, kannte die Zeitung von Windgellen keine Müdigkeit – »aber loset, Frau Rosi, ich komm' eigetli nit ohne Ursach'.«

Die arme junge Frau zitterte, denn sie wußte schon, was kommen würde, wenigstens etwas davon. Aber Bartbibbeli täuschte zunächst ihre Besorgnis.

»Ja, was ich sagen wollt',« fuhr die Zytig fort. »Ihr wisset doch, daß ma seit, es gab' nummeeinisch Krieg?«

»Krieg?« versetzte Rosi, leichter aufatmend. »Nein, ich hört' nüd davon.«

»Ja, lueget, ma seit, der Bonapartle – nit der alt', wisset Ihr? aber der jung', der wöll' gäng Krieg afäh von wege des Kaisers Tochter vo Östrych. Die soll neime e gar niedlinette Italeri sy und hätt' den Bonapartle nit wolle zum Ma näh, und drum syg er jetzt schüli bös und wöll' Krieg. Und 's muß ebbis dra sy, 's muß ebbis dra sy. Vo wege was sonst müßtet ensere Scharfschützen in Dienst, i 's Übigslager ge Thun abe? Der Joggeli, wisset Ihr? mein jüngster Bruder, der ist au by de Scharfschütze und, Bibbeli, seit er vorig, Bibbeli, gang doch gäng ins Rütli abe und frag' den Ruodi, der ja Feldwaibel ist by euserer Kompagnie, ob er gäng scho morgen z' Imbig oder erst übermorgen in der Früh' sich ge Thun auf den Weg mach'. Der Joggeli meint neime, sie könnten mitsammen marschieren.«

»Da bin ich überfragt, Jungfer Bibbeli, und der Ruodi ist nit z' Haus,« versetzte Rosi, die sich schämte, merken zu lassen, daß ihr von seiten ihres Mannes noch gar keine Mitteilung geworden, daß er in Dienst müßte.

»So? Ist er nit z' Haus?« fragte Jungfer Bibbeli, ihre Flöte mit einem kühnen Übergang vom Präludium zum Hauptstück umstimmend.

»Nein,« sagte Rosi kalt, fest entschlossen, der Bärtigen keinen Vorteil einzuräumen.

»Ung'schickt das! Ich sollt' gäng dem Joggeli B'richt bringen. Der Ruodi ist also noch nit vo Meyringen heimkommen?«

Rosi konnte nicht wissen, daß sie in eine Falle ginge, wenn sie die Frage verneinte, wie sie wirklich tat.

»Ei, ei, das ist neime doch recht wunderli!«

»Wunderli? Was?«

»Daß die Leut' so böse Mäuler haben. Nit drum, man muß ihnen gäng nit alles glauben.«

»Ja, da habt Ihr sehr recht.«

»Nit wahr? Lueget, da ist der jung' Schurbauer, der lang' Toni, wisset Ihr, den Ihr hättet heiraten sollen und der hernach 's Bumpibauers Kathri vo Guttannen g'no hät – 's Kathri hät d' Hosen an, seit ma, aber nit drum, der Toni ist e Lappi, der so 'ne Wybervolk gäng nötig hat – ja, was ich sagen wollt', der jung' Schurbauer der hät den Mannen heut' vormittag auf dem Kirchhof verzählt, 's syg scho Nacht g'si, als das Wägeli, auf dem 's Strobelchäpis Elsi gestern bis zur Schur syg g'fahre – wisset Ihr, bei der Schur geht's rechter Hand uffe zur Höllenschwärz – ja, kurzum, als das Wägeli bei der Schur stillhielt, da syg 's Schwarzelsi abstyge und nit 's Elsi allein und neime auch nit 's Elsi und der Strobelchäpi allein und nummeeinisch auch nit 's Elsi und der Strobelchäpi und der Ruodi allein –«

Rost parierte den Stoß oder verheimlichte wenigstens die Wunde, welche derselbe schlug.

»Aber, liebe Jungfer Bibbeli,« sagte sie, »Ihr redet von einem Wägeli, und doch laßt Ihr von demselben einen ganzen Haufen von Leuten absteigen, der kaum auf einem Wagen Platz gehabt hätte.«

»Ha, ha, ha! Ihr machet 'nen G'spaß aus der Sach'? Recht so! Hab' ich doch all'zyt g'seit, 's Rosi im Bödeli syg die g'schydest und wackerst Frau centum, die sich in d' Welt, z' schicken wüßt'. Aber loset, was ich neime von dem Abstyge g'seit, ist nit so wörtli z' näh. Der Ruodi und der Chäpi – hat der jung' Schurbauer verzählt – gingen eigetli neben dem Wägeli her und war auf selbigem nur 's Elsi und noch ebbis so Kleines, ebbis so Kleines, daß es gäng gar nit der Red' wert.«

Der Stoß saß tief in dem Herzen der armen Frau. Darauf war sie doch nicht vorbereitet gewesen. Ihre gesunde Gebirgsnatur schützte sie zwar vor einer städtischen Ohnmacht, aber es flimmerte ihr doch vor den Augen, und sie wurde bleich wie ein Sterbender. Es starb auch in diesem schrecklichen Augenblick etwas in ihr, der letzte Funken von Achtung vor ihrem Gatten.

Alte Jungfern vom Schlage der Zeitung von Windgellen haben zwar an der Stelle des Herzens nur eine sohllederne Kapsel, gefüllt mit Neid und Klatsch; aber trotzdem vermochten Bibbelis dünne Lippen nicht zu lächeln, als sie die unglückliche Frau so zerschmettert sich gegenübersitzen sah. Sie empfand sogar etwas wie Mitleid, und so sagte sie tröstend, freilich in der Weise von Hiobs Tröstern: »Ich glaub's neime nit, Rosi, das von dem kleinen Dingli. Der jung' Schurbauer hät's au gar nit g'seh', er hät's gäng nur brieggen g'hört. – Ja, aber was ich sagen wollt', 's ist nummeeinisch recht schad', daß Ihr heut' nit in der Kille g'si seid. Herrgöttli, die Pracht und Glori, wie 's Schwarzelsi ufzogen ist! Wer hätt' vor e paar Jährli glaubt, daß der russig Nickel eines Tags so daher kommen würd'? Urche Syde und Sammet am ganzen Lyb! Und es Hütli hät's ufg'ha – nei au, es Hütli mit Blume und Federe, und 's ist ihm nur so hinten am Kopf g'hange wie es Sommervögeli. So tragen's jetzt neime die fürnehmen Wybervölker. Und es guldig's Uhrli hät's, nei au, was für es glitzerig's Ührli, und e guldige Kette dra, so lang. Und in den Ohren hät's Dingerli, die funkle, 's ist nit z'sage. Und als es syne ankegähle Handschuh' uszoge hät, sind seine Finger voll vo Ringe g'si – 'ne wahre Pracht! Und da vorne uf der Brust häts ein Fürspann g'ha, Brotschg, mein' i, g'heißet's, au ganz guldig und so groß wie es Tellerli. Und e Unterjüppe, nei au, was für e Unterjüppe! So 'ne Karline oder Kirline oder wie das fürnehm Ketzersg'stellaschi g'heißt. Der Rock ist ihr drum nach alle Syte so usseg' stande, wie wenn es in 'ner Glock' drin stund' – ja, ahsograd, wie wenn es die groß' Glock' vo euserem Killeturm als Unterjüppe anhätt'. – Und es Schnäbeli hät's, e Müli, wie 'ne Mühlrädli, und reden tut's wie es Buch, ahsograd' wie es Buch. Säg' i da zu'n ihm, als ich mit ihm den Killeweg abe ging: ›Loset, Elfi, i weiß gäng nit, ob ich Euch Madamm oder Jumpser betitle muß – Ihr seid ja in der Fremde ebbis recht's fürnehm's worden.‹ – ›Ja,‹ seit es druff und blinzelt mich mit seine schwarze Dundersäugli an, als wollt's mich verstechen, ›ja, Jumpfer Bibbeli, Ihr hättet auch beizeiten in die Fremde gehen sollen; Ihr wäret dann daheim nicht so verschimmelt.‹ – Denket au, Frau Rosi, verschimmelt, ja so hät's g'seit – das Rotzäffli, das! Und als es merkt', daß die dumme Wyber und Meitschi afinge z' kichere, seit das unverschämt' Ding no weiter zu mir: ›'s ist aber immer noch Zeit, Jumpfer Bibbeli, und könntet Ihr's noch jetzt in der Fremde zu was rechtem bringen. Ihr dürftet nur Euren Bart – ja, so seit es – Euren Bart für Geld sehen lassen‹ – Hat man je so ebbis g'hört? Ich meint', der Schlag müss' mi treffen. Und die Wyber und die Meitschi lachten gäng hellauf; aber ich will's ihnen schon werden lassen, ich! Ich bin e gutmütig's Tierli, aber wenn ma mir's z' arg macht, so weiß i mi au z' wehren. Drum hab' ich au g'seit: ›Loset, Madamm oder Jumpfer Elfi, was ich hab' oder nit hab', das darf ich alles mit Ehren sehen lassen. Ihr aber nit, mein' i. Oder wie ist's denn mit dem Dingli, das gestern abend so briegget hat, drunten bei der Schur, als Ihr da vom Wägeli g'stiege?‹ Dazu hät das boshaftig Äffli nur g'lachet; denn 's ist neime grad' noch so e boshaftig's Äffli wie vor Zyten, das ist sicher und g'wiß. – Und drum ist au g'wiß und wahrli nüd an der Sach' mit dem Ruodi. So e Ma und so es Glüntli, wie kämen die z' sämme? Nei, nei! D' Leut' haben so böse Müler, und 's wird so schüli viel g'logen in der Welt. Weiß der Tüfel, woher sie's hat, das Dingli, was der jung' Schurbaur gestern z' Nacht so brieggen g'hört hat. Nei, Rosi, 's geht den Ruodi gar nüd an, ich glaub's sicherli. Dem Züfimelcher drüben z' Hasli im Grund, der scho vor etlicher Zyt so ebbis g'munkelt hät, dem hät er ja gäng 's Mul g'stopfet – mit Feuflibere, seit ma. Ich glaub's aber au nit, nei, wahrli nit. 'S ist g'wiß alles verstunken und verlogen.«

Während dieser Redestrom sich ergoß, unaufhaltsam wie der Wassersturz drüben bei der Teufelskanzel, hatte die arme Rosi Zeit gehabt, sich wieder zu fassen. Das Ärgste war überstanden, meinte sie, weil der Schmerz der Überraschung, welcher wie ein glühendes Eisen ihr in die Seele gedrungen, sich zur Resignation verkühlt hatte.

»Ja,« sagte sie nachdrücklich, indem sie aufstand und das Bartbibbeli fest ansah, »ja, alles ist verstunken und verlogen! Das könnt Ihr allen Leuten sagen, allen! Und loset, wenn ich auch den Leuten nicht vor die Mäuler sitzen kann, so kenn' ich doch meinen Ruodi zu gut, als daß ich auch nur es Tüpfeli von dem glauben möcht', was die bösen Mäuler über ihn schwätzen.«


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