Johannes Scherr
Rosi Zurflüh
Johannes Scherr

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Siebentes Kapitel. Schwüle.

Das Leben ging in dem Hochtale von Windgellen wieder seinen altgewohnten Gang. Doch trat bald ein für die Bewohner des Rütli und mittelbar auch für die der Zwihl nicht unwichtiger Zwischenfall ein.

Unser Tal mit seinen ragenden Bergkolossen, seinem Gletscher, seinem Seespiegel, seinen bizarren Felsbildungen und seinen stäubenden Wasserfällen ist für jene Rasse von ungefiederten Zweifüßlern, welche in der Zoologie unter genus: homo, species: Tourist Linn. rubriziert sind und Sommers das Berner Oberland, den Vierwaldstätter und Genfer See unsicher machen, noch nicht »entdeckt«. Wenigstens steht es noch nicht im Bädeker oder Tschudi oder Berlepsch. Auch nicht im Murray, und aus letzterem Umstand erklärt es sich hinlänglich, warum sich hier noch keins jener Beefeatersgesichter, welche der darauf eingefrorene anglikanische Heuchlerdünkel so widerwärtig macht, hatte sehen lassen. Wenn es wahr ist – und es ist so wahr wie nur irgend eine »brutale« Tatsache – daß das Touristenwesen auf den schweizerischen Volkscharakter nicht sehr moralisierend gewirkt habe und fortwährend wirke, so muß auf der andern Seite auch zugegeben weiden, dasselbe habe die poetische Begabung der Schweizer, mit der es, wie Unkundige fälschlich meinen, nicht eben weit her sei, höchst bedeutend angeregt und entwickelt. Phantasie ist die Grundkraft dichterischer Tätigkeit, das steht fest. Nun wohl, niemand wird leugnen wollen, daß die Einbildungskraft der Schweizer bei dem löblichen Bestreben, die Gastlichkeit ihres Landes den Fremden darzulegen, zu einem wahrhaft bestaunenswerten Reichtum an Hilfsmitteln aller Art sich entfaltet habe. Die Wirte und andere Besitzer von Wasserfällen, Gletscheransichten, dito von Felswänden mit obligaten Echos, haben sich zu einem Virtuosentum hinaufästhetisiert, dessen Spiel auf der G(eld)-Saite das eines Paganini unendlich weit hinter sich läßt. Und was vollends jene edle freie Kunst, die achte, anlangt, welche in dem prosaischen Lexikon der Polizei unter dem Buchstaben B eingereiht ist, so wird, wer die paradiesische Tour von Meyringen über Rosenlaui, Grindelwald, Wengernalp und Lauterbrunnen nach Interlaken oder umgekehrt ein- oder ein paarmal gemacht, nicht anstehen, zu bekennen, daß auf diesem klassischen Boden die Idee des Bettels voll und ganz und in wahrhaft bezaubernder Mannigfaltigkeit zur künstlerischen Erscheinung gekommen sei. Die Verehrer der guten alten frommen Zeit der Romantik haben es zu beklagen, daß die Bewohner der Ost- und Nordschweiz des prosaischen Dafürhaltens sind, die achte der freien Künste gehöre nicht notwendig zum Leben, ja, daß sie es auf dem Wege privatvereinlicher Tätigkeit in mehreren Kantonen glücklich dahin gebracht, dieselbe gänzlich abzutun. Du kannst da in manchen Gegenden tagelang reisen, ohne auch nur einmal angefochten zu werden, woraus wieder klärlich erhellt, daß die Schweiz der Herd der Revolution ist.

Ewig sich erneuernd und unbestimmbar buntscheckig wie die Menschheit selbst ist das Gebiet der menschlichen Narrheit. Weder Sebastian Brant noch Erasmus von Rotterdam noch alle die Autoren des Anno 1575 in furchtbarem Folio gedruckten Theatrum diabolorum haben sich träumen lassen, daß am Ausgange des 18. Jahrhunderts eines schönen Tages der dänische Poet Baggesen an den Höllenschlund des Handeckfalls sich hinsetzen und in das betäubende Gewühl und Gedonner der stürzenden Aare hinein die Flöte blasen würde, um so seiner Naturbegeisterung Ausdruck zu verleihen. In unsern eigenen Tagen aber kam ein deutscher Freiherr auf den sublimen Einfall, in einer der trostlosesten Lüneburgerflächen, wo seine Güter lagen, in der unmittelbaren Nähe einer großen norddeutschen Haupt- und Residenzstadt, sich eine kleine Schweiz anzulegen.

Wunderlicher Zusammenhang der menschlichen Dinge! Der Umstand, daß ein norddeutscher Junker, der mit viel Narrheit und viel Geld behaftet war, auf die Idee verfiel, in einer Art Raritätenkabinett müßte sich's hübsch wohnen lassen, sollte zerstörungsmächtig in das Leben der schönen armen Rosi Zurflüh eingreifen.

In seiner Art ein Mann von Tätigkeitstrieb und Energie, ruhte der Freiherr von der Schnarrbitz nicht, bis er mittels Aufwandes von viel Zeit und Geld das zustande gebracht hatte, was er seine Berge und seinen See nannte; erstere zwei Erdaufwürfe, die sich aus dem bräunlichen Sandboden der Baronie Schnarrbitz erhoben wie die zwei Höcker auf dem Rücken eines Kamels, letzterer ein schwarzgrüner Tümpel, welcher einer in denselben versetzten unglücklichen Bergforelle wie ein Dantescher Inferno hätte vorkommen müssen. Ein ganzer Steinbruch wurde geleert, um diese »Schweiz« mit der gehörigen Anzahl von Felspartien auszustaffieren. Die Kiefern gaben ein leidliches Surrogat für Arven ab, und mittels eines starken Verbrauchs von flüssiger Ölfarbe wurden schwarze Geißböcke in Steinböcke und grauweiße Ziegen in Gemsen umgeschaffen. An Adlern ist bekanntlich in den Gegenden, wo der von der Schnarrbitz nach Kräften Patriarchalismus trieb, durchaus kein Mangel; auch lassen sich diese edlen Vögel dort so leicht fangen und zähmen, daß schier jeder anständige Mensch vom Militär und Zivil einen mit sich herumträgt. Dagegen hatte der Freiherr mit der Erstellung von Wasserfällen eine Not, die, ganz entgegen dem Sprichwort, kein Eisen und kein Silber zu brechen vermochte. Ein mitfühlender Freund riet unserem Liebhaber der Alpennatur, mit der Intendanz der Oper einen Mietkontrakt abzuschließen, um zeitweilig die bekannten Kaskaden aus dem Freischütz und anderen Opern, Dekorateur und Maschinisten inbegriffen, auf sein Gut zu übersiedeln. Allein Herr von der Schnarrbitz wies diesen Vorschlag mit geziemender Entrüstung zurück. Er bildete sich nämlich ein, zu der bekannten kleinen, aber großmächtigen Partei zu gehören, welche so viel von »organischer Entwicklung«, von »naturwüchsigem Leben in Staat und Kirche« redete und verlangte, daß jeder Polizeidiener, bevor er eine recht saftige Brutalität zur Ausführung brächte, sich mit Weihwasser wüsche. Kein Wunder also, daß unser Freiherr in seinem »Gebirge« nur naturwüchsiges, organisch fallendes Wasser haben wollte. Wenn er des Reichenbachs, des Gießbachs, der Pissebache, des Rheinfalls, der Reuß- und Aarefälle gedachte, begann der fünfzigjährige Knabe – viele meinten, er sei weitaus ein sechzigjähriger – unbändig zu schwärmen. Alle die genannten Wasserfälle rauschten, während er schlief, mit Donnergetöse in seinen Ohren und gingen ihm während des Wachens unaufhörlich im Kopfe herum. Da war er denn nahe daran, das zu werden, für was ihn die unermeßliche Mehrheit seiner Bekannten schon längst hielt. Es verbreitete sich das Gerücht, der edle Freiherr sitze stundenlang in seinem halbausgebauten, zwischen der »Jungfrau« und dem »Schreckhorn« – die beschriebenen beiden Kamelhöcker – gelegenen Schweizerhause, starre melancholisch auf seinen »See« hinab, fahre dann oft wie rasend auf und schreie, als ob er vor Durst lechzte: »Wasser! Wasser! Die Baronie Schnarrbitz für einen organischen Wasserfall!« Unter so bewandten Umständen war es ganz in der Ordnung, daß aus dem hintersten Pommern, wo dem kinderlosen Hagestolz zwei Neffen saßen, deren Grundbesitz gerade so kurz wie ihr Stammbaum lang war, die Anfrage bei den Behörden einlangte, ob es nicht im Interesse der geheiligten Sache von Thron und Altar wäre, den teuren Oheim für wahnsinnig zu erklären oder wenigstens vorläufig unter Kuratel zu stellen. Es heißt aber bekanntlich in jenen gesegneten Gegenden: »Wir leben in einem freien Lande« – und in der einem »Stück beschriebenen Papiers« (alias Verfassungsurkunde) voranstehenden Erklärung der Herrenrechte und der Volkspflichten lautet ein Paragraph ausdrücklich: »Jeder, der Geld hat, ist berechtigt, ein Privatnarr zu sein, falls er nur im übrigen ein loyaler Untertan ist.« Man überließ also den von der Schnarrbitz ungestört seiner Wassersucht, deren Nichtbefriedigung dem guten Manne ums Haar seine ganze Alpenschöpfung verleidet hätte. Seine Lust daran kehrte jedoch zurück, als das Schweizerhaus, genau im Stil der stattlichen Gehöfte im Emmen- oder Haslital aufgeführt, fertig dastand.

Als es an die Ausrüstung und Möblierung des Innern ging, kam der Freiherr täglich aus der Stadt gefahren, um den Fortgang der Arbeiten zu beaufsichtigen. Er war dabei immer von einer jungen Dame begleitet, welche ebenfalls großes Interesse für die ganze schweizerische Anlage bezeugte und nach deren Angaben vielfach verfahren wurde. Augenscheinlich übte diese junge Dame einen bedeutenden Einfluß auf den Gebieter der Schnarrbitz, in dessen Hause sie seit einiger Zeit unter dem Titel einer Vorleserin lebte. Ein gewisses romantisches Halbdunkel umgab ihre hübsche Persönlichkeit. Der Freiherr, hieß es, habe sie von einer seiner Reisen mit heimgebracht. Andere wollten mit Bestimmtheit wissen, sie sei eine natürliche Tochter des »alten Narren«, die er jetzt zu sich genommen. Dritte glaubten sich zu erinnern, die junge Dame in der vorhergehenden Saison unter dem Ballettkorps, vierte, sie anderswo in noch weniger tugendhaften Umgebungen gesehen zu haben. Hausfreunde des Freiherrn waren des Dafürhaltens, die Mamsell Vorleserin vereinige die Manieren einer Lorette aufs glücklichste mit der Sprache einer Soubrette zweiten Ranges, im übrigen sei sie ein allerliebstes Persönchen von der niedlichsten »Verve«.

Wie dem sei, der von der Schnarrbitz wollte seine schweizerische Schöpfung bis ins kleinste Detail hinein vollendet haben. Aus diesem Grunde reiste er sehr frühzeitig im Sommer nach der Schweiz, um an Ort und Stelle alle nur immer möglichen raren Sachen von nationalem Geschmack einzukaufen. Zu Meyringen im Gasthaus zum wilden Mann sah er in dem großen Glasschranke, welcher im Speisesaal steht und jederzeit eine reiche Sammlung von Holzschnitzwerken aufzeigt, mit Bewunderung eine Gruppe von Gemsen, eine Arbeit, welche Ruodi Zurflüh im letzten Winter zustande gebracht. Er kaufte sie sogleich und erkundigte sich mit Anteil nach dem trefflichen Holzschneider, von welchem er, wie es schien, schon gehört haben mußte. Am folgenden Tage machte er sich nach dem Tale von Windgellen auf den Weg. Seine Erscheinung im blauen Fuchs war ein Ereignis, denn das Tal ist, wie schon erwähnt worden, für Touristen noch nicht entdeckt.

Nachdem er das Gemüt der Wirtin durch hier oben unerhörte und unerhörbare Wünsche inbetreff des von ihm bestellten Essens in den Zustand gelinder Verzweiflung versetzt hatte, ließ er sich zum Rütli führen, stellte, im Bödeli angelangt, eine unliebsame Vergleichung an zwischen dem dortigen See und seinem Daheim, den Umstand verwünschend, daß der erstere nicht transportabel war. Die Rosi, welche er in dem Gärtchen vor dem Hause traf, brachte er als Mann von Welt durch das sehr herablassende Kompliment zum Erröten und Lächeln, welches er der jungen Frau über ihre »merkwürdig feine Taille« und ihre »exquisit schönen« Augen machte. Er besichtigte dann die Schnitzarbeiten, welche der Ruodi gerade vorrätig hatte, und kaufte sie samt und sonders, ohne viel zu markten. Hierauf lud er gar den »Herrn Künstler« ein, im blauen Fuchs mit ihm zu speisen, beifügend, er hätte ein wichtiges Geschäft mit ihm zu besprechen. Natürlich wurde diese »Ehre« angenommen, und Rosi holte, voll Freude über die Anerkennung, welche ihrem Manne widerfuhr, seinen Sonntagsrock herbei.

Erst gegen Abend zu kam Ruodi zurück, begleitet von einem Diener in Livree, welcher die eingekauften Sachen in den blauen Fuchs abholte. Als er fort war, sagte Ruodi in freudiger Erregung zu seiner Frau:

»Denk' dir, Rosi, der fremd' Herr – und ein großer Herr muß er sein, denn er hat außer dem Bedienten, den du vorhin gesehen, noch einen zweiten bei sich, der einen schwarzen Frack anhat, als wär' er gäng selber ein Herr – ja, der fremd' Herr hat mir ein Geschäft angetragen, das gäng viel Geld einbringen muß. Er hat sich draußen in Dütschland, in seinem Heime, ein Schwyzerhus gebaut, gäng ein recht's Schwyzerhus, und drin ist, sagt er, ein Saal, und den möcht' er nummeeinisch mit allerhand Schnitzwerk gar reich und schön ausziert haben. Den Saal soll ich ihm machen, so wie ich's für recht und gattig fänd'. Er müßt' ganz schweizerisch sein, sagt er, Derhalb soll ich mit ihm ins Dütschland und soll unter unsern besten Holzschneidern hier herum zwei oder drei Gehilfen auslesen, ganz, wie ich's für gut fänd', und die sollten auch mit. In einem halben Jährli oder so wär' die Sach' g'machet, so viel könnt' ich aus seinen Reden schon abnehmen. Bezahlen will er gäng alles so splendid, daß ich z'erst glaubte, er spaße nur. Doch er blieb dabei und will zu meiner Sicherheit gäng alles schriftli mache. Aber ich müßt' mich schnell entschließen, denn 's pressiert dem Ma gar schüli, und müßt' ihn schon nach drei Tagen z' Bern im Bernerhof treffen, um von da mit ihm über Basel ins Dütschland z' reisen. Was meinst, Rosi?«

Die junge Frau war überrascht und schwieg eine Weile nachdenklich. Sie merkte wohl, daß Ruodi höchlich für das ihm gemachte Anerbieten eingenommen sei, welches seinem Künstlerbewußtsein – er besaß wirklich ein solches – und seinem Erwerbssinn gleichermaßen schmeichelte. Was den letztern betraf, so genügt es, zu sagen, daß Ruodi ein Schweizer war. Ja, auch Rosi ihrerseits war hinlänglich Schweizerin, um die in Aussicht gestellten Vorteile des Unternehmens nach Gebühr zu würdigen. Aber – aber – ihr Ruodi sollte von ihr fort? Für ein ganzes halbes Jahr und vielleicht noch für länger? Rosis Erwerbssinn verhielt sich zu ihrer Liebe wie eins zu hundert, zu tausend. Aber ihr Mann freute sich offenbar ganz außerordentlich über den ihm gemachten Vorschlag. Konnte er sie so leicht verlassen? Für ein halbes Jahr und vielleicht für noch länger? Nein, leicht würde ihm das nicht: sie glaubte, sie wußte es. Und doch wollte er gehen? Rosi hatte das Geistigere, das Künstlerische in Ruodis Wesen von Anfang an instinktmäßig herausgefunden, und so fühlte sie auch jetzt gar wohl, wie lockend für ihn eine noch dazu so gewinnreiche Gelegenheit sein müßte, seine Kunst einmal in ihrem ganzen Umfange zu zeigen. Und doch wollte sich mit alledem ein geheimes Bangen, welches die junge Frau vor dieser Reise »ins Dütschland« empfand, nicht beschwichtigen lassen. So, zwischen Für und Wider schwankend, setzte sie der Frage ihres Mannes diese entgegen:

»Und du könntest nur so von mir fortgehen, Ruodi?«

»Ja so, Rösli? Lueg', an das hab' ich, by Gott, gar nicht gedacht!« versetzte er aufrichtig, denn in der Frage Rosis lag ein Ton, der ihm das Herz bewegte. Und er hatte auch wirklich nicht daran gedacht oder wenigstens die Vorstellung einer zeitweiligen Trennung von seiner Frau nicht weiter in Erwägung genommen. Es rollten in seinem Blut einige Teilchen Künstlereitelkeit, ja, ja, und auch etliche Teilchen Künstlerleichtsinn, wenigstens zuzeiten. Jenen wie diesen hatte es bislang an Anregung gefehlt. Nun eine solche erfolgt war, rührten sie sich.

Der Erzähler dieser Geschichte aus den Bergen hat einen erfahrenen und daher etwas schwarzsichtigen Menschenkenner zum Freunde, welcher zu sagen pflegt, alle menschliche Tugend reduziere sich, genau angesehen, auf Mangel an Veranlassung und Gelegenheit zum Sündigen. Das ist, so ohne Einschränkung hingestellt, wohl mehr pessimistisch als wahr; aber auf die Durchschnittszahl der Menschen dürfte es doch so ziemlich passen.

»Weißt du was, Rosi?« fuhr Ruodi fort. »Es wird sich gäng wohl machen lassen, daß du mit mir gehst. Denk' nur, wie wir da mitsammen die Welt sehen könnten.«

»Nein, nein, Ruodi, das geht nit. Man kann Haus und Heime nit nur so stehen lassen, und was sollt' ich da draußen im Dütschland tun? Ich weiß auch gar nit, wie man leben kann, wo's keine Berg' gibt.«

»Ja, ohne Heimweh wird's gäng auch bei mir nit abgehen, aber ich hätt' g'wiß noch mehr Heimweh nach dir als nach eusere Berg'. Doch die ganz' Sach' währt ja nit lang und, lueg', 's wird gäng ein grüsli groß Sümmli einbringen.«

»Aber los', Ruodi, hast ja ohne das dein gut's Auskommen. Weißt, die Brief in der Lad' im Hinterstübli sind noch alle da und sind sogar zwei neue dazu gekommen, und von der Zwihl muß uns ja zu seiner Zeit – die aber noch ferne, ferne sein mag! – auch ein schöner Anteil zufallen. O, wir haben, Gott sei Dank, was wir brauchen, und noch mehr, viel mehr; ebbis anders wär's freilich, wenn wir –«

Sie brach erschrocken ab und verschluckte den Schluß, um ihren Mann nicht zu betrüben. In seiner Stimmung lag es aber heute nicht, den heikeln Punkt unberührt zu lassen.

»Wenn wir Kinder hätten, willst du sagen, lieb's Rösli? Jetzt lueg', das ist's gäng grad'! 's ist nummeeinisch noch nit aller Tag' Abend, noch lang nit. Weißt, dein' Mutter hat dich auch erst vier Jahr' nach ihrer Hochzeit zur Welt bracht als ihr erstes Kind.«

»Ja, das ist wahr, Ruodi, das ist wahr, und sie tröstet mich drum auch allfort.«

»Siehst du, lieb's Wybli, siehst du? Nur Geduld, nur Geduld! Ich bin g'wiß, das ich 's Wiegli nit umsonst g'machet hab', und daß du mir nit eins und zwei, aber ein voll's Halbdutzend Kinder schenken wirst, Chnabe und Chinde, und wenn sie nur halb so schön und gut sind wie mein' Rosi, so werd' ich der glücklichst' Vater sein centum, und wenn sie dann da sind, so wird ihr Müetti gäng auch froh sein, daß ihr Vater beizeiten drauf aus ist g'si, 'z sorgen, daß für die liebe Dingli ein hübsch Vermögeli« vorhanden sei.«

Der Schlaukopf! Aber seine Schlauheit kam aus dem Herzen, und gerade deshalb wirkte sie so überzeugend auf Rosi, daß diese ihren Widerstand aufgab. Sie verlangte nur noch, daß Ruodi in betreff seines Vorhabens die Mutter um Rat fragen sollte, und dazu war er ganz willig, weil er zum voraus wußte, daß die lebenskluge Zwihlbäurin, welche rüstig und umsichtig nicht nur auf die Erhaltung, sondern auch auf die Mehrung der Erbschaft ihrer Töchter bedacht war, seine Beweggründe, den Vorschlag des fremden Herrn anzunehmen, billigen würde.

Das geschah denn auch, wiewohl so ganz erst dann, als Ruodi seiner Schwiegermutter den schriftlichen Vertrag vorlegen konnte, welchen er im Laufe des folgenden Tages im blauen Fuchs mit dem fremden Herrn vereinbart hatte. Nein, so 'nen Vorteil, so 'ne gattig's G'schäftli dürfe man sich nicht entgehen lassen – potz Tusig, nein! meinte die Zwihlbäurin, 's wär' 'ne Sünd', ahsograd' 'ne Sünd'. Der Ruodi soll gäng in Gottes Namen mit dem fürnehmen Herrn, der d' Wirtin im blauen Fuchs von wegen sei'm Essen so schüli drangsaliert habe – nit drum, die Wirtin syg auch keine von denen, die wüßten, was kochen heiße – ins Dütschland gehen. Was syg es auch, wenn e Ma nummeeinisch für e halb's Jährli von Heime fort war'? Nit der Red' wert! Das syg auch schon vorkommen in der Familie. Da syg der Tochtermann von ihrer Schwester Schwager drüben in Grindelwald; der hätt' eines Erb's wegen vor ein paar Jährli weit, weit hintere ins Rußland müssen und syg doch wiederkommen. Und heutig'stag's ging's ja auf den Posten und Eisenbahnen – sie hätt' zwar nuch kei so Ding selber g'seh, aber der Herr Pfarrer syg scho druf g'fahre – ja, da ging's wie g'floge. Und was vollends 's Briefschicken angeh', da hätten sie ja gäng jetzt auch drunten in Meyringen so 'nen Tregelaff oder wie neime di Dinger g'heiße syge, ufg'richt't; da häng' ma d' Brief' nur so d'ra und, wutsch, syge sie in aller Wyte. Der Ruodi solle nur fleißig schreiben; sie wolle im übrigen schon Sorg' haben, daß sein jung's Frauli derweil nit trübsinnig werde.

So war denn die Frage entschieden, und Ruodi ging sofort nach Hasli im Grund hinüber, wo er zwei geschickte Holzschnitzer kannte, die er sich zu Gehilfen bei seinem Unternehmen ausersehen hatte. Sie gingen auf seine Vorschläge ein, und er bestellte sie auf den Abend des dritten Tags gen Bern in den Bernerhof. Heimgekehrt, machte er sich, während Rosi ihres Gatten Wäsche und Kleider in den Koffer legte und dabei jedes Stück insgeheim mit einem liebevollen Wunsch feite und weihte, ans Auswählen und Verpacken von Zeichnungen, Holzmustern und Werkzeugen. Zwei Träger schafften das Gepäck nach Meyringen hinunter und am folgenden Morgen machte sich, vor Sonnenaufgang, der Ruodi selber auf den Weg.

Rosi war früh auf, um dem geliebten Reisenden noch den Morgenimbiß zu bereiten. »Will's Gott, ist's gut Wetter!« dachte sie, während sie in ihre Kleider schlüpfte; denn dem Volksglauben von Windgellen gemäß, war es von übler Vorbedeutung, bei Regenwetter eine Reise anzutreten.

Ruodi schlief noch, als die junge Frau leise das Fenster öffnete, um nach dem Stande der Witterung zu sehen. Es hatte während der Nacht gewittert, und schwere Regenwolken wuchteten von den Bergen tief in das Tal herein, von einem schwülen Luftzug träge hin und her geschoben. Himmel und Erde zeigten nur ein verdrießliches Grau in Grau. Ein widrig schwüler Windhauch schlug von draußen in Rosis Gesicht, und eintönig, sozusagen mürrisch plätscherte der Regen herab.

»Ach Gott, was für ein grüsli Wetter!« rief die junge Frau unwillkürlich aus.

»Was hast, Rösli?« fragte der inzwischen erwachte Ruodi von dem ehelichen Lager her.

»O, Rundi, lieb's Manni, geh heut' nicht! Weißt, 's bringt keinen Segen, bei Regenwetter ausz'reisen.«

»Ei, du Närrli, da müßten ja die Leut' 's Reisen ahsograd' ganz bleiben lassen,« entgegnete Ruodi, aus dem Bette springend.

»Aber könntest du die Abreis' nicht verschieben, wenn auch nur auf morgen? 's Wetter könnt' sich derweil ändern.«

»Nein, Rösli, das geht nicht. Was würd' der Herr Baron, der z' Bern auf mich und die zwei andern wartet, denken? Ich muß allweg fort.«

»Bei solchem Wetter?«

»Freilich, 's ist widerwärtig, ja. Aber weißt, auf Regen folgt Sonnenschein. Ich darf mich nit säumen und muß tüchtig ausschreiten, wenn ich z' Mittag 's Dampfschiff z' Brienz nit verfehlen soll.«

Rosi machte Licht, aber sie vermochte einen schweren Seufzer, der ihr die Brust hob, nicht zu unterdrücken. Er entging ihrem Manne nicht.

»Komm, komm, Rösli,« sagte er. »Du mußt dir die Sach' nit schwerer machen, als sie ist. Denk, Schätzli, wie viel Manne müsset zeitweilig von ihren Frauen fort! Bist doch gäng sonst 'ne rechte Schweizerin, hast ein kräftig G'müt. Muß ich denn in den Krieg oder in sonstige G'fahr? Bewahre! 's ist ja neime nur 'ne einfache G'schäftsreis'. Drum mach dir und mir 's Herz nit schwer! Lueg', ich freu' mich schon jetzt unbändig auf den Tag, wo ich wieder heimkomm' zu mei'm liebe gute Wybli.«

So tröstete er sie und Rosi bemühte sich eine Fassung zu zeigen, die sie nicht besaß. Sie konnte ein rätselhaftes Bangen, daß diese Reise für Ruodi und sie selber zum Unheil ausschlagen würde, nicht loswerden. Aber sie wollte dem teuren Manne das Herz nicht schwer machen und gab sich deshalb, als sie mitsammen frühstückten, alle Mühe, ruhig zu erscheinen. Sie versuchte sogar über die zärtlichen Scherze zu lächeln, womit er sich und sie über den Ernst der Stunde zu täuschen strebte.

Als er zum Aufbruch bereit war, ließ sie es sich nicht nehmen, ihm bis zum Ausgange des Tals das Geleite zu geben. So gingen sie Hand in Hand durch das Regengeriesel der Morgendämmerung hin.

Da, wo der Fluß, durch eine enge Felsenklause sich drängend, in ein breiteres Talgebiet hinabfällt, bat er sie, umzukehren, und so ging es ans Scheiden.

Mit nach der ihm Nachschauenden rückwärts gewandten Augen schritt er dann den Weg abwärts. Da rief sie laut seinen Namen, eilte ihm nach und umklammerte ihn fest mit den Armen. Sie mußte noch einmal ihr Antlitz an sein Herz legen, das jetzt noch ganz ihr gehörte. Jetzt noch? Sollte es denn je anders sein können? Sie vermochte den unwillkürlich in ihr aufgestiegenen Gedanken nicht auszudenken und doch war ihr, als müßte sie den Geliebten mit Gewalt zurückhalten, mit der ganzen Kraft und Gewalt ihrer Liebe.

Er hatte sich zuletzt mit feuchten Augen sanft von ihr losgemacht und war gegangen. Sie wußte nicht, wie sie zum Rütli zurückgekommen. Da saß sie nun im Hinterstübli, allein mit ihrer Trübsal. Es ward ihr zu eng in ihrem Mieder, zu eng in dem Zimmer, Sie meinte, der Atem müßte ihr ausgehen vor lastender Schwüle, und sie mußte das Fenster aufreißen. Aber es war auch draußen schwül und trübe. Ihr Blick fiel auf die Wiege in der Ecke. »Hätt' ich ein Kind, so wär' ich jetzt nicht so allein und verlassen,« sagte sie und weinte bitterlich.


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