Johannes Scherr
Rosi Zurflüh
Johannes Scherr

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Zwölftes Kapitel. Die Nacht der Prüfung.

Sie glaubte schon alles sich zurechtgelegt, alles überwunden, sich ganz in das Unvermeidliche gefunden zu haben, die arme Rosi, und dennoch erbebte sie jedesmal, wenn in den nächsten zwei Wochen die Haustüre aufging, bei dem Gedanken: »Jetzt kommt ein Brief von Thun oder eine Botschaft von dem Pfarrer, welche dich vor den Stillstand»Stillstand« heißt die Gemeindebehörde, welche die kirchliche Disziplin zu handhaben und auch, in erster Instanz, Ehesachen, Scheidungen usw zu behandeln hat. Der Name rührt von dem Umstand her, daß die Mitglieder dieser Behörde, welche ihre Sitzungen früher in der Kirche selbst hielt, nach beendigtem Gottesdienst beim Taufstein stillstanden, bis die Gemeinde sich entfernt hatte. beruft, von wegen der Scheidung.«

Es kam aber weder ein Brief noch eine derartige Botschaft.

Einmal hatte sie sich schon hingesetzt, dem Ruodi zu schreiben, daß sie auf alles gefaßt sei, daß sie ihm volle Freiheit gebe, zu handeln, wie er es passend fände, daß sie, mit einem Wort, in die Scheidung willige. Aber da versagte ihr doch die Kraft. Sie vermochte es doch nicht, ihn davon zu entbinden, daß er den ersten Schritt täte. Sie wollte auch ihrer Mutter nicht das Leid antun, daß diese glauben könnte, sie hätte die Sache zu leicht genommen und zu leicht behandelt. Unterrichtet war jetzt die Zwihlbäurin von der ganzen Sachlage, aber die gute Frau bemühte sich immer noch, ihrer Tochter und sich selbst einzureden, es sei nur ein vorüberziehendes Gewitter am Ehestandshimmel Rosis. Anderer Ansicht war freilich 's Vreneli. »Das läßt sich nicht mehr flicken und leimen, Müetti,« sagte das kluge Mädchen, welches seinen Schwager so grimmig verabscheute und haßte, als ihn nur immer jemand verabscheuen und hassen konnte. »Lueget, 's Rosi, 's arm' Rosi kann den schlechten Mann nicht mehr liebhaben, 's kann nicht sein! O, Müetti, d' Mannen sind doch ein schülich's Volk. Was hat 's Rosi um den Ruodi gelitten, bis es ihn hatte, und doch hat er sein schön's und brav's Weib um so eines schwarzäugigen Glüntlis willen verlassen. Nein, Müetti, los', ich will gar keinen nehmen, keinen, aber auch gar keinen.« – »Ja, du bist mir die Recht', Chind! Wart' nur, bis gäng der Recht' kommt und dich haben will. Ich mein', ich kenn' so 'nen Rechten.« – »Was meinst?« – »Was werd' ich neime meinen? Ebbis geistlich's mein' ich.« – »Jetzt schweig' aber, Müetti, oder ich lauf dir davon.« – »Lauf nur!« Und das neunzehnjährige Kind lief wirklich davon, nämlich aus der Kammer, wo es mit der Mutter hatte zu Bett gehen wollen, auf den Söller hinaus, um zu sehen, ob im Dorfe drunten in des Pfarrers Studierstube das Licht noch brenne. Es brannte richtig noch, wie allnächtlich. »Er studiert zu viel,« dachte das schöne Meitschi, welches keinen, aber auch gar keinen nehmen wollte, »er sitzt zu lange bei seinen Büchern auf, und das macht ihn so bleich. Ich wollt', ich – nun ja, ich wollt', ich säß' bei ihm. Ich würd' ihm dann mit der Hand über seine schöne Stirn fahren, so, und recht lieb und gut zu ihm sagen: Stephan, lieber, lieber Stephan, willst du nicht Feierabend machen?«

Vreneli würde wohl mit leichterem Herzen zu Bette gegangen sein, wenn sie hätte ahnen können, daß so ziemlich in demselben Augenblicke der gute Pfarrer da drunten in seiner einsamen Bücherstube so ziemlich auch so was wünschte, nämlich, daß 's Vreli bei ihm säße. Er hatte seit der Begegnung mit Rosi am Wildsee doch recht viel an das Mädchen denken müssen, das »so gesund und heiter und klug wie ein Vögeli« und – fügte er in Gedanken dem Lobspruch der Schwester bei – auch so schön! Heute abend hatte er seine Berndeutschung der Burnsschen Lieder wieder vorgenommen. Was wohl 's Vreneli dazu sagen würde? dachte er beim Hin- und Herblättern. Gewiß würde es sie freuen, wenn er ihr, die den halben Hebel auswendig kannte, diese der Heimat mundartlich angeeigneten herzigen Sachen vorläse. Es müßte dann doch recht heimelig in der Stube sein, wenn sie so beisammen säßen, ja, ganz anders als jetzt. Freilich nicht ganz so, wie er sichs vorzeiten vorgestellt, wenn die Rosi bei ihm säße, nicht ganz so, ach nein! aber doch auch heimelig und gut. 'S Vreli sei bei all ihrer Munterkeit so verständig und feinfühlend, und ihr Lachen klänge so silbern und hell wie ein Glöcklein, das zum Maifest läutet. Da sei der arme Burns, der hätte ja auch sein angebetetes Liebchen, die Hochlands-Mary, verloren und hätte nachmals doch mit Hannchen Armour in glücklicher Ehe gelebt. – Ob ihm aber das Mädchen wirklich geneigt sei? Es wäre doch wunderlich, er hätte nichts davon gemerkt, er. Aber Rosi hätte es ihm ja versichert, und Rosi könne keine Unwahrheit sagen, nein, soviel stehe fest. Er müsse sich eben jetzt ein Herz fassen und sich Gewißheit zu verschaffen suchen. So könne es nicht länger fortgehen; es sei doch gar zu einsam in dem Pfarrhaus, ja, und gar zu kalt, sogar jetzt im Sommer.

So spannen sich nachtschlafender Weile von der Zwihl zum Pfarrhaus und vom Pfarrhaus nach der Zwihl Gedankenfäden hin und wieder, Gefühle und Wünsche, die sich im Mondschein begegneten wie spielende Elfen. Rosis Gang zum Wildsee war doch zu etwas gut gewesen. Das ist's ja überhaupt, was die Menschenwelt zusammenhält und fortbaut ins Unendliche, daß hart neben den Trümmern einer zerstörten Existenz unentmutigt eine andere und immer wieder eine andere sich ansiedelt, mit der Hoffnung, sie, gerade sie würde und müßte der Blitz verschonen.

Derweil saß zur selben Stunde Rosi auf dem Schuhukopf droben auf der Bank, mit welcher sie der Ruodi einst so freundlich überrascht hatte. Das war lange her, und seitdem hatte er, ach, dafür gesorgt, ihr ganz andere Überraschungen zu bereiten. Sie kam gerne hierher und saß, nach beendigtem Tagwerk, da sie ohnehin erst spät den Schlaf finden konnte, oft bis tief in die Nacht hinein da droben, in die Betrachtung der Gestirne oder in jene schwermütigen Träumereien versunken, welche die balsamische Stille der Sommernächte den Unglücklichen so süß und vertraut macht.

Sie liebte diese Stelle, denn immer, wenn sie in nächtlicher Einsamkeit da verweilte, atmete ihre gepreßte Brust leichter auf. Da, auf dieser Bank hatte sie ja die seligste Stunde ihres Lebens verlebt, damals in der Hochzeitnacht, bevor der Ruodi sie in sein Haus führte. Die heutige Augustnacht war so klar, wie jene Herbstnacht gewesen. Die Wasser rauschten schlaftrunken, die Sterne funkelten am wolkenlosen Firmament, und der über dem Glanzhorn schwebende Vollmond machte die Schneekuppen der Bergkolosse ringsher geisterhaft schimmern – alles wie in jener Stunde voll süßgestillten Sehnens, voll bebender Glücksgewißheit. Alle Einzelnheiten derselben, alle, alle, bis zu den geringfügigsten herab, erwachten in Rosis Erinnerung. Sie glaubte Ruodis Hand auf ihrer Schulter, seine flüsternde Stimme in ihrem Ohr zu fühlen, und unwillkürlich streckte sie ihre Rechte nach ihm aus: er mußte ja da sein, neben ihr auf der Bank. Aber sie griff in die leere Luft, das Traumbild der Erinnerung zerstoß, sie war allein.

Und doch nicht so ganz allein. Vor ihr saß der alte Türk, wie er auch in jener Nacht vor ihr gesessen. Aber heute lief das treue Tier nicht mehr Gefahr, heimgeschickt zu werden. Ein wunderlicher Kerl, der alte Zottelhund! Er mußte sich über die Zustände im Rütli, wo er sogleich nach Ruodis Abreise nach Berlin sein ständiges Quartier genommen, eigene Vorstellungen gebildet haben. Es schien ihm alles daran gelegen, der Rosi zu zeigen, daß es doch noch Treue in der Welt gäbe trotz alledem, und ganz merkwürdig war die Abneigung, die er dem Ruodi seit dessen Heimkunft aus Deutschland bezeigte. Wenn der Hausherr daheim war, hielt sich der Türk außerhalb des Hauses; sobald jener fort, kam er herein. Saß Rosi in traurigen Gedanken, schlich der Hund herbei, legte leise seine Schnauze auf ihr Knie und sah sie so ganz eigen an, als wollt' er sagen: »Wenn ich dir nur helfen könnt'!« Und es lag Trost in seiner Treue. Wer das Unglück kennt, wird nicht leugnen, daß auch der teilnehmende Blick eines Hundeauges etwas Tröstliches habe.

Der Mond war schon lange hinter dem Glanzhorn verschwunden, und der Nachthauch wehte kühl und kühler von den Bergen. Dem alten Türk schien die Träumerei seiner Herrin heute gar zu lange zu währen. Er verriet Ungeduld und vorhin war er gar an den Rand des Felsens getreten, hatte die Schnauze schnobernd gegen die Rütlihalde ausgereckt und ein heftiges Gebell ausgestoßen. Rosi beachtete es kaum. Die Bilder von Vergangenem, welche die junge Frau umschwebten, waren freilich jetzt keine goldenen mehr. Zuletzt kam eins, o, das grellste, qualvollste: die kleine Lichtung hinter dem Gebüsch, welches die Bilgismatte säumt, und darauf das Schwarzelfi, dem Ruodi an Hals und Lippen hängend.

Das jagte sie auf.

Sie stieg rasch den Felsen hinab und eilte dem von seinem Hügel herabdunkelnden Hause zu, als hätte sie jeder Erinnerung an wonne- oder wehvolle Augenblicke entfliehen mögen und können.

Der Hund sprang ihr voraus und erwartete sie droben vor der Haustüre, auf dem Boden umherschnüffelnd und leise knurrend.

»Was hast du denn, Türk? Komm, Alter, komm!« sagte sie, die nur angelehnte Türe öffnend.

Sie hatte kaum einige Schritte in dem Flur vorwärts getan, als ihr Fuß im Dunkel an einen Gegenstand stieß. Sie bückte sich nieder, zu erfahren, was ihr denn da im Wege läge, und ihre Hand faßte eine längliche Schachtel von Holz, über deren Rand etwas Weiches herhing, wie ein Tuch von Linnen oder Wollenzeug.

»Was ist denn das?«

Tastend fuhr sie mit der Hand über den Gegenstand hin, zuckte plötzlich zurück, als hätte sie Feuer berührt, und schnellte mit einem Schreckensschrei empor.

Eine furchtbare Ahnung, nein, eine furchtbare Gewißheit griff ihr ans Herz wie mit der Hand des Todes.

Sie stand wie erstarrt, keiner Regung mächtig. In kaum artikulierten Tönen brach die Klage aus ihrem Munde:

»O, das noch! Auch das noch!«

Das Geknurre des Hundes ihr zur Seite weckte sie aus ihrer Betäubung.

Kaum wissend, was sie tat, nahm sie mit einer raschen Bewegung die Schachtel vom Boden auf, trug sie in die dunkle Stube und setzte sie auf den Tisch. Dann machte sie, fliegenden Busens, Licht und näherte sich damit ihrem Fund.

Die Hand, womit sie den Leuchter hielt, zitterte wie Espenlaub, und mehr noch zitterte die andere, welche sie nach dem Tuch ausstreckte, womit die Schachtel bedeckt war.

Sie mußte innehalten, das Licht auf den Tisch stellen, sich auf einen Stuhl werfen, um den Schwindel, der sie anwandelte, vorübergehen zu lassen.

Der Hund legte seine Vorderpfoten auf den Tischrand und schnoberte an der Schachtel herum. Aber er knurrte nicht mehr, sondern winselte nur.

Rosi stand auf, leichenblaß, aber nicht mehr zitternd.

So schob sie den Hund zur Seite und zog langsam die Decke von der Schachtel.

Da lag, auf ein Kissen gebettet, ein schlafendes Kind vor ihr, kaum zwei Monate alt, schön und wohlgebildet, aber schön wie – Schwarzelfi.

» Ihr Kind!« stammelte die unglückliche Frau.

Das Blut schoß ihr mit einer Gewalt ins Antlitz, welche die Adern ihrer Schläfe zu sprengen drohte, und ein Blick wilden Hasses fiel aus ihren weitgeöffneten Augen auf den schlummernden Findling.

Als sie so stand und starrte, bewegte sich das Kind und schlug die Augen auf – die braunen guten Augen Ruodis, wie sie vormals gewesen.

» Sein Kind!« rief Rosi aus, und ein Strahl himmlischen Erbarmens spielte auf ihrer Stirne, als sie sich jetzt zu dem Findling niederbeugte.

Sie nahm das Kind sanft aus dem Behälter, drückte es an ihre Brust, und ein Strom von Tränen rollte ihr über die Wangen herab.

Sie konnte wieder weinen, nach so vielen Leidenstagen zum erstenmal wieder weinen und, o, wie taten ihr diese Tränen wohl!

»Sie haben dich ausgesetzt, armes Geschöpf,« sagte sie schluchzend. »Die dich geboren, ließ es zu, tat es vielleicht selbst. – Aber du sollst nicht verlassen sein. Ich will dich hegen und pflegen, als hätt' ich dich unter meinem Herzen getragen, will deine Mutter sein und dich lieben, lieben – bis zu meinem letzten Atemzug.«

Ein neuer Gedanke kam ihr. Sie trug den Findling in das Hinterstübli, zog die zierliche Wiege aus der Ecke und bettete das Kind darein. Es war bis dahin still geblieben, jetzt aber ließ es jenes Gewimmer vernehmen, womit gesunde Kinder anzeigen, daß sie nach Nahrung verlangen.

»Ja, du sollst haben, arm's Närrli, du sollst haben!« sagte Rosi; »wart' nur es bizzeli, ich bin gleich wieder da.«

Eilends und leise, um ja das droben schlafende Mareili nicht zu wecken, weil sie alles selber tun wollte, ging sie durch die hintere Haustüre zum Stall hinüber und kam bald mit einem Napf voll frischgemolkener Milch zurück.

Der Türk saß hart neben der Wiege, wedelte mit dem Schweif und leckte die zappelnden Händchen des wimmernden Kindes.

»Das ist schön, Türk, das freut mich von dir,« sagte Rosi lächelnd und nahm geschäftig ein Gütterli aus dem Glasschrank, das »Mämmeli«, welches die vorsorgliche Zwihlbäurin seinerzeit unter das übrige zur Aussteuer ihrer Tochter gehörende Geschirr gestellt hatte. In dieses Mämmeli goß sie von der frischen Milch und tränkte daraus das Kind, das recht herzhaft zog und sog und, nachdem es satt war, wieder einschlief.

Rosi stand noch lange an der Wiege, das Kind zu betrachten. Sein Anblick war ihr nun schon vertraut und lieb, auch wenn es die Augen zuhatte. Es war ihr wie ein Geschenk, vom Himmel gefallen. Sie konnte nicht satt werden, mit linder Hand die Kissen zurecht zu rucken und die Decke glatt zu streichen, damit der Findling ja recht sanft und warm gebettet sei. Immer wieder kehrte sie zu der Wiege zurück, nachzusehen, ob doch ja alles in Ordnung sei und mit herabgeneigtem Ohr zu lauschen, ob der Atem des schlummernden Kleinen ruhig und regelrecht ginge.

Endlich ging auch sie zu Bette, in dem Hinterstübli, wo sie schon seit Wochen schlief, seit jenem Unglückstag, wo das Mareili mit der großen Neuigkeit aus der Kirche heimgekommen war und Jungfer Bibbeli auf den Blitz den Donner gesetzt hatte. Seitdem hatte sie nicht mehr in der Kammer drüben neben der Stube geschlafen, denn schon der Anblick ihres Ehebettes erregte ihr einen Schauder, welchen sie nicht zu überwinden vermochte – nie mehr!

Aber jetzt dachte sie gar nicht daran, weil sie überhaupt an nichts dachte als an das Kind, dessen Wiege sie hart an ihr Lager gerückt hatte. Es jubilierte etwas in ihr wie erfüllte Muttersehnsucht, und dieser Jubel war vielleicht höher und heiliger, als wenn das Kind ihr eigen Fleisch und Blut gewesen. Sie fühlte, daß ihr Leben wieder einen Inhalt habe, und drückte das in ihrer Weise aus, indem sie vor sich hin sagte: »Jetzt weiß ich doch, wozu ich noch auf der Welt bin. –« Sie sprach ein inbrünstiges Dankgebet, und in die Worte desselben hinein läutete eine helle Freudenglocke in ihrem Herzen. Unter diesen Klängen schlief sie ein und schlief so sanft und süß, wie sie seit langer, langer Zeit nicht mehr geschlafen hatte.


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