Johannes Scherr
Rosi Zurflüh
Johannes Scherr

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Drittes Kapitel. 's wird doch was aus der Sach'.

Beim reichen Kuori Leuenberger in der Zwihl ging es an diesem Tage wirklich hoch her. Der Zwihlbauer hatte nur zwei Kinder, zwei Meitschi, und dem älteren derselben richtete er heute die Hochzeit aus. Da mußte etwas draufgehen, das verlangte schon die bäuerische Kleiderordnung, und zwar um so mehr, als es galt, dadurch zugleich das Gerede zu widerlegen, der Magnat von Windgellen sei nur schwer dazu vermocht worden, seine Rosi dem Ruodi Zurflüh zu geben.

Es war etwas an diesem Gerede, es war etwas dran. Der Ruodi war zwar ein »hablicher« Mann, keine Frage, und ein stattlicher und braver Chnab' war er ebenfalls, kein Zweifel; aber er hatte auch, wie der Zwihlbauer seinerzeit ziemlich ungrammatikalisch gesagt haben sollte, »zwo bedenkli Items« an sich. Denn fürs erste war er ein Fremder, das heißt, er war in dem sieben bis acht Stunden von Windgellen entfernten Hasli im Grund geboren, und fürs zweite war er kein Bauer, sondern »gäng nur« ein Holzschneider.

Kein Stolz geht über den rechten Bauernstolz. Überall, wo noch eine unvermischte Bauersame deutscher Zunge sitzt, namentlich eine solche, auf deren Nacken das demoralisierende Joch der Hörigkeit nie gelegen, macht sich in ihrer Denkweise, in ihrem ganzen Gebaren der trotzige Geist altgermanischer Gemeinfreiheit fühlbar, aber auch die starre Ausschließlichkeit altgermanischen Kastenwesens. So ein Bauer, auf seiner Hufe sitzend, deren Vererbung von Urväterszeiten her die Familientradition genau nachzuweisen vermag, ist gewohnt, die ganze Menschheit einzuteilen in Bauern und andere Leute, und wie immer die Lebensstellung dieser »anderen Leute« sei, ob hoch oder niedrig, arm oder reich, gleichviel, sie sind keine Bauern und demzufolge nicht ebenbürtig. Auch der Kuori Leuenberger war vom echten und gerechten alten Bauernschlag, wenn schon durch sein knorriges Wesen eine weiche Ader lief, die ihm, wie er meinte, schon manchen Possen gespielt hatte. Wahrscheinlich war diese Ader durch den Umstand genährt worden, daß seine Heirat mit dem Anneli, der Erbtochter des Zaglibauers, nicht allein eine bäuerliche Konvenienzheirat, sondern zugleich auch eine gegenseitige Neigungsheirat gewesen war. Die Zwihlbäu'rin war aber zuvörderst Weib und Mutter und dann erst Bäu'rin. Auch eine große dörfliche Diplomatin war sie, die ihren Kuori vortrefflich zu handhaben wußte und sich durch sein Brummen nicht abschrecken ließ, wenn sie sich mal etwas Gutes und Rechtes vorgesetzt hatte.

Eines schönen Frühlingsabends, etwa ein Vierteljahr vor Eröffnung unserer Geschichte, hatte die Zwihlbäu'rin, während ihr Eheherr auf dem Söller droben tubäkelte, das heißt, seine Abendpfeife rauchte, unten in der Wohnstube eine lange flüsternde Unterredung mit ihrer älteren Tochter, der Rosi, welche an demselben Tage ihr zwanzigstes Jahr angetreten hatte. Als die jüngere Tochter, s' Vreneli, ein lebhaftes hübsches ChindÜberall in der deutschen Schweiz heißen die Mädchen, auch die erwachsenen, Chind', d.i. Kinder. von sechzehn Jahren, in die stille Stube kam, brachen Mutter und Schwester verlegen ihr Gespräch ab, und 's Vreneli bemerkte im Zwielicht, daß die Wangen Rosis hochrot waren und Tränenspuren zeigten. Bei so bewandten Umständen ging 's Vreneli sogleich wieder hinaus und in die Küche, wo sie zu der alten Magd, einem Inventarstück des Hauses, sagte: »Gib acht, Kathri, 's gibt ebbis.« – »Was denn?« – »'ne Hochzyt.« – »Warum nit gar, du Göhl! Was weißt du von Hochzyten?« – »Ei ja fryli! Bin ich nit an Ostern b'hört worden? Und meinst, ich hätt's gäng nit g'merkt, daß d' Rosi und der Ruodi einander gäng gern haben?« – »So, du Äffli, das hast du g'merkt? Papperlapapp! Da wird gäng nüd draus.«

Während dieses Gespräch in der Küche seinen Fortgang hatte, stieg die Zwihlbäu'rin nachdenklich zum Söller hinauf, setzte sich neben ihren Eheherrn und begann die Unterhaltung damit, daß sie meinte, bei der ungewöhnlich günstigen Witterung dürfte es bald an der Zeit sein, mit dem Veh zu Berg zu fahren. Aus der Verhandlung des Viehkapitels merkend, daß ihr Alter guter Laune sei, lenkte die Bäu'rin mit behutsamen Übergängen die Unterhaltung allmählich auf ein ganz anderes Feld, und dabei wurde ihre Sprache immer wärmer und eindringlicher. Der Bauer hörte ihr nach seiner Weise bedächtig zu und verriet weiter keinen Anteil, als daß er sehr energisch tubäkelte. Die Bäu'rin achtete in ihrem Eifer wahrscheinlich nicht sehr darauf, denn sonst hätte sie sich nicht so weit mit dem herausgelassen, wessen ihr Herz voll war. Wenn der Zwihlbauer große Tabakswolken von sich paffte, so war das kein Zeichen der Beistimmung; im Gegenteil, ganz im Gegenteil. Die gute Zwihlbäu'rin sollte auch bald genug innewerden, daß es ihr nicht immer gelänge, ihren Kuori »anzubohren«, mit welchem sonderbarlichen Ausdruck sie ihre auf diplomatischer Kunst beruhende Oberherrlichkeit im Hause zu bezeichnen pflegte. Der Zwihlbauer ließ seine würdige Ehehälfte ruhig ausreden. Hernach stand er auf, klopfte über die Brustwehr des Söllers hinweg seine Pfeife aus, trat vor sein Anneli hin, zupfte, wie das bei feierlichen Anlässen seine Gewohnheit war, seinen bretsteifgestärkten, ein gut Teil über die Ohrläppchen hinaufreichenden Hemdkragen noch mehr in die Höhe und sagte dezidiert: »Da schlag' gäng der Dunder dri! Aus der Sach' wird nüd, säg' i.«

Nach also abgegebenem Konklusum drehte sich der würdige Beherrscher der Zwihl gegen die Türe hin, hinter welcher in wohlverwahrter Kammer das mächtige Ehebett stand, worin schon der Ähni mit der Ahne und der Vater mit der Mutter ihre Nachtruhe gehalten hatten. Das ehrwürdige Möbel füllte die Schlafkammer zur Hälfte aus und war von einem »Himmel« überdeckt, dessen vier eichene Tragsäulen im Notfall ein Haus hätten tragen können. Auf der inneren Fläche des Betthimmels war ein Schnitzwerk angebracht, welches Adam und Eva im Paradiese darstellte. Die Zeit hatte dieses Kunstwerk schwarz gebeizt, und in der Kammer war es zudem nicht mehr hell genug, daß der Zwihlbauer, als er seine gewaltigen Glieder in das hochaufgestapelte Federbett versenkte, das Bild noch hätte gewahren können. Dennoch richtete er die Augen nach der Stelle hin, und wie wenn ihm der schlimme Streich, welchen Frau Eva ihrem Eheherrn weiland gespielt, eine wunderliche Ideenverbindung eingegeben hätte, brummte er: »'s Wybervolk ist gäng allzyt e Dunderszüg gsi.«

Derweil wälzte die Zwihlbäu'rin draußen auf dem Söller schwere Gedanken im Gemüte. Sie fühlte, daß ein großer Wendepunkt in ihrem Leben eingetreten, und daß es jetzt, wenn je, gälte, ganz ungeheuer klug und fest zu verfahren. Nachdem sie die Angelegenheit, welche sie beschäftigte, nach allen Seiten hin gewendet und gedreht hatte, kam sie zu dem Schluß: »Er wird gäng brummen, länger und ärger brummen als je; aber 's könnt' doch gehen, 's könnt' doch gehen. Man muß nur sachte tun, sachte, sachte.« Damit machte die rüstige Frau noch ihren allabendlichen Gang durch das Haus, zu sehen, ob alles in seiner Ordnung sei, und verfügte sich dann in die Schlafkammer. Als auch sie unter dem erwähnten Betthimmel Platz genommen, sprach sie nach ihrer Gewohnheit mit über der Bettdecke gefalteten Händen halblaut den Abendsegen und wollte sich dann, im Glauben, ihr Kuori schliefe schon, ebenfalls zum Schlafen zurecht legen. Da drehte der Bauer halbwegs den Kopf auf seinem Kissen und brummte: »Anneli, los', i säg', aus der Sach' wird nüd!« Sprach's und legte sich wieder aufs Ohr. Die Zwihlbäurin sagte nur ganz sanft: »Nu, so schlaf' gäng in Gottesnamen.« Sie hütete sich wohl, Widerspruch zu erheben oder auch nur ein weiteres Gespräch zu veranlassen, und begnügte sich zu denken: »Der Brei ist eingerührt, jetzt mag er kochen.«

Er kochte auch wirklich so wacker, daß der Zwihlbauer in dieser Nacht nicht viel schlief. Kaum eingeduselt, fuhr er wieder auf und murmelte: »Mein' Rosi so 'nem Fremden geben, der gäng kaum in die G'meind' hereing'schmeckt hat, so 'nem Holzschnäfler? Ja, ahsograd! Aus der Sach' wird nüd! Der Dunder schlag'!« Die Zwihlbäurin hörte es gar wohl, tat aber nicht dergleichen. – Am folgenden Morgen rief der Bauer seine ältere Tochter in sein Oberstübli. Sie müsse ihm, sagte er, während die Familie mit den Knechten und Mägden ihre Hafersuppe zum Frühstück aß, bei einer Schreiberei helfen. Das kam oft vor, und wußte männiglich, daß die Gemeindeakten von der Hand Rosis geschrieben wurden. Dennoch pochte bei der Bestellung dem Mädchen das Herz so stark unter dem roten Brusttuch, daß sie bald den Löffel hinlegte und hinausging. Während sie dann beim Vater im Oberstübli war, schlich 's Vreneli leise wie ein Mutterkätzchen die Stiege hinauf. Das Chind merkte Wohl, daß ebbis im Hause vorging. Und es sollte nichts davon wissen? Das war gäng »schüli«! Aber wart', es hat feine Ohren, es, und es konnte doch wohl nicht schaden, e chli an der Stüblitür' zu löslen. Da drinnen sprach der Vater laut genug und auch gäng ernsthaft, aber die Lauscherin konnte es doch nicht recht hören; und dann sprach 's Rosi, aber das war noch weniger zu verstehen. Zuletzt ging die Türe halb auf, und so hörte 's Vreneli den Vater sagen: »Los', Rosi, aus der Sach' wird nüd, sag' i – der Dunder schlag'!« Die Lauscherin huschte erschrocken über den Gang und die Treppe hinab. Aber ihre heraustretende Schwester hätte das Chind auch bei geringerer Eile kaum wahrgenommen, denn ihre Augen waren vom Weinen trüb.

Und doch wurde was aus der Sach'! Geduld überwindet Sauerkraut und noch viel mehr, will sagen einen Bauer aus dem Bernerbiet, der doch aus dem zähesten Holz geschnitten ist, das auf Gottes Erde wächst.

Zunächst freilich gab's eine trübe Zeit in der Zwihl. Der Bauer war brummig, die Bäurin unruhig, die Rosi traurig, und 's Vreneli lachte weit weniger als sonst. Es war etwas, wie es nicht sein sollte. Das merkten auch die Knechte und Mägde, welche die Köpfe zusammensteckten und untereinander munkelten. Die Zwihlbäurin machte die Erfahrung, daß der fragliche Brei sich keineswegs von selbst auskochte, und befliß sich daher, von Zeit zu Zeit frisches Holz unterzulegen. Aber es wollte nicht brennen, und die gute Frau begann zum erstenmal ihrer diplomatischen Kunst zu mißtrauen. Eines Morgens nach der Hafersuppe sagte der Bauer mit einem ganz eigentümlichen Seitenblick auf seine ältere Tochter, er werde sich gäng resolvieren müssen, den Türk, den alten Hofhund, abtun zu lassen; denn der Hundsketzer, meinte er, sei gäng gar nicht mehr wachsam. Und im Hinausgehen brummte er noch zwischen Türe und Angel verständlich genug, er werde dem Kiltgänger, der nachtschlafender Weile um das Haus streiche, schon das Handwerk zu legen wissen. Rosi wurde vor Schrecken über und über rot. Aber am Tage darauf hatte sie noch gewichtigere Ursache, zu erschrecken. Nämlich vor dem Schlafengehen sagte ihr der Vater, der Schurbauer drüben in der Schur, sein alter Sozi, habe bei ihm für seinen einzigen Sohn und Erben um die Hand der Rosi angefragt und sei das gäng ein Wort, welches sich hören lasse. Ein urchiges Heime, der Schurhof, und sei des Schurbauers langer Toni ein Chnab, der einem rechten Meitschi gäng anstehen könne. »Was meinst, Chind?« – »Oh, Vater, Ihr wißt ja –« – »Was weiß ich – der Dunder schieß'! B'sinn' dich drüber, Rosi, und sag' mir morgen gäng ein g'scheiteres Wort.«

Rosi war kein »Zimpferthrineli«, kein »Teigaff'«, keine Buttersemmelnatur, sondern ein kerngesundes, frisches Bergmädchen, das seinen Katechismus gut innehatte, geläufig lesen und schreiben, für den Hausgebrauch auch rechnen konnte, aber weiter von der Blässe der Zivilisation nicht angekränkelt war. Sie wußte weder von Nerven noch von Empfindsamkeit, und Siegwart und Werther waren ihr wildfremde Namen. Sie hatte sich daher aus der Liebe kein Geschäft zurechtgemacht, wie »gebildete Töchter gebildeter Stände« zu tun pflegen, welche dann doch nicht gar selten, sondern recht häufig, ja gewöhnlich, aus den ätherischen Regionen einer irrlichterierenden Liebespoesie mit einmal und im Grunde ohne viel Federlesen, jedenfalls aber ohne Herzbruch in die Konvenienzprosa einer »standesmäßigen Versorgung« herabplumpen, mitunter auch wohl noch erklecklich tiefer. Aber die arme Rosi liebte, und tief und wahr, wie ihr ganzes Wesen, war auch ihre Neigung. Romantik war dabei eigentlich blutwenig im Spiele. Sie hatte einen Mann liebgewonnen, der, kaum fünf Jahre älter als sie, stattlich von Gestalt, gewandt im Benehmen, freundlich und mild von Sitten war, einen Mann, an dessen Lebensführung kein Makel haftete, der außerdem ein hübsches Heimwesen besaß, völlig unabhängig war und sein gutes Auskommen hatte. Warum also sollte sie dieses Mannes Weib nicht werden? Weil er nur erst seit kurzer Zeit ein eingebürgerter, nicht aber ein geborener Windgellener oder weil er kein Bauer im vollen Sinne des Wortes war? Rosi ehrte und liebte ihren Vater aus Herzensgrund; aber daß ihr nur ein Altburger von Windgellen und ein Bauer als Mann anstünde, das hätte ihr Verstand nicht begriffen, auch wenn das Herz einer solchen Logik nicht den Weg zum Kopfe verlegt haben würde. Vielleicht wurde Rosis Zuneigung vermehrt und gestärkt durch den Umstand, daß Ruodi Zurflüh, welcher als angehender Jüngling zum Lehrerberuf bestimmt gewesen und demnach eine länger dauernde und einläßlichere als die gewöhnliche Volksschulbildung genossen hatte, auch geistig über das bäuerische Niveau bedeutend emporragte; aber so viel ist gewiß, Rosi hatte sich diesen Umstand nie zum Bewußtsein gebracht. Dazu war sie viel zu naiv, viel zu wenig reflektiert. Mit der ganzen Frische und Kraft ihres bis dahin mehr herben als weichen Mädchentums hatte sie den Eindruck von Ruodis Persönlichkeit empfangen, und mit der ganzen Frische und Kraft ihres Herzens hielt sie diesen Eindruck fest. Das war alles, und es war gerade genug.

»Da braucht's gäng kein Besinnen: es kann nit sein!« dachte Rosi, als sie in ihre Kammer hinaufstieg. Es war ihr jetzt, wo ihr plötzlich der bestimmte Vorschlag gemacht worden, einen anderen zu heiraten, erst recht klar geworden, wie sie mit so ganzer Seele an dem Ruodi hing. Das Nichtseinkönnen, nämlich die Unmöglichkeit einer Heirat mit des Schurbauers langem Toni, war ihr so etwas Abgemachtes, Tatsächliches, daß sie sich darüber weiter keine Gedanken machte. Aber die Gedanken kamen von selbst, denn sie kannte ihren Vater und mußte um so mehr glauben, derselbe würde einen einmal gefaßten Plan mit allen Mitteln durchzusetzen trachten, da sich die Zwihlbäurin mit richtigem Takt von jeher wohl gehütet hatte, ihren Töchtern einen Einblick in die Diplomatie zu gestatten, womit sie ihren Kuori in letzter Instanz zu dessen eigenem Besten lenkte. Sanft von Gemüt, wie Rosi war, fühlte sie instinktartig und mit nicht geringem Bangen, daß in ihrem Leben eine Wendung eingetreten, wo das Geschehenlassen, das geduldige Hinnehmen und Abwarten nicht mehr ausreiche, sondern wenn auch nicht Begehrtes keck anzustreben, so doch Verhaßtes mutig abzuweisen sei.

»Nei au, Rosi, was machst du für ein grüsli ernst Gesicht!« rief 's Vreneli von dem gemeinschaftlichen Bette der Schwestern her, als die ältere in die Kammer getreten war und die Lampe auf den Tisch gestellt hatte.

»Was werd' ich gäng für ein besonderes Gesicht machen, Chind? Schläfst du denn noch nicht?«

»Ei was, bei Nacht soll ich allzyt schlafen und bei Tag nüd merken. Du und ihr alle im Haus vergesset allweil, daß ich letzte Ostern b'hört worden. Aber ich bin nicht so dumm, ich. Los', ich will dir ebbis sagen. Gelt, der lang' Toni aus der Schur geht dir im Kopf umme

»Der? B'hüt' mi Gott!«

»Hast recht. Was nur dem Vater einfällt? Als war' der Toni ein Mann für dich! Pfüdi! Der lang' Dalk ist gäng grad' so ein GythungGeizhund. Das Wort Hung (Hund) kommt in der Berner Mundart in vielfachsten Zusammensetzungen vor. Die originellste von allen dürfte sein, daß der Berner einen Frömmler einen Bet-Hung nennt. wie sein Alter.«

»Aber woher weißt du denn –«

»So, meinst, unsereins hab' keine Ohren? Wer Ohren hat, zu hören, der höre, heißt's in der Bibel. Verstanden?«

»Ja, du hast deine Ohren überall, wo sie hingehören und nicht hingehören. – Aber weißt du was, Vreli?« fuhr Rosi fort, sich zum Scherzen zwingend. »Weil du doch kein Kind mehr sein willst, so könntest du mir einen großen Gefallen tun.«

»Gern, Rosi, gern. Sag nur, was du haben willst,«

»Du könntest die Sach' mit dem langen Toni ins recht' Gleis bringen, wenn du dem Vater sagtest, du wolltest ihn nehmen. Dem Toni wird's gäng einerlei sein, und so wäre dir und mir geholfen.«

»Jetzt schweig aber, Rosi. Du red'st gäng schüli! Den langen Toni nehmen – pfüdi! Nei! nei! Los', laß dir sagen, im Abc kommt nach dem R nicht das T, wohl aber das S. Verstehst mi?«

»Nein, wahrli nit,« entgegnete Rosi, die Lampe löschend und zu der Schwester ins Bett steigend.

»Gelt, ich kann dir gäng auch Rätsel aufgeben?«

»Ja, das seh' ich. Aber jetzt halt dein Plappermüli. Ich bin gäng schläfrig.«

Mit Rosis Schläfrigsein war es jedoch nicht weit her. Denn als sich die jüngere Schwester mit der glücklichen Sorglosigkeit ihres Alters auf bie Seite gedreht hatte und bald eingeschlafen war, setzte sich die ältere im Bett auf und versank in ein quälendes Nachdenken über ihre Lage.

So mochte sie etwa eine Stunde lang gesessen haben, als die Stille um sie her durch ein kaum bemerkbares Geräusch unterbrochen wurde. Es kam von dem Laden her, womit das Kammerfenster von außen verschlossen war. Dort pöppelte es in drei Absätzen, ungefähr so, als würden kleine Steinchen an den Laden geworfen. Dann ward es wieder ganz still.

Rosi lauschte mit verhaltenem Atem. Hierauf beugte sie sich zu der Schwester hinüber, deren tiefe Odemzüge einen festen Schlaf bezeugten. Nun schlüpfte sie sachte, sachte aus dem Bett, warf ihre Jüppe über und zog ihr Hemdprisli fest am Halse zusammen. So ging sie, schob leise das Schiebfenster hinauf und öffnete vorsichtig den Laden.

Kein Lichtstrahl, aber ein feuchtkalter Lufthauch drang in die Kammer, denn eine Regennacht lag schwarz über Berg und Tal.

Rosi beugte sich hinaus und fühlte nicht den kalten Regenschauer, welcher ihr ins Gesicht schlug; sie fühlte nur die warme Hand, welche ihre in die Finsternis hinausgebotene ergriffen hatte. Ein heftiger Föhn schüttelte rauschend die Äste des alten Ahornbaumes, welcher dem Kammerfenster nahe stand, aber doch konnte er vier Ohren nicht verhindern, das Geflüster zu verstehen, welches zwischen dem Kammerfenster und dem Ahorn hin und her flog.

Es währte lange. Endlich zog Rosi ihre Hand zurück, aber schon im Begriffe, den Laden wieder zuzuziehen, beugte sie sich noch einmal hinaus und flüsterte mit einer tief aus der Seele kommenden Betonung:

»Nei, Ruodi, nei. Dich oder keinen!«

Darauf schloß sie behutsam den Laden, schob das Fenster nieder, tat die Jüppe ab und glitt vorsichtig wieder in das Bett. Fast erschrak sie, denn sie hörte die Schwester murmeln, und aufhorchend vernahm sie von Vrenelis Lippen die Worte: »Der Herr Pfarrer, ja, der ist gäng e Männli!« Aber das war nur im Traume gesprochen.

»Das Kind träumt von dem Pfarrer,« dachte Rosi, »und es spricht auch im Wachen immer von ihm, wo es nur kann. Arm's Vreli, solltest auch du schon – Aber 's ist ja noch ein pures Kind. Und doch – Nun, Gott wende alles zum besten!« fügte sie laut hinzu, und so schlief sie ein.

Unerwarteterweise sprach der Zwihlbauer am folgenden Tage kein Wort von dem langen Toni aus der Schur und seiner Freiwerberei. Sollte während der Nacht die Politik der Zwihlbäurin mit Erfolg tätig gewesen sein? Es schien doch kaum. Wenigstens wußte die Mutter der Tochter wenig Tröstliches zu sagen, und als ein paar Tage darauf vormittags 's Rosi mit dem Vreneli nach der gegen das Bödeli zu gelegenen Matte hinabgehen wollte, um den frühmorgens dort gemachten ersten Grasschnitt zu wenden, hatte sie im Hausflur eine Begegnung von übler Vorbedeutung.

Wie nämlich die Mädchen mit ihren Rechen auf der Schulter zur Haustüre hinauswollten, kam der alte Schurbauer die steinerne Staffel herauf. Der Mann hatte ein höchst wichtiges Aussehen, auch seinen Sonntagstschopen an und darunter ein ganz frisches Hemd, dessen Kragen akkurat so hoch hinaufging wie die Ohren. Die Zwihlbäurin, welche, unter der offenen Stubentüre stehend, den Kommenden wahrgenommen, trat hervor und begrüßte ihn. Der Alte gab den Gruß zurück, und als die beiden Mädchen ohne Zeremonie an ihm vorüberschlüpfen wollten, sagte er galant:

»Potz Bluest, wei't die Jumpfere scho in Heuet? Nei, bym ewige Dunder, 's geit doch kei tölleres Meitschi als 's Rosi in der Zwihl. Das wird gäng 's prächtigst Brütli abgä das ma centum g'seh' cha.«

Rosi ging schnell zur Haustüre hinaus, aber 's Vreneli kehrte sich um und sagte schnippisch:

»Wisset Ihr, Schurbaur, was sie im Dütschland draußen für ein Sprichwort haben?«

»Was denn für eins, Chind?«

»D' Nürnberger henken keinen, eh' sie ihn haben.«

»Wart', du Äffli! Bym ewige Dunder, 's ist doch schad', daß mein jüngerer Bub', der Uli, hat sterben müssen. Der wär' für dich wie a'g'messen, gäng wie der –«

's Vreneli war aber schon weg, und die Zwihlbäurin unterbrach den Gast mit den Worten:

»Wollet Ihr nicht in die Stube treten, Nachbar, und ein Schnäppsli nehmen, bis mein Baur von den Mähderen auf der Bühlmatte heimkommt? 's wird nicht lang währen.«

Sehr neugierig kam 's Vreneli, sehr zaghaft die Rosi zum Mittagessen heim. Dieses ging aber so gemessen vorüber wie immer. Rosi warf zuweilen einen verstohlenen Blick auf den Vater. Aber das braunrote Gesicht des Zwihlbauers in seinem weißen Hemdkragen war undurchdringlich.

Als die Dienstleute hinausgegangen, sagte 's Vreneli draußen zu der alten Küchenmagd: »Paß auf, Kathri, jetzt wird's drinnen losgehen.«

Es ging aber drinnen nicht los. Rosi räumte den Tisch ab, an welchem Vater und Mutter noch sitzen blieben. Während sie das Geschirr hinaustrug, hörte sie die Mutter sagen:

»Kuori, der Schurbauer ist gäng –«

»Schwyg', Anneli,« unterbrach ihr Eheherr die Redende barsch. »I säg', der Tüfel kann meinthalb den –«

Weiter hörte Rosi nicht, aber bald darauf kam die Mutter aus der Stube, zog ihre Tochter beiseite und flüsterte ihr froh erregt zu:

»Los, Rosi, wenn du z' Obig z' Bett gehst, so knie nieder in deiner Kammer und dank unserem Herrgott! Vom langen Toni in der Schur bist erlöst. Aus der Sach' wird gäng wahrli nüd.«

»Gott sei Lob und Dank, Müetti

»Ja, Chind, kannst gäng froh sein, daß das so ausg'ländet hat. Weißt, der alt' Schlufi, der Schurbaur, war e Stündli bei mir, eh' der Vater kam, und da hab' ihn gäng es bizzeli z'wegg'no, Hab' ihm nämli so viel vo euserem Geld und Gut g'seit, daß der Ma vor Gyd und Nyd ahsograd' hätt' veräbble möge. Da ist er dann in seiner Gytbrunst mit dem Vater uffe ins Oberstübli und bald hernacher sind die beiden Mannen wieder abe cho und hät der Schurbaur gäng den Kopf lampen lassen, als hätt' ihm einer mit dem Holzschlägel drauf g'schlagen. Und der Vater hat nur noch zu ihm g'feit: B'hüt' Euch Gott und lebet wohl, Nachbar, und der Toni soll sich gäng anderswo umsehn. Und als der Alt' fort war, hat der Vater zu mir g'seit: ›Der Dunder schlag'! Der Gythung hat nu ahsograd' die ganz' Zwihl zum Heiratsgut für d' Rosi haben wollen, als wären du und ich schon tot und begraben und 's Vreneli gar nicht da‹ – Siehst du, Chind, so ist mir der alt' Vogel uf d' Leimrut' gangen, und sei du gäng ruhig, von denen in der Schur, vom Alten oder vom Jungen, will der Vater nüd meh wissen.«

»Anneli, wo steckst?« rief der Bauer in der Stube, und die Bäurin folgte hastig dem Rufe.

Es war heute augenscheinlich ein Tag für Staatsaktionen in der Zwihl, denn man sah sofort den Hausherrn und seine würdige Hälfte von der Stube her über den geräumigen Flur nach der Treppe gehen, welche ins Oberstübli führte, von wo die Hausbewohner alle wichtigen Beschlüsse und Erlasse ausgehen zu sehen gewohnt waren.

Im Vorübergehen an der offenen Küchentüre rief der Bauer seinen Töchtern zu:

»Nu, ihr Meitschi, machet gäng, daß ihr waidli wieder uf d' Bühlmatt' kommet. Wenn ihr euch brav an d' Arbeit haltet, cha ma den heutigen Frühschnitt morgen fürzundeltrocken eintun.«

Rosi bemerkte, daß der Vater, die Treppe hinaufsteigend, einen Blick nach ihr zurückwarf, und es wollte ihr vorkommen, dieser Blick sei ein freundlicherer gewesen, als sie seit lange von ihm zu erhalten pflegte.

»Gib acht, Rosi,« wisperte 's Vreneli, als es mit der Schwester das Haus verließ, »das hat gäng ebbis z' bedeuten. Für nüd und aber nüd geht der Vater nit an 'em Werchtig mit dem Muetti ins Oberstübli.«

Die Nachmittagssonne brannte heiß auf die Bühlmatte herab, und die beiden Mädchen hatten die Hände wacker zu rühren, um ihr Geschäft zu Ende zu bringen. Endlich, kurz vor Sonnenuntergang, waren die duftenden Grummetschwaden regelrecht zu zierlichen »Schochen« zusammen gehäuft, in welcher Gestalt sie der Einwirkung des Nachttaus besser zu widerstehen vermochten, und die Schwestern machten sich nach vollbrachtem Werk auf den Heimweg.

Vreneli ging voran und stimmte munter einen Jodler an, daß die Bergwand, an deren Fuß der Weg im Zickzack hinführte, von der hellen Stimme des frohherzigen Mädchens widerhallte. Rosi folgte langsamer, blieb dann ganz zurück und setzte sich auf einen Stein am Wege. Sie nahm den breitrandigen Strohhut ab, damit ihre heiße Stirne sich verkühle, und blickte auf das Tal hinab, welches im abendlichen Frieden vor ihr lag. Da und dort sah man kleine Gruppen von Dorfleuten aus den Matten und Feldern heimwärts schlendern. Durch die Schluchten drüben rauschte eintönig der Fluß wie tagmüde und die Berggipfel schwammen im Purpurlicht des scheidenden Tagesgestirns, während auf die Niederung schon die Schleier der Dämmerung sich zu breiten begannen. Die Szene war ganz dazu angetan, einen Bergwanderer zu entzücken, aber die Wahrheit zu sagen, Rosis Gedanken machten sich wenig mit der schönen Abendlandschaft zu tun. Nicht einmal ihre Augen. Von ihrem Ruheplatz aus war linkshin das neue Haus auf dem Hügel am See zu sehen, und dorthin waren ihre Blicke gerichtet, so fest, so selbstvergessen, daß sie zusammenfuhr, als der Schall derber Schritte sie aufstörte.

Hinter einer Arvengruppe hervor kam der Zwihlbauer auf seine Tochter zu, und im nächsten Augenblick war er bei ihr. Sie achselte ihren Rechen, um sich dem Vater auf dem Heimweg anzuschließen. Allein der Bauer stand still, schaute nach der Richtung hin, woher er gekommen, und sagte trocken:

»So, so, Rosi? Da sieht ma gäng gut ins Bödeli nüber.«

Das Mädchen senkte die Augen.

»Seid ihr fertig worden da drunten auf der Bühlmatt'?« fragte der Bauer.

»Ja, Vater.«

Der Bauer sah das schöne Kind an, wie es so verlegen vor ihm stand, und etwas wie väterlicher Stolz blitzte in seinem Falkenauge auf. Dann sagte er:

»Was wahr ist, ist wahr. Der Ruodi hat sich ein hablich's Heime eingericht't. 's fehlt seinem Haus gäng jetzt nur noch e recht's Huswyb.«

Rosi senkte den Kopf noch tiefer, und das Blut schoß ihr bis zu den Schläfen hinauf. Um doch etwas zu sagen, fragte sie:

»Wo kommt Ihr denn her, Vater?«

»Woher ich komm'? Woher werd' ich kommen? Vom Rütli komm' ich.«

»Vom Rütli?« entgegnete Rost mit einem Ton, worin Überraschung, Staunen, Freude und Angst sich mischten.

»Nu, ja doch, Rosi. Weißt, Chind, ich mußt' gäng mit dem Ruodi ein Wörtli reden von wegen der Aussteuer und der Hochzeit, da du ihn doch absolute haben willst. Der Dunder schlag'!« Rosi ließ den Rechen fallen und sprang dem Vater an den Hals, weinend, lachend, halb närrisch vor Glück.


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