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6

Genug – der nun schon vierzigjährige Humorist wollte und konnte eines Tages nicht mehr Liebling sein und begab sich aus der seßhaften Münchner Atmosphäre hinaus und auf die Tour des Pendelns zwischen Erfolgswelt und Natur.

Natur!

Was wußten denn die in den großen Städten von der Natur? Das gleiche, was die meisten heute von ihr wissen: daß es gelegentlich auf dem Lande freier und angenehmer zu leben ist, wenn man sich in Urlaubszeiten einer guten Verpflegung erfreut und vielleicht auch eine Tanzdiele mit dem Auto leicht zu erreichen weiß. Wenn die Lederhose den Anschein erweckt, als sei sie kein Urlaubskostüm, sondern bekleide bodenständige Schenkel. Wenn vorübergehend Erdgeruch nicht aus Parfümflaschen bezogen zu werden braucht und Blut wie Boden nicht nur dem Unterhaltungsteil der Zeitungen überantwortet scheinen.

Was aber ist ein Dorf in Wahrheit? Ist es nicht der letzte Besitz und die Zuflucht jener Urgewalten, aus deren Wirken das Dasein die stärkste Lust zu sich selbst empfängt? Wie wäre das Elementare, die Quelle allen Genies, denkbar ohne die Natur? Wo würden wir mit unserer Zivilisation enden, wenn nicht das Primitive immer wieder die Voraussetzungen für die Kultur neu in den Kreislauf des Werdens einfügte?

Und dennoch ist der Dorfmensch zur gleichen Zeit, da der städtische Bürger verspießt war, durchgehend als eine komische Figur und sein Wohnbezirk als eine dem Hörensagen nach allenfalls belustigende Angelegenheit aufgefaßt und hingenommen worden. Wer anders sollte sich nach der großen Schlichtheit, aus der er gekommen war, mit klammernden Organen zurücktasten – wenn nicht der dichtende Künstler, der auch im Unsinn der großen Städte unabänderlich mit den Mächten verbunden blieb, die den Zivilisationsmenschen schon zum Spott geworden waren: dem Ziehen der Wolken, dem Rauschen des Windes, dem wehenden Gewisper der Ähren, dem Vogelruf, dem Tiergebrüll und dem einfachen Sagen des Menschen, der sich mit dem ersten Hahnenschrei zur harten Tätigkeit erhebt und am Abend mit dem Gefühl ins Bett legt: daß Gott mit ihm gewesen sei, da er sichtbar etwas vor sich gebracht habe.

In diese Welt zurück verlangte es den gar sehr, der ohne recht zu wissen, wie, ein Spaßmacher für die Menschen der großen Städte geworden und bei sich dennoch immer ein verhinderter Zauberer und Spökenkieker geblieben war; den bisweilen eine fremdgewordene und doch so wohlbekannte Gestalt auf die Schulter klopfte und dem eine geheimnisvolle Stimme wehend wie ein Lüftchen über Moor und Heide das Wort aus des geliebten Shakespeares »Sturm« ins Ohr raunte:

Frei sollst du sein
Wie Wind auf Bergen –

Nur in der vollkommenen Abgeschiedenheit des Dorfes konnte es ihm auf die Dauer gelingen, sich in seinem kostbarsten Wesen so zu erhalten und zu betonen, daß der Dämon des Verneinens nicht völlig das Übergewicht bekam. Die Künstler in den Städten konnten die Notwendigkeit einer solchen Dauerflucht vor dem Ruhm nicht begreifen, und selbst kluge Köpfe wie der einsichtsvolle Kritiker Hofmiller unterlagen noch viel später dem Irrtum, zu meinen, daß Busch sich mit solchem Abseitsleben die Quelle des künstlerischen Schaffens verschlossen habe. Man hätte es so nehmen können, wenn er ein anderer gewesen wäre. Aber da er einmal so war, und nur so, wie er war, bestehen konnte – ein Beweis für seine Echtheit! – muß man ihm die Gerechtigkeit widerfahren lassen, seinen Eigensinn mit allen Folgeerscheinungen richtig zu finden. Denn im andern Falle hätten zwar die Kritiker die Genugtuung erlebt, ihre Einsicht anerkannt zu sehen, aber Busch wäre an der Überzüchtung seiner selbst genau so zugrunde gegangen wie mancher seiner Zeitgenossen an der Elefantiasis eines fetten Erfolges, dessen letzte Auswirkung ihn nicht einmal mehr in die Lage gesetzt hätte, zu bemerken, daß seine Popularität mit hoffnungsloser Verdünnung gleichbedeutend war.

Ich glaube, es ist keineswegs eine Lästerung, wenn ich sage, unserm berühmten Humoristen wäre es von jenem Zeitpunkte an wohl am liebsten gewesen, sein Verleger hätte wie der des älteren Dumas eine Fabrik gegründet, in der die beliebten Werke des Meisters täuschend echt serienweise von anderen hergestellt worden wären, – nur um ihn selbst in Ruhe und Frieden sein Idyll betreiben zu lassen wie einen zweiten Mörike, der auch lieber im Gras lag und einen Käfer an einem Halm emporsteigen sah, als daß er Bauern, die mit ihrem Herrgott recht gut allein fertig geworden wären, durch Hersagen feierlicher Predigten im beschaulichen Ruhen unterbrach.

Da nun aber in diesem Dasein das Betriebsame ein für allemal dagegen arbeitet, daß Einsiedler zu ihrem Recht kommen, müssen sie wohl oder übel eigensinnig sein und es sich auf die Gefahr hin nehmen, daß die Vernünftigen die Köpfe schütteln, – und sei es auch nur, weil sie jenen die herrliche Eigenbrötelei inständig neiden, der in »Zu guter Letzt« in dem Gedicht vom »Einsamen« diese schmunzelnden Strophen gewidmet scheinen:

Wer einsam ist, der hat es gut,
Weil keiner da, der ihm was tut.
Ihn stört in seinem Lustrevier
Kein Tier, kein Mensch und kein Klavier,
Und niemand gibt ihm weise Lehren,
Die gut gemeint und bös zu hören.
Der Welt entronnen, geht er still
In Filzpantoffeln, wann er will.
Sogar im Schlafrock wandelt er
Bequem den ganzen Tag umher.
Er kennt kein weibliches Verbot,
Drum raucht und dampft er wie ein Schlot.
Geschützt vor fremden Späherblicken
Kann er sich selbst die Hose flicken.
Liebt er Musik, so darf er flöten,
Um angenehm die Zeit zu töten,
Und laut und kräftig darf er prusten,
Und ohne Rücksicht darf er husten,
Und allgemach vergißt man seiner.
Nur allerhöchstens fragt mal einer:
Was, lebt er noch? Ei Schwerenot,
Ich dachte längst, er wäre tot.
Kurz, abgesehn vom Steuerzahlen,
Läßt sich das Glück nicht schöner malen.
Worauf denn auch der Satz beruht:
Wer einsam ist, der hat es gut.

Nun war unserm Wilhelm Busch also mit dem Eigensinne, der ihm bei aller niedersächsischen Gelassenheit noch je eigen gewesen war, die Rückkehr zur Natur gelungen, und es stand ihm frei, sich in seinem Dörfchen mit einer richtigen Gans zu unterhalten, wenn ihm gerade der Sinn danach stand. Wer, wie der Schreiber dieses, die Wonne eines solchen Zwiegesprächs auf dem Lande schon oft ausgekostet hat, der kann dafür einstehen, daß keine Unterhaltung mit Literaten weiblichen oder männlichen Geschlechts einen Ersatz für dergleichen bietet. Und wenn der noch lebende ehrwürdige Pfarrerneffe Nöldeke, der sich vieler Verdienste um die Berichterstattung über das äußere Leben des Onkels Wilhelm rühmen darf, auch den quellenmäßigen Nachweis erbringen sollte, daß sich Busch nie mit einer Gans ausgesprochen habe, – ich erhebe kühn die Stirn und behaupte das Gegenteil. Ja, ich möchte beschwören, daß er an einem Junimorgen des Jahres soundso, als die Familie Nöldeke noch in der Kammer still und dunkel schlief, mit der Nachbarsgans Trina Watschelfuß jene unvergeßliche Unterhaltung hatte, in deren Verlauf sie ihm, von Zischen, Flügelschlagen und Halsgeschlängel unterbrochen, die bemerkenswertesten Aufschlüsse über den Charakter der Gänseriche ins Ohr tuschelte und er ihr, seine Ausdrucksform dem Schnatterischen so naturgetreu wie möglich anpassend, mit Gegicks und Gezischel seine Zustimmung zu erkennen gab.

Im beständigen Umgang mit Bäumen, Tieren, Wolken und Winden ergibt sich jenes wunderbare innere Gleichgewicht, das dem Kind im Menschen dazu verhilft, sich wieder auf die allereinfachste Form des Ausdrucks zu besinnen und, wenn nicht ein Genie zu sein, so doch ihm nahezukommen. Wer hätte noch nie den Unterschied zwischen hergebrachtem Zivilisationsgeräusch und ursprünglichem Sagen wahrgenommen, wie er etwa in der Schilderung eines Geschehens durch einen Holzfäller oder Soldaten zum Ausdruck kommt, aber vielleicht noch unverbildeter durch ein vom Rausch des Erlebten bewegtes Bauernkind.

Lassen wir ihn mit wenigen Sätzen über seine Beziehungen zur kleinen Umwelt selbst sprechen:

»Des Morgens um halb sechs werden die Hühner gefüttert und der schlanke Pfau mit dem Krönchen auf und dem Gefieder von Gold und Edelstein. Das ist der Vornehmste. Er pickt nur wenige Körner; dann geht's trrrrr! Und ein Fächer von tausend Liebesaugen flimmert in der Morgensonne. Das zittert und trippelt und macht mit den Flügeln! Aber die alten Hühnertanten gucken nicht hin, sondern hacken mit ihren harten, knöchernen Nasen im Sande weiter. Es muß wohl ein verwunschener Prinz oder ein metamorphosierter Olympier sein; denn wenn die Frau Brückner, das kleine Waschweibchen, auf den Hof kommt, so fliegt er auf ihren Rücken und faßt sie ganz ordentlich und regelrecht beim Zopfe an. Wenn sie nur nicht nächstens das Eierlegen anfängt. Wenigstens schnattern und gackern tut diese Madam Leda genug.«

Der Anlage Buschs zum Aphoristischen, seiner fast an mathematische Fähigkeiten erinnernden Gabe, das Wesen der Dinge auf eine Formel von wenigen Zeilen zu bringen, kam die Bewegungsfreiheit in der Natur ebenso entgegen wie der Hang zum seligen Nichtstun (der aber bei Künstlern von seiner Art nur die Maskierung eines bescheiden unterbewußt wurlenden Schaffens ist, das wie ein Quellchen in der Tiefe sein Wasser dennoch vorwärtstreibt und irgendwo ans Licht bringt). Alles, was er in diesem Zusammenhang schafft und bastelt, ist von eigener Prägung und darum für alle Zeiten gültig und wertvoll. Wohingegen die Sachen, die er um einer Pointe willen an diese heranbringt und versifiziert, immer »wie aus dem hohlen Bauch« wirken und darum auch wie Spreu verwehen werden. In der Regel sind das Kleinigkeiten, die eben um ihrer Geringwertigkeit willen zunächst vom Publikum mit besonderer Anerkennung begrüßt worden sind; aber zwischen den eigentlichen, den aus seinem Wesen erblühten Äußerungen wirken sie wie mittelmäßige Rosinen in einem guten Kuchen und haben für das Schaffen Wilhelm Buschs so wenig oder nur so Äußerliches zu bedeuten wie die »Läuschen un Rimels« für Fritz Reuters Gesamtwerk.

In diesem Zusammenhang ist es vielleicht nicht unerwünscht, einmal an einem Beispiel vorgeführt zu bekommen, wie aus einem wunderschön empfundenen und brieflich mit unmittelbarer Wirkung niedergelegten Erlebnis ein mittelmäßiges Gedicht entstehen kann.

Wilhelm Busch berichtet:

»Neulich pusselt Nachbar Mumme mit dem Spaten in seinem Garten herum. Dicht bei den Stachelbeerbeeten. Auf einmal springt ein fremder Hund heraus und knurrt und will nicht weg und zeigt die Zähne. ›Der Hund ist toll!‹ so heißt es gleich. Man holt die Flinte – bumm! – Die Kugel geht dem Hunde durch den Kopf, er streckt sich aus und stirbt. Wie man genauer zusieht, liegen drei ganz kleine neugeborene Hündchen im Gebüsch. Ach, meine liebe Frau Anderson! Es regnet und regnet und regnet und hat nur sieben Grad plus.«

Aber in der Gedichtsammlung »Schein und Sein« kommt das, was mit dem: Ach, liebe Frau Anderson! und dem in diesem Zusammenhange unnachahmlichen: Es regnet und regnet – wie eine Offenbarung wirkt, in Versen so trocken wie folgt heraus:

Was fällt da im Boskettgesträuch
Dem fremden Hunde ein?
Geht man vorbei, so bellt er gleich
Und scheint wie toll zu sein.

Der Gärtner holt die Flinte her.
Es knallt im Augenblick.
Der arme Hund, getroffen schwer,
Wankt ins Gebüsch zurück.

Vier kleine Hündchen liegen hier
Nackt, blind und unbewußt.
Sie saugen emsig alle vier
An einer toten Brust.

So treibt er nun also in Wiedensahl das glückhafte Unwesen eines, wenn man so sagen darf, protestantischen »Joculatore dei«, wie der ihm trotz aller Abneigung gegen Rom keineswegs fernstehende Franziskus von Assisi die Bruderschaft der im Herrn Vergnügten genannt hat. Wenn die Mücken der Zweifelsucht auch hier nicht ablassen, ihn immer wieder gründlich zu plagen – er ist endlich doch da angelangt, wo er hingehört: in der bescheidenen Welt der Ackerbauern, Imker und kleinen Leute, die ihr Schwarzbrot und ihren Speck aus der Hand essen und von denen schon die großen römischen Dichter, an ihrer Spitze Vergil, der die Sorgen der Hirten und die Kunst des Ackerbaus besang, ausgingen, und zu denen Dante, nach seinem gewaltigen Aufstieg in der Göttlichen Komödie, zurückkehrte, um sein Dichten in Hirtengesprächen ausklingen zu lassen. Sollten diese alten Herren, die für die Weltkultur schon lange vor dem ebenso angewandelten William Shakespeare von größter Bedeutung waren, ähnlich empfunden haben wie der Einsiedler von Wiedensahl? Wobei zu bemerken bleibt, daß die pusselnde Kleinarbeit im Idyll, sofern sie einen ganzen Menschen echt ausdrückt, von stärkerer und dauernderer Wirkung sein und der Gesamtheit eines Landes mehr bedeuten kann als manche Posaunenbläserei, bei der zwar die Backen, nicht aber (nach entsprechendem Abstand) die Bläser mehr vollgenommen werden. Da ich nicht Literaturgeschichtsschreiber bin und mich also der Pflicht enthoben fühlen darf, mit Ausdeutungen der Werke des verehrten Gegenstandes Grundlegendes zu schaffen, gehe ich in meiner Unbefangenheit stracks dazu über, das Nächstliegende zu tun. Ich versetze mich in die Seele des Lesers und frage treuherzig, wie solche sind: Wie war nun dieser Wilhelm Busch, wenn man ihn so betrachtet, als ob er auch nur ein Mensch wie du und ich gewesen wäre?

Und ich gebe, in der Hoffnung, dadurch nicht anmaßend zu erscheinen, die Antwort: Er war zum mindesten so, daß der geschätzte Leser einen persönlichen Umgang mit ihm nicht abgelehnt haben würde – wenn ihm vielleicht auch peinlich gewesen wäre, zwischenhinein immer wieder feststellen zu müssen: Seine Mucken hatte er weiß Gott zur Genüge, und manchmal hätte man wünschen mögen, daß es ihm möglich gewesen wäre, wenigstens vorübergehend einmal sein Inneres nach außen kehren zu können. Mit anderen Worten und mit denen eines neueren Autors gesprochen:

Er war genau wie du und ich –
teils seelenadlig, teils fürchterlich.

Wenn er von München aus – wie er überraschend oft tat – zu dem bienenzüchtenden Pfarreronkel Kleine (der nach bildlicher Darstellung zu urteilen ein sympathischer Mann von vielen Graden gewesen sein muß) nach Lüethorst flüchtete, wo freundliche junge Mädchen die Landwirtschaft erlernten und ein heiteres Idyll gepflegt wurde, dann hieß es: »Der dicke Vetter kommt!« Einem Menschen aber, der schon Ende der dreißiger Jahre seine hundertachtzig Pfund wiegt und darum mit Recht der Dicke genannt wird, kann man schwerlich ein bösartig-dämonisches Wesen zuschreiben – wenn andererseits auch wieder nicht in Abrede zu stellen ist, daß er gelegentlich doch auch weniger angenehm sein konnte. War er dagegen so recht von Herzen gut – und das war er gewiß immer, wenn er sich in Lüethorst aufhielt – dann kitzelte er wohl die hübschen landwirtschaftlichen Elevinnen gern unter den Armen, wobei er schwerenöterhaft »Kieks!« machte und auch sonstige Vorstudien zum Benehmen des Vetters Franz in der Frommen Helene trieb, indem er die Leiter hielt, wenn die rundlichen Schönen Bohnen abnahmen. Ja, es ist wohl anzunehmen, daß er beim Apfelpflücken auch einmal mit anderen rundlichen Gegenständen in Berührung kam und sich dabei des russischen Sprichwortes entsann (denn die Russen interessierten ihn merkwürdigerweise immer besonders): Wohin rollst du, Äpfelchen?

Im übrigen war sein Verhältnis zur Natur von allem Anbeginn ein so inniges, daß man sagen kann: Eigentlich machte er keine Ausflüge zu ihr zurück, sondern umgekehrt: die Vorstöße in die Welt, nach Hannover, Düsseldorf, Antwerpen, Kassel, Berlin, Frankfurt, München, waren nur Abstecher von ihr weg gewesen – vielleicht auch jugendliche Versuche, sich von ihr unabhängig zu machen. Aber es zeigte sich, daß sie die Stärkere blieb und mit elementarem Zwange den Flüchtling immer wieder zurückholte.


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