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XII.

Heinrich Gollwitz befand sich an diesem Morgen reisefertig in seinem Zimmer.

Er hatte bereits alles geordnet, seine Karriere aufgegeben und wollte die Stadt verlassen.

Es war viel schneller gekommen, als er selbst gedacht. Rapid gingen seine wenigen Barmittel zu Ende, und wollte Gollwitz wenigstens noch einen letzten Notpfennig behalten, so durfte er nicht zögern, sondern mußte fort, um wo anders eine einfache Existenz zu gründen.

Wählerisch durfte er nicht sein; wenn es nur das tägliche Brot zu verdienen gab.

Es war ihm gelungen, sogleich entlassen zu werden, nachdem er schon vor einiger Zeit ein diesbezügliches Ersuchen eingereicht hatte; besaß er doch im Grunde genommen wenig Freunde und auch keine Gönner mehr, seitdem Tante Fallner tot war.

Man sah ihn deshalb gern verschwinden, da der häßliche Verdacht noch immer nicht ganz von ihm genommen war, denn der wahre Mörder wurde ja nicht entdeckt bis dahin.

Gollwitz hatte an Luise jenes Billett geschickt, denn es dünkte ihn unmöglich, zu scheiden, ohne vorher noch einmal die Hände des geliebten Mädchens zu küssen, ein segnendes Wort aus ihrem Mund zu hören.

Er hatte gewartet wohl bis ein Uhr in der Nacht. Aber Luise war nicht gekommen.

Dunkel und schweigend lag das Haus des Sonderlings in dem Garten, nichts regte sich.

Er hatte vergebens gewartet und machte sich wieder auf den Heimweg, tiefste Verzweiflung im Herzen.

Und der qualvolle Gedanke, von Wilberg gehen zu müssen, ohne Luise noch einmal gesehen zu haben, ohne ein letztes, kleines Zeichen von ihrer Hand zu empfangen, war es, der ihn jetzt noch zaudern ließ.

Von seiner Wirtin hatte er sich bereits verabschiedet. Die gute Alte vergoß bittere Tränen über das Unglück ihres armen, jungen Herrn.

Einen größeren Koffer ließ Gollwitz bei Frau Ballin stehen, bis er ihr melden konnte, wohin sie ihn schicken solle. Er selbst nahm nur einen mäßig großen Handkoffer mit, der das Nötigste für die nächsten acht Tage barg.

Wollte Gollwitz nicht den Zug versäumen, der in etwa fünfzehn Minuten nach E… ging, so tat er gut, sich langsam auf den Weg zu machen.

Niemand suchte ihn mehr auf oder schickte ihm etwas. Wozu also noch länger zögern?!

Gollwitz griff seufzend nach dem Hut und stand eben im Begriff, zu gehen, als die Tür rasch aufgestoßen wurde und Balthasar atemlos in das Zimmer stürzte.

»Um Gottes willen!« rief der Referendar. »Ist denn ein neues Unglück geschehen? Kommen Sie von Luise?«

Der Alte war außer Atem auf einen Stuhl gefallen. Er sah sich hastig um.

»Sie wollen fort, verreisen?« keuchte er und rieb sich die Stirn. »Herr Gollwitz, wie kommt das? Sagen Sie, bei allem, was Ihnen heilig ist, haben Sie etwas auf dem Gewissen?«

»Nein, Balthasar, mein Gewissen ist rein, das kann ich Ihnen schwören!« gab Gollwitz ohne Zögern zur Antwort. »Aber spannen Sie mich nicht länger auf die Folter. Sagen Sie mir –«

»Sie haben nichts verschuldet? Ich glaube Ihnen. Aber das tut nichts zur Sache! Herr Gollwitz,« rief der alte Mann, »ich bitte Sie kniefällig, nehmen Sie meine Hilfe an. Wenn Frau Fallner noch fühlen könnte, wie das Unglück Sie verfolgt, wie man mit Ihnen umgeht, sie müßte sich im Grab noch umdrehen.

Alles scheint sich ja gegen Sie verschworen zu haben; was Sie beginnen, schlägt zu Ihrem Nachteil aus. Sie müßten dem Schicksal unterliegen, deshalb ist es besser, Sie gehen ihm aus dem Weg.

Sie wollen fort? Davon haben Sie mir zwar nichts gesagt, sondern wären aus falscher Scham wahrscheinlich ohne Abschied gegangen. So sehr ich Ihnen unter anderen Umständen gezürnt hätte, jetzt sage ich doch, gehen Sie, reisen Sie sofort ab. Sie wollen doch den nächsten Zug benützen?«

»Allerdings – aber –«

»Haben Sie hier noch etwas Notwendiges zu ordnen?«

»Nein, ich brauche nur dies Kofferchen aufzunehmen und zu gehen!«

»Dann kommen Sie; auf dem Weg zur Bahn erzähle ich Ihnen alles weitere!«

Balthasar erfaßte ohne Umstände das Kofferchen und eilte davon. Wohl oder übel mußte Gollwitz folgen.

Die Witwe Ballin eilte ihrem jungen Herrn nach.

»Herr Gollwitz!« rief sie händeringend.

Der Referendar wollte stehenbleiben, doch Balthasar zog ihn gewaltsam weiter.

»Kommen Sie, sonst versäumen Sie den Zug und dann ist alles verloren!«

Die beiden Männer eilten durch die nur wenig belebten Straßen.

»Nun sagen Sie mir aber, Balthasar, was das alles heißen soll?« verlangte Gollwitz zu wissen. »Ist Luise in Gefahr?«

»Kümmern Sie sich doch zunächst um Ihr Schicksal. Sie haben Luise gestern durch mich ein Briefchen zustecken lassen, worin Sie um ein nächtliches Rendezvous bitten?«

»Da Sie es wissen, ja!«

»Sie waren auch im Garten?«

»Ja.«

»Ist Ihnen dabei nichts aufgefallen?«

»Ja doch, warten Sie! Als ich nach vergeblichem Warten mich entfernte, war es mir, als verlasse hinter mir jemand den Garten. Ich dachte an Verfolgung und blieb stehen. In diesem Augenblick schimmerte ein schwacher Mondstrahl durch einen Wolkenriß. Da sah ich einen Mann, eine Gestalt, wenigstens den Umrissen nach ein Mann, soviel ich bemerken konnte, den Garten verlassen. Er kam aber nicht auf mich zu, sondern schlug die Richtung nach dem Walde ein.«

»Sie haben einen Mann gesehen?« antwortete fast schreiend Balthasar. »Besinnen Sie sich, um Gottes willen! Wie sah er aus?«

»Das kann ich nicht sagen, ich sah sein Gesicht nicht!«

»Dachte ich mir's doch! Das alte Mißgeschick. Hätten Sie diesen Mann verfolgt, festgehalten, so wäre das Unglück vorbei!«

»Wieso?«

»Vernehmen Sie denn, es ist abermals diese Nacht bei Brak eingebrochen worden; viertausend Mark sind geraubt. Der Täter muß stets derselbe sein, Mörder und Dieb jener Mensch, den Sie den Garten verlassen sahen. O, hätten Sie ihn doch festgehalten! Dadurch wäre alles gut geworden, denn nun sind Sie wieder verdächtigt, den Diebstahl ausgeführt zu haben.«

»Ich? Mein Gott, weshalb denn immer ich? Warum läßt man mich denn nicht in Ruhe?« rief Gollwitz.

»Das ist Ihr Unglück; ohne es zu wollen, verdächtigten Sie sich selbst! Brak hat den Brief gefunden, den Sie an Luise schrieben, er hat die Polizei benachrichtigt. Der Inspektor kam eben von dem Brakschen Haus zurück und erzählte mir die Sache.

Man weiß, daß Sie in dieser Nacht im Garten waren, und man wird ebensowenig glauben, daß Sie einen Mann gesehen haben, als man fest glaubt, Sie hätten das gestohlene Geld einfach vergraben. Deshalb die erfolglose Haussuchung. Sie haben keine Zeit zu verlieren, wenn Sie nicht in der nächsten Stunde verhaftet sein wollen.«

»Halt!« versetzte Gollwitz und blieb plötzlich stehen. »Ich bleibe! Eine Flucht würde nur einen Beweis meiner Schuld abgeben.«

»Fort!« Fast gewaltsam zog der alte Mann den Referendar mit sich. »Sie dürfen nicht bleiben, weil Sie eine andere Aufgabe zu erfüllen haben. Werden Sie heute verhaftet, so wird man Ihnen nicht nur diesen Diebstahl, sondern auch wieder den Mord zur Last legen, denn das ist gewiß, der Dieb ist auch der Mörder. Und des Diebstahls wird man Sie überführen, auch wenn man kein Geld vorfindet. Das darf nicht sein!

Sie müssen entfliehen, für schuldig hält Sie morgen ohnedies jedermann. Verbergen Sie sich und suchen Sie nach einiger Zeit heimlich hierherzukommen, um den Mörder zu entdecken, der unbedingt in nächster Nähe sein muß. Ist dies gelungen, so können Sie hervortreten und sind glänzend gerechtfertigt. Ihr Hierbleiben hat durchaus keinen Wert. Seien Sie doch vernünftig, Herr Gollwitz!«

»Aber Luise! Was wird sie zu erdulden haben?« rief der junge Mann.

»Ich werde sie trösten, so gut ich vermag; es wird ja nicht zum Schlimmsten kommen. Da sind wir am Bahnhof. Warten Sie, ich löse Ihnen ein Billett!«

Und schon war der Alte davongeeilt.

Verwirrt, betäubt von all dem, was so plötzlich auf ihn einstürmte, stand Gollwitz auf dem Perron und sah den Zug heranbrausen.

Sollte er bleiben, allem die Stirn bieten?

Aber Balthasar hatte recht; so wie jetzt die Dinge lagen, durfte er dies nicht.

Balthasar kam zurück.

»Hier, Herr Gollwitz; ich habe zweite Klasse genommen, Sie können ungestört überlegen, wie Sie sich am besten die Zukunft gestalten. Das Billett lautet auf E…; ich möchte Ihnen aber raten, schon früher auszusteigen, sobald es ungestört geschehen kann. Die Polizei wird rasch hinter Ihnen her sein. Nun steigen Sie ein!«

Balthasar schob das Kofferchen in ein leeres Kupee. Gollwitz stieg ein, Balthasar folgte für einen Augenblick.

»Daß ich Luise nicht mehr sehen, sprechen konnte!« seufzte der Referendar.

»Versprechen Sie mir, vorsichtig zu sein und den Zweck Ihres Lebens, die Entdeckung des Mörders, nicht aus dem Auge zu lassen! Wenn ich ihr dies als Abschiedsgruß bringe, wird sie ebenso getröstet sein.«

»Ich verspreche es Ihnen – halt, Balthasar!« rief Gollwitz plötzlich. »Was haben Sie da auf den Sitz gelegt?«

Der alte Mann wurde förmlich verlegen.

»Nehmen Sie es mir doch nicht übel, Herr Gollwitz,« sagte er hastig. »Es ist ja nur eine kleine Summe! Denken Sie doch, meine arme gemordete Herrin würde es selber gutheißen, daß ich Ihnen diese schwache Hilfe angedeihen lasse, damit Sie endlich den Mörder finden. Daß man Sie dafür hält, kann ihr doch nicht recht sein.«

Die Pfeife des Zugführers ertönte. Balthasar hatte kaum Zeit, daß er heraussprang.

Gollwitz stürzte mit der kleinen Brieftasche an das offene Fenster.

Er wollte sie hinauswerfen, doch in demselben Augenblick sah ihn Balthasar so flehend an, daß er diesen Vorsatz vergaß.

»Denken Sie an Ihre Arbeit! Auf Wiedersehen!« rief der alte Mann noch vom Bahnsteig aus.

Dann donnerte der Zug davon, über die eiserne Brücke Wilbergs, hinein in den frischen Morgen, hinein in eine ungewisse Zukunft.

Gollwitz fiel auf den Sitz zurück.

»Was wird daraus werden?« stöhnte er. »Wie werden sich die nächsten Tage für mich gestalten?«

Dann zog plötzlich ein starrer, energischer Ausdruck um seinen Mund.

»Ich werde tun, was Balthasar verlangt! Ich bin es mir selbst, bin es Luise und der armen Tante schuldig. Hier schwöre ich es, nicht zu rasten und zu ruhen, bis ich den elenden Mörder und Dieb entdecke. Bis dahin will ich mich verbergen, als wäre ich selbst der blutbefleckte Mörder, unter dem Dunkel der Nacht operieren und, wenn es sein müßte, in Höhlen mich verkriechen, wie es gehetzte Tiere tun. Habe ich aber den Dieb und Mörder, dann keine Gnade! Das schwöre ich bei Gott, dem Allwissenden, der in mein Herz blickt und weiß, daß es frei von Schuld ist!«

*

Die Polizei hatte im Hause Braks mit peinlichster Sorgfalt alles untersucht und aufgenommen.

Diesmal gab der aufgebrachte Sonderling wirklich seine Tochter preis und lieferte den Brief des Referendars aus.

»Gollwitz ist der Täter!« war immer die gleiche Entgegnung auf jede diesbezügliche Frage des Kommissars.

Der Fall war tatsächlich rätselhaft.

Man stand vor einem offenbaren Geheimnis.

Ohne daß dem eindringenden Dieb von innen geöffnet wurde, war die Sache überhaupt unausführbar.

Dann mußte die im Zimmer versteckte zweite Person ebenso durch das Fenster mit dem Dieb gestiegen sein, sonst wäre es nicht möglich, daß die Tür, die in das Wohnzimmer führte, auch noch am Morgen von innen verschlossen war.

Der Kommissar meinte kopfschüttelnd, wenn Luise diese Person gewesen wäre, so könne man doch nicht annehmen, daß das Mädchen den halsbrecherischen Weg über die Hausmauer machte.

Peter Brak aber versetzte heftig, daß es eben doch so sein müsse, da es gar keine andere Erklärung gebe.

Übrigens wäre Luise in ihren Kinderjahren gesprungen und geklettert gleich einem Jungen.

Der Kommissar hatte Luise vernommen.

Sie gestand, daß sie den Brief von Gollwitz erhalten habe, aber das Haus in der Nacht nicht verließ.

Die Angelegenheit, die Gollwitz mit ihr besprechen wollte, könne sich nur um die Zukunft handeln, um seine Karriere, die er aufgeben müsse, da er ohne Vermögen sei. Wollte er ihr etwas anderes sagen, so war ihr dies eben nicht bekannt.

Hinter dem Rücken ihres Vaters habe sie mit Gollwitz seit dem Tag des Prozesses nicht mehr gesprochen.

Durch wen sie seinen Brief erhalten hatte, weigerte sie sich anzugeben.

Doch erklärte sie auf das bestimmteste, daß es sich in dem Schreiben nicht um das Aussteigen durch das Fenster der Arbeitsstube handle, sondern um ein Parterrefenster, das ganz nahe am Boden lag und auch nur ein einziges Mal von ihr benutzt wurde.

Daß sie sich in dem Arbeitszimmer im Lauf des Abends versteckte, wies sie weit von sich, ebenso mit Entrüstung, daß sie sich mit Heinrich Gollwitz verbündet habe, um den Vater zu bestehlen.

Ihre, wie die Unschuld des Referendars, würde gewiß eines Tages bewiesen werden.

Der Kommissar wußte nicht mehr, was er denken sollte. Dis alte Magd bestritt ebenfalls auf das entschiedenste, etwas von dem Diebstahl zu wissen.

Man durchsuchte jeden Winkel des Hauses, um eine Person zu entdecken, die sich vielleicht dort verborgen hielt. Nichts fand man, auch nicht die leiseste Spur.

Selbst der Polizeibeamte geriet in Hitze. Das war ja geradezu zum Tollwerden!

Wer war der Täter? Wie kam er herein?

Gollwitz war schwer belastet, dagegen ließ sich nichts anführen, und nach reiflicher Überlegung sagte sich der Kommissar auch, daß niemand als er schließlich der Täter sein könne.

Er hatte die Spuren am Fenster und in den Ranken betrachtet.

Es war nichts Deutliches, Ausgeprägtes, kein voller Fuß und nur die Zweige der wilden Reben geknickt.

Ein Mensch war hier, dies stand fest.

Von einer Verhaftung Luises glaubte der Beamte absehen zu dürfen, ihre Schuld war durch nichts erwiesen.

Dagegen galt es, sich des Referendars zu versichern, der ja, laut dem Inhalt seines Briefes an Luise, fort wollte. Schon dies war einigermaßen verdächtig.

Der Polizeikommissar begab sich nach der Stadt und ließ Peter Brak in voller Raserei seines gestohlenen Geldes wegen zurück.

Bevor er einen weiteren Schritt tat, besprach er sich mit dem Oberamtsrichter.

Dieser war sogleich damit einverstanden, Gollwitz augenblicklich zu verhaften.

»Haben wir den feinen Herrn nur erst einmal dieses Diebstahls überführt, so wird es ein leichtes sein, ihm auch den Mord an Frau Fallner zu beweisen!« rief der würdige Mann.

»Sie glauben noch immer fest daran, daß Gollwitz der Mörder ist?«

»Jawohl, jetzt mehr als je!« erwiderte der Oberamtsrichter. »Ich bitte Sie, wo soll denn der geheimnisvolle Mörder stecken? Sie werden ja sehen, daß diesmal die Geschichte etwas anders hinausgeht. Versichern Sie sich nur rasch des Burschen, damit er uns nicht vorher entwischt. Er hat doch keine Ahnung von dem, was gegen ihn schwebt?«

»Ich glaube nicht und werde sogleich die Verhaftung selbst vornehmen.«

Der Kommissar hatte wohl die Absicht, sich der Person des Referendars zu versichern, konnte sie aber nicht mehr ausführen, denn als er die Wohnung des jungen Mannes gegen zehn Uhr vormittags betrat, erfuhr er, daß Gollwitz längst abgereist war.

»Zu spät!« fluchte der Beamte, ließ sich jedoch in aller Eile von Frau Ballin die nötigsten Mitteilungen geben.

»Also Balthasar war bei ihm diesen Morgen in aller Frühe?« rief er, plötzlich von einem Gedanken durchzuckt. »Da erklärt sich ja alles, auch durch wen Luise Brak den Brief erhielt. Das hätten wir früher wissen sollen! Wohin reiste Gollwitz?«

»Er wollte nach E…,« erwiderte die Witwe aufgeregt, »aber als er ging, war er so eilig und aufgeregt, daß ich gar nicht mehr recht Abschied von ihm nehmen konnte. Er stürzte nur so fort.«

»Allein?«

»Nein, Balthasar war bei ihm.«

»So, so! Nun, wir werden mit dem Alten auch noch ein Hühnchen pflücken.«

»Was ist denn schon wieder geschehen, Herr Kommissar?« bat die Witwe. »Ich habe seit diesem Morgen, als mich mein junger Herr verließ, eine ganz schreckliche Angst in mir herumgetragen.«

»Herr Brak ist abermals bestohlen worden, und es liegen alle Anzeichen vor, daß Gollwitz der Täter ist.«

»Herr Gollwitz?« schrie die Alte auf. »Allgerechter Gott! So wollten Sie ihn am Ende gar verhaften?«

»Jawohl!«

»Tun Sie es nicht; ich lege die Hand für ihn ins Feuer, beide Hände. Er ist so unschuldig, wie ein neugeborenes Kind!«

»Das verstehen Sie nicht, gute Frau!« schnitt ihr der Kommissar das Wort vom Mund ab. »Befindet sich nichts mehr hier, das Gollwitz gehört?«

»Doch, sein großer Koffer.«

»Das ist gut, ich werde ihn später durchsuchen. Was nahm er denn mit?«

»Nur ein kleines Handköfferchen.«

»Wissen Sie vielleicht, daß in diesem größere Summen lagen?«

Die Alte schüttelte den Kopf.

»Mein junger Herr ist ja sehr unglücklich geworden; er hatte kaum mehr die Mittel zum Leben. Deshalb ging er ja gerade von hier fort.«

»Das wissen wir nun doch etwas besser, liebe Frau!« versetzte der Kommissar.

Er verließ das Haus und begab sich nach dem Bahnhof.

»Jetzt gibt es gar keinen Zweifel mehr an der Schuld des Referendars,« sagte er sich. »Er ist in wilder Hast entflohen, nachdem ihn Balthasar warnte. Das dürfte dem Alten doch etwas teuer zu stehen kommen. Nützen wird es Gollwitz auch nichts, denn wozu hätten wir den Telegraphen. Er kann kaum recht E… erreicht haben und wird dort einen wirkungsvollen Empfang finden.«

Die Recherchen, die er auf dem Bahnhof einzog, bestätigten, daß Gollwitz mit dem Morgenzug nach E… reiste, sowie daß er bis zum Zug von dem alten Diener Balthasar begleitet wurde.

Der Telegraph spielte sogleich auf der ganzen Strecke. Bis die Antwort zurückkam, ging der Kommissar in die Wohnung der Witwe Ballin zurück, indem er einen Polizisten von der Straße mitnahm. Der Koffer des Referendars wurde erbrochen.

Dieser enthielt jedoch durchweg unverdächtige Effekten. Nicht das geringste fand sich, das auf die Täterschaft des jungen Mannes bei dem Diebstahl oder Mord hingewiesen hätte.

»Er ist klug genug, alles zu beseitigen!« sagte der Beamte.

Er ging nach seinem Bureau und gab Befehl, den Diener Balthasar vorzuführen zum Zweck einer polizeilichen Vernehmung.

Während der Kommissar die Durchsuchung von Gollwitz' Effekten leitete, waren bereits telegraphische Antworten aus E… eingetroffen.

Mit großem Interesse las sie der Beamte.

Gollwitz konnte nicht festgenommen werden, da er sich nicht mehr in dem Zug befand, der von Wilberg kam. Folglich hatte er schon früher den Wagen verlassen.

Eine sofortige Vernehmung der Schaffner hatte kein Resultat ergeben.

Gollwitz saß allein in einem Kupee.

Er mußte sich irgendwo ganz unbemerkt entfernt haben. Diese Station anzugeben, war dem Schaffner jedoch unmöglich. Erst kurz vor E… hatte er das Verschwinden des Passagiers entdeckt und sich darüber gewundert.

Sofortige telegraphische Recherchen führten auch zu keinem besseren Resultat.

Gollwitz war vorläufig entkommen, und befand er sich im Besitz von Geldmitteln, woran der Kommissar nun gar nicht mehr zweifelte, so war es möglich, daß der Referendar sich für lange Zeit, wenn nicht für immer, unsichtbar machte. Der ganze Zorn des Beamten richtete sich gegen Balthasar, da Gollwitz einzig entkommen konnte, weil ihn der Alte warnte.

Es dauerte nicht lange, so wurde Balthasar vorgeführt.

Er wußte bereits, um was es sich handelte, und kannte auch keine Furcht.

Nur jetzt, beim Eintritt in das Dienstzimmer, warf er einen forschenden Blick auf den Kommissar, da er gern gewußt hätte, ob Gollwitz entkam.

Er konnte sich etwas beruhigen, denn der Polizeibeamte befand sich in schlechter Stimmung, dies war offenbar.

»Ich habe wohl gar nicht nötig, Ihnen mitzuteilen, was der Zweck Ihres Hierseins ist?« begann kurz der Kommissar.

»Ich denke mir, es handelt sich um den Diebstahl, der diese Nacht im Hause des Herrn Brak verübt wurde!« sagte Balthasar.

»Es ist so! Durch wen haben Sie diesen Morgen in aller Frühe die Sache erfahren?«

»Durch den Herrn Polizeiinspektor Brak.«

»Aha! So verhält es sich! Um so schlimmer. Der Herr Inspektor ahnte wohl nicht, daß er uns einen recht empfindsamen Streich versetzte, als er Ihnen die Sache erzählte!«

»Ich verstehe nicht, wie Sie das meinen?« erwiderte Balthasar harmlos.

»Sie verstehen es ganz gut!« brauste der Beamte auf. »Ihre Verstellung nützt Ihnen rein gar nichts mehr. Oder wollen Sie leugnen, daß Sie in aller Frühe, unmittelbar nachdem Sie von dem Inspektor unterrichtet wurden, hierhereilten zu Gollwitz?«

»Durchaus nicht!«

»So! Aber vielleicht leugnen Sie, daß Sie ihn von dem Vorgefallenen unterrichteten?«

»Auch das nicht. Ich sagte Herrn Gollwitz alles, auch daß auf ihn der Verdacht fiel!«

»Und so haben Sie ihm zur Flucht verholfen, haben es fertig gebracht, daß dieser gefährliche Bursche entwischen konnte.«

Gollwitz war also entkommen! Nun ward Balthasar vollkommen ruhig.

»Sie haben sich dadurch zum Mitschuldigen dieses Verbrechers gemacht, dem man auch noch den Mord an Frau Fallner im Wiederaufnahmeverfahren beweisen wird!«

Bis hierher hatte Balthasar ruhig zugehört.

Nun aber hielt er es an der Zeit, sich ebenfalls seiner Haut zu wehren.

Er richtete sich energisch auf.

»Es ist nicht schwer, Herr Kommissar,« sagte er, »einen alten Mann zu beschimpfen. Ich bin aber, Gott sei Dank, noch rüstig genug, um mich meiner Haut zu wehren. Mitschuldiger eines Verbrechers bin ich nicht, selbst nicht, wenn Herr Gollwitz wirklich ein Verbrechen begangen hätte, was ich einfach niemals glaube. Als ich diesen Morgen erfuhr, welch neues Unglück den armen jungen Mann bedrohe, eilte ich zu ihm, um ihm dies mitzuteilen. Das ist doch nur selbstverständlich und kein Verbrechen.«

»Aber Sie haben ihn zur Flucht veranlaßt!«

»Das bestreite ich entschieden. Herr Gollwitz stand, als ich bei ihm eintrat, vollkommen reisefertig da, und das kann seine Wirtin bestätigen. Es ist nicht meine Sache, ihn gewaltsam zurückzuhalten, wenn er fort will, ich bin kein Polizist. Das kann auch keine Behörde von einem alten Mann verlangen.«

Der Kommissar biß sich ärgerlich auf die Lippen.

»Aber Sie müssen doch einsehen, daß es verwerflich ist, einen schwer verdächtigten Menschen zu unterrichten, daß die Polizei bereits auf seiner Spur ist?« rief er.

»Vielleicht wäre es verwerflich, wenn ich Gollwitz für einen Verbrecher hielte, das ist jedoch nicht der Fall. Ja, im Gegenteil, ich fühlte mich sogar verpflichtet, Herrn Gollwitz das neue, drohend gegen ihn heraufziehende Unheil mitzuteilen, denn er war der Schützling meiner armen Herrin, und wenn ich ihn von einem neuen Unglück, das ihm bevorstand, unterrichtete, so handelte ich nur in ihrem Sinn. Daß Herr Gollwitz dann abreiste, wie er sich schon vorgenommen hatte, ist das etwa meine Schuld?«

Der Kommissar sah ein, daß er auf diese Weise mit dem alten Mann nichts anstellen konnte.

Die Witwe Ballin war gewiß jederzeit bereit, auszusagen, daß tatsächlich Gollwitz bereits im Begriff stand, das Haus zu verlassen, als Balthasar kam.

»Sie behaupten also, daß Gollwitz auch ohne Ihre Mitteilung abgereist wäre?« sagte er.

»Jawohl, das ist die Wahrheit!«

»Wohin wollte Gollwitz?«

»Nach E…, soviel ich weiß!«

»Er ist dort nicht angekommen!«

»Dann hat er seine Tour geändert, ich weiß darüber nichts.«

»Hat er Ihnen nicht verraten, was er für die Zukunft tun wollte?«

»Er wollte sich eine neue Existenz gründen, nachdem ihm die jetzige durch den schmachvollen Verdacht des Mordes, durch den Tod seiner Wohltäterin zerstört wurde.«

»Aber daß dieser Verdacht nun mehr als begründet ist, werden Sie doch zugeben? In der Nacht wird der Mord verübt und gleichzeitig steigt ein Dieb in das Arbeitszimmer des Herrn Brak. Der Dieb ist unbedingt auch der Mörder. Dieser Diebstahl trug das erstemal nichts ein, das zweitemal zu wenig und wurde deshalb in heutiger Nacht wiederholt.

Jetzt reicht es wahrscheinlich; es sind siebentausend Mark, mit denen sich ein mittelloser Mann schon eine Zeitlang über Wasser halten kann. Am frühesten Morgen nach dem Einbruch reist Gollwitz ab, nachdem es erwiesen ist, daß er in der Nacht sich im Garten Braks aufhielt. Und da wollen Sie noch Partei für einen solchen Menschen ergreifen?«

»Ich gebe es zu, Herr Kommissar, Herr Gollwitz ist sehr stark verdächtigt, und man könnte verzweifeln in seiner Sache. Aber er ist weder der Dieb, noch der Mörder. Daran halte ich fest bis in alle Ewigkeit!« entgegnete Balthasar unerschütterlich.

»Das ist schließlich Ihre Sache,« versetzte der Kommissar kurz. »Wie aber Herr Brak über Gollwitz denkt und urteilt, ist Ihnen wohl auch bekannt. Und daß es auf ihn einen sonderbaren Eindruck machen muß, wenn er erfährt, daß Sie, sein Diener, zu dem Mann halten, der sich durchaus nicht völlig von dem Verdacht des Mordes zu reinigen vermochte, nachdem man ihm nun auch diesen Einbruchsdiebstahl beweisen wird, vermögen Sie sich doch leicht vorzustellen.«

»Es tut mir leid, daß ich Herrn Brak kränke, aber ich kann nicht anders!« erwiderte Balthasar. »Gollwitz ist kein Mörder, er ist auch kein Dieb. Im Garten Braks war er, das gibt er selbst zu, aber als er sich entfernte, nachdem er vergeblich auf Fräulein Luise gewartet hatte, stieg auch noch ein anderer Mann aus dem Garten.«

»Was sagen Sie da?«

»Ein Mann verließ nach Gollwitz den Garten. Dieser muß der Dieb sein und also auch der Mörder.«

»So!« machte mit einem Lächeln der Polizeibeamte. »Da greife ich nun aber doch wohl nicht fehl, wenn ich behaupte, daß Gollwitz wahrscheinlich das Gesicht dieses ›Unbekannten‹ wieder nicht gesehen hat, überhaupt die Person gar nicht zu beschreiben vermag?«

»Das ist leider der Fall!« mußte Balthasar gestehen.

»Nun, da haben wir es ja! Die Sache ist ein recht schlecht erfundenes Märchen und hat gar keinen Zweck, ich gehe nicht darauf ein.«

»Daran tun Sie unrecht, Herr Kommissar!«

»Ah bah! Wer glaubt an solchen Unsinn? Hat Ihnen Gollwitz sonst nichts erzählt?«

»Nein!«

»Daß er im Besitz von Geldmitteln ist?«

»Nein!«

»Na, das ist wieder ein Beweis seiner Schuld, sobald er es fertig bringt, sich uns auf die Dauer zu entziehen, denn ohne Geldmittel wäre das einfach nicht möglich.«

Darauf schwieg Balthasar.

»Nachdem sich nun herausgestellt hat, daß Sie für Gollwitz die wärmsten Sympathien hegen, so gestehen Sie wohl auch, daß Sie den bewußten Brief an Luise Brak besorgten?«

Der Alte überlegte einen Augenblick, dann aber sagte er geradezu trotzig:

»Ich tat es, weshalb sollte ich es leugnen. Meine arme Herrin billigte die projektierte Verbindung zwischen Herrn Gollwitz und Fräulein Luise. Wenn ich also ein harmloses Billett dem Fräulein zusteckte, selbst gegen den Willen des Vaters, so ist dies auch kein Verbrechen, wegen dessen mich die Polizei zur Rechenschaft zu ziehen vermag.«

»Das ist möglich,« warf der Kommissar hin. »Ihr Tun wird jedoch von nun an scharf bewacht werden, da wir wissen, was wir von Ihnen zu halten haben.«

»Wie es Ihnen beliebt, Herr Kommissar. Ich kann ganz ruhig sein, denn ich bin mir keiner schlechten Tat bewußt und mein Haar ist in Ehren grau geworden.«

Nach einigen nebensächlichen Bemerkungen wurde Balthasar entlassen.

Er konnte nicht festgehalten werden, trotzdem sein Benehmen in der Öffentlichkeit auf das schärfste verurteilt wurde.

Hinter Heinrich Gollwitz wurde ein Steckbrief erlassen, der aber vorläufig ohne Resultat blieb.

Wenige Tage nach dem Verhör Balthasars trat der alte Mann reisefertig in das Zimmer des Inspektors Brak.

»Sie wollen fort, Balthasar?« sagte der Inspektor etwas kalt, da er dem Alten nicht vergessen hatte, daß er sogleich von hier aus zu Gollwitz geeilt war.

»Jawohl, Herr Inspektor,« nickte Balthasar. »Sie wissen ja doch, daß mich Ihr Herr Bruder entlassen, eigentlich, besser gesagt, davongejagt hat. Er hatte nach seiner Ansicht ja schließlich das Recht dazu. Und, offen gesagt, ich hätte es auch nicht mehr lange in seinem Dienst ausgehalten.

Bei meiner seligen Herrin war das etwas anderes. Sie hätte, gleich mir, Herrn Gollwitz niemals die Schlechtigkeiten zugetraut, deren ihn jetzt alle Welt für fähig hält. Auch Ihr Glaube an seine Unschuld ist erschüttert, ich weiß es wohl.

Aber ehe ich von hier gehe, um vielleicht niemals wieder zu kommen, habe ich zwei letzte Bitten noch. Die eine ist, daß Sie mir vergeben mögen, weil ich Gollwitz an jenem Morgen aufsuchte, ich konnte ja nicht anders.

Die andere aber ist, daß Sie Fräulein Luise in Ihren Schutz nehmen und weiter den Mörder zu entdecken versuchen. Eine Nacht wird er wieder erscheinen, davon bin ich fest überzeugt, er ist der Dieb und Mörder in einer Person. Und wenn Sie ihn haben, halten Sie ihn fest, damit alle Welt erfährt, daß Gollwitz unschuldig ist.«

Einen Augenblick zögerte der Inspektor, dann reichte er Balthasar die Hand.

»Ich habe Sie immer als einen ehrlichen Mann geschätzt,« sagte er. »Ihre beiden Bitten will ich gewähren, so weit es eben in meiner Macht steht. Bald halte ich Gollwitz für schuldig, bald für unschuldig. Ich hoffe, daß ein Tag kommt, der uns allen Gewißheit bringt.«

»Darauf hoffe auch ich, Herr Inspektor, dieser Tag wird und muß kommen. Ich danke Ihnen herzlich, daß Sie meine Bitten erfüllen wollen.«

»Wohin gehen Sie?«

»Nach E…, wo ich meine alten Tage in Ruhe verleben werde. Ich habe dort eine alte Schwester, die in einem kleinen Häuschen vor der Stadt ganz allein wohnt. Glücklicherweise habe ich mir in den langen Jahren soviel erspart, um den Rest meines Lebens sorglos verbringen zu können.

Ich weiß zwar, daß die Polizei in E… einen Wink erhalten wird, mich polizeilich zu überwachen, aber das ficht mich nicht an. Ich stehe mit dem entflohenen Gollwitz in keiner Verbindung und brauche deshalb auch nichts zu fürchten.«

Der Inspektor ging mit Balthasar und der alten Magd durch den Garten nach dem Gitter.

Dort nahm Balthasar noch einmal kurzen Abschied, wobei ihm die Tränen in den Augen standen, als er einen letzten Blick auf die Besitzung warf, in der er die längste Zeit seines Lebens verbracht, in der seine arme Herrin hingeschlachtet wurde.

Dann schritt er allein weiter.

Wie er am Garten Braks vorbeikam, verlangsamte er seinen Gang und sah sich um.

Da traf ein Ruf sein Ohr. Eine der Hecken am Zaun ward auseinandergebogen.

Es war Luise, die den alten Mann anrief.

Ihr feines Gesicht war tiefbleich und unter den Augen lagen bläuliche Schatten.

Die beiden konnten nur kurzen Abschied nehmen. Aber ehe er ging, sagte Balthasar:

»Fräulein Luise, man soll nicht die Kinder gegen die eigenen Eltern aufbringen, aber ich weiß, daß Ihr Vater Sie in letzter Zeit sogar tätlich mißhandelt hat, alles Herrn Gollwitz wegen. Herr Brak ist hochgradig nervös, er ist nicht immer verantwortlich für das, was er tut. Aber wenn es zu arg werden sollte, wenn Sie das Leben hier nicht mehr ertragen können, dann wissen Sie ja, wo ich zu finden bin.«

»Ich werde Ihre Worte nicht vergessen!« erwiderte Luise schmerzlich. »Aber solange es geht, will ich lieber alles Ungemach ertragen, als den Vater verlassen.«

»Das ist edel gedacht von Ihnen, Fräulein Luise,« antwortete Balthasar. »Manches geht aber doch über die Kraft eines Menschen, und für diesen Fall erinnern Sie sich meiner.«

»Das verspreche ich Ihnen!«

Eine Tür ging heftig im Hause auf und zu.

Balthasar entfernte sich eilig, um Luise nicht dem Zorn des erregten Sonderlings auszusetzen.

Schon acht Tage darauf verließ Luise das Haus ihres Vaters, und zwar nicht freiwillig, sondern gleichsam gezwungen.

Peter Brak, dessen Nerven durch die Ereignisse derart erregt wurden, daß er in beständiger Wut umherging, hatte Luise so gut wie verstoßen, die Tür gewiesen.

Es gab eine furchtbare Szene zwischen Vater und Tochter, wobei Luise ihren Vater durch das unerschütterliche Festhalten an der Unschuld Gollwitz' derart in Raserei versetzte, daß er sie eine Dirne schalt, ein schlechtes, verkommenes Geschöpf, das er nicht mehr als seine Tochter anerkenne, die er verstoße und aus dem Haus jage.

Ein unbeschreiblich schmerzlicher Blick hatte ihn aus Luises Augen getroffen. Doch das erhöhte nur noch seine Wut.

»Wenn der Tag kommt, wo die Unschuld des unglücklichen, von dir gehaßten Mannes sich erweist, wirst du einsehen, wie bitter unrecht du ihm und mir tatest!« sagte sie leise.

Er stürzte auf sie zu, die Hände zur Faust geballt.

»Hinaus, aus meinen Augen,« kreischte er, »oder ich begehe einen Mord!«

Entsetzt über den Ausbruch seiner Wut floh Luise aus dem Zimmer, die Treppe hinab.

»Ich will dich nicht mehr sehen, elendes, entartetes Geschöpf!« schrie er keuchend. »In meinem Haus ist kein Platz mehr für dich!«

Noch an demselben Tag war das Mädchen gegangen, ohne jemand zu sagen, wohin.

Sie hatte nur wenig an Garderobe mitgenommen und besaß kaum soviel Geldmittel, um die Fahrt nach E… zu bezahlen.

Am nächsten Tag erhielt der Polizeiinspektor einen Brief Luises, worin sie ihm mitteilte, daß sie das Haus ihres Vaters verließ und nun bei Balthasars Schwester, einer alten, alleinstehenden Frau, wohne, mit keinem Menschen einen Verkehr unterhalte außerhalb des Hauses und auf den Tag warte, wo ihr Vater sein Unrecht eingesehen hätte und ruhiger geworden wäre.

Der Inspektor, noch völlig unbekannt mit dem Auftritt im Hause Peter Braks, begab sich erregt zu dem Bruder.

Er stellte diesem vor, welch schlimmen Eindruck es machen müsse, wenn es bekannt wurde, daß er seine Tochter verstieß.

Brak war jedoch noch so aufgebracht über Luise, daß die Worte des Inspektors seinen Zorn nur noch vermehrten, und als dieser endlich verlangte, Peter solle seine Tochter aus dem Hause Balthasars zurückholen, erging er sich in den häßlichsten Schimpfworten über Luise, den alten Gauner Balthasar, über die ganze Brut, die zusammenhalte, um ihm das Leben sauer zu machen und ihn vor der Zeit ins Grab zu bringen.

Der Inspektor konnte nichts ausrichten.

Er mußte sich unverrichteter Sache wieder entfernen.

Es beruhigte ihn wenigstens, daß er Luise in guter Hut wußte.

Bei Balthasar war sie geborgen.

*


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