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VII.

Der Referendar Gollwitz verhaftet! Das war das Neueste, was man sich in Wilberg erzählte, verhaftet und in Untersuchung gezogen des Mordes wegen, der an Frau Fallner verübt wurde.

Der junge Mann hoffte Erbe zu werden, und da es ihm zu lange dauerte, bis die gute Dame starb, so half er nach.

Das Publikum teilte sich in zwei Parteien, solche, die Gollwitz für unschuldig erklärten, und andere, die es durchaus nicht für unmöglich hielten, daß ein junger Mann seine Wohltäterin ermordete.

Was man nun mit dem Wald-Sepp anfangen sollte, wußten die Leutchen nicht recht.

War Gollwitz der Mörder, so konnte es Sepp nicht sein. Aber der Hammer?

Schließlich nahmen diejenigen, die den Referendar als der Tat für fähig hielten, eben an, er habe im Verein mit Sepp die Tat ausgeführt und diesem eine bestimmte Summe versprochen.

Dieser Ansicht war auch der Untersuchungsrichter und er ließ den Sepp vorführen.

Der Bursche war noch trotziger geworden, seitdem er, wahrscheinlich durch einen unvorsichtigen Gefängniswärter, erfahren hatte, daß der Referendar Gollwitz, als verdächtig des Mordes, in Haft gesetzt wurde.

Er forderte energisch seine Freilassung, bezweckte damit aber nur, daß ihn der Richter barsch zur Ruhe wies.

»Joseph Vroninger,« fuhr der Beamte dann fort, »leugnet Ihr noch immer, den Mord an Frau Fallner ausgeführt zu haben?«

»Ja, bis zum jüngsten Tag,« schrie der Bursche. »Ich weiß nichts davon; da müssen Sie schon einen anderen suchen. Wie mein Hammer zu der Leiche kam, habe ich ja erklärt, er ist mir eben gestohlen worden.«

»Wollt Ihr nicht lieber eingestehen, daß Ihr, vielleicht im Verein mit einem anderen, der Euch Geld versprach, die Dame getötet habt?«

Der Wald-Sepp machte große Augen.

»Ah – sieh mal! Nun möchten Sie mir wenigstens das aufdisputieren! Ich sehe schon, man will mir mit Gewalt beweisen, daß ich an der Geschichte beteiligt bin.«

»Beweist mir das Gegenteil!«

»Das habe ich nicht nötig; man muß mich auch so freilassen.«

In diesem Augenblick wurde der Referendar aus der Untersuchungshaft vorgeführt.

Er war völlig gebrochen.

»Kennen Sie diesen Mann?« fragte der Richter ihn, auf den Wald-Sepp deutend.

Gollwitz sah mechanisch hin.

»Der Wald-Sepp,« antwortete er dann ebenso.

»Und Ihr, kennt Ihr den Herrn?« fragte der Beamte den Sepp.

»Nein, ich kenne ihn nicht!« sprach dieser.

Es gelang dem Untersuchungsrichter nicht, von einem der beiden Männer das Geständnis zu erpressen, daß sie miteinander in Verbindung standen.

»Wollen Sie noch immer nicht angeben, Gollwitz,« fragte er ziemlich ärgerlich, »wo Sie sich in der Mordnacht bis zwölf Uhr aufhielten?«

»Ich ging spazieren, ich sagte es ja schon,« lautete die resignierte Antwort.

»Und wenn Sie nichts anderes anzugeben vermögen, so sind Sie verloren!« rief der Richter.

Er ließ Gollwitz in seine Zelle zurückführen.

Der Wald-Sepp wartete eine Weile, dann meinte er listig:

»Nun müssen Sie mich eben doch laufen lassen, Herr Richter?«

»Ich denke gar nicht daran,« versetzte dieser kurz, »ja, ich hoffe, Euch im Gegenteil bald beweisen zu können, daß Ihr zum mindesten Mitschuldiger seid.«

»Das dürfte aber etwas lange dauern,« sagte Sepp.

»Und wenn es ein halbes Jahr dauert,« rief der Untersuchungsrichter, »ich will schließlich die Wahrheit schon herausbringen. Bis dahin sitzt Ihr mir gut in der Untersuchungshaft.«

Der Wald-Sepp blickte ganz perplex den Richter an.

»Ein – halbes Jahr?« meinte er dann gedehnt.

»Meinetwegen noch länger!«

»Teufel, das wäre nicht lustig,« brummte Sepp. »Da möchte ich doch lieber –«

Er rang offenbar mit einem Entschluß.

»Nun? Was möchtet Ihr lieber?« forschte der Richter mit Nachdruck.

»Hm,« wisperte Sepp, »wenn ich angeben könnte, daß ich die ganze Nacht nicht aus der Stadt, nicht aus einem gewissen Zimmer kam, damit hätte ich doch den Beweis erbracht, daß ich unbeteiligt an dem Mord bin?!«

»Daß Ihr das nicht könnt, daran liegt es eben!«

Eine Sekunde besann sich der Wald-Sepp noch, dann rief er entschlossen:

»Ich hab' es satt, beständig für einen Mörder gehalten zu werden und auch dann noch, wenn schon ein anderer gefaßt ist. Das halbe Jahr Untersuchungshaft, das Sie mir so freundlich in Aussicht stellten, Herr Richter, hat die Sache entschieden. Schicken Sie nach der Schenke zur Kugel, dort wird man Ihnen bestätigen, daß ich in der bewußten Nacht von neun Uhr abends an festgesessen bin bis morgens gegen vier Uhr, ohne mich auch nur eine Viertelstunde zu entfernen.«

Der Richter horchte hoch auf.

»Was habt Ihr für Zeugen dafür?« fragte er.

»Den Wirt, seine Tochter, dann Anton Springer und Christian Balder.«

»Ich werde sofort recherchieren und jeden einzeln vernehmen.«

»Tun Sie dies, Herr Richter, und reden Sie ihnen nur recht ins Gewissen. Sie werden anfänglich nicht recht herauswollen.«

»Weshalb nicht?«

»Das werden Sie vielleicht auch erfahren.«

»Noch eins! Wenn es seine Richtigkeit hat mit diesen Angaben, Warum habt Ihr sie nicht gleich gemacht?«

»Ich hatte eben auch Gründe und hoffte, schon so freizukommen.«

»Was sind dies für Gründe?«

»Ich sage vorläufig nichts weiter!«

Sepp wollte abwarten, ob bei den Zeugenaussagen nicht durch einen glücklichen Zufall die Wilderergeschichte verschwiegen blieb.

Aber wenn auch nicht, mehr als ein halbes Jahr konnte er doch nicht bekommen, und dann war's stets bequemer, im eigentlichen Zuchthaus, als in der strengen Untersuchungshaft zu sitzen.

Der Untersuchungsrichter ließ Sepp abführen und zitierte sofort die von dem Burschen genannten Personen einzeln zu sich.

Das Resultat dieser Vernehmung war, daß sich Sepp tatsächlich von neun Uhr abends bis früh vier Uhr im Wirtshaus zur Kugel aufgehalten hatte, wie schließlich alle Zeugen übereinstimmend aussagten.

Damit war Sepps Unschuld an dem Mord der Frau Fallner erwiesen; da jedoch sein langes Schweigen jedem zu denken geben mußte, so ging auch der Untersuchungsrichter der Sache auf den Grund, und die weitere Folge war, daß Joseph Vroningers Wilddieberei herauskam.

Er wurde deshalb nicht in Freiheit gesetzt, sondern die Untersuchung wegen Wildfrevel gegen ihn eingeleitet.

Da Sepp gewitzigt, sich aber keineswegs aufs Leugnen legte, sich aber möglichst wenig belastete, so fiel die Sache nicht gerade schlimm für ihn aus.

Dagegen war Heinrich Gollwitz in eine böse Lage gekommen. So gut man erst den Wald-Sepp für den Mörder hielt und verwünschte, ebenso rasch hatte die Stimmung gewechselt.

Hätte Gollwitz gehört, wie man über ihn im Publikum urteilte, er hätte noch mehr als ohnedies gelitten.

Daß man ihn, gerade ihn für den Mörder der guten Tante halten konnte, schmerzte ihn tief, ja, oftmals kamen wahre Verzweiflungsstunden über ihn.

Unter dem Volke aber verurteilte man seine Tat noch viel schärfer, als es bei Sepp der Fall war.

Dort war es ein verkommener Mensch, hier aber der verhätschelte Liebling der Ermordeten, dem der Mord zugesagt wurde.

Die von dem Untersuchungsrichter gesammelten Schuldbeweise waren derart, daß Gollwitz, trotz seines Leugnens, in Kürze vor die Geschworenen gewiesen werden konnte.

Man beschuldigte ihn, den bewußten Hammer in der Nacht vor dem Mord aus der Hütte Sepps entwendet zu haben, und zwar speziell zu dem Zweck, seine Tante zu ermorden und den Verdacht auf den schlecht beleumundeten Wald-Sepp zu lenken, was ihm anfangs ja auch gelang.

Sodann ward er weiter verdächtigt, auch bei Peter Brak einen Diebstahl oder Einbruch versucht zu haben, denn daß ein Mensch über die Mauer in dessen Arbeitszimmer stieg und auf demselben Weg dasselbe auch wieder verließ, war erwiesen.

Sepp konnte auch diese Tat nicht ausgeführt haben, und so blieb wiederum nur Gollwitz.

Zu seinem Unglück ergaben genaue Messungen seiner Fußbekleidung und Vergleichungen mit den unter dem Fenster gefundenen Spuren, daß Gollwitz tatsächlich in bewußter Nacht im Garten war und dies ableugnete, trotz allem Vorhalt.

Er hatte der ersten Beschuldigung gegenüber nur die Behauptung, daß er in der Nacht, wo er den Hammer gestohlen haben sollte, ja schon frühe zu Bett ging und sein Zimmer bis zum Morgen gar nicht mehr verließ.

Leider wurde darauf nichts gegeben, da er ja durch das parterre liegende Fenster ganz bequem aus- und einsteigen konnte, ohne daß seine Quartierfrau etwas davon zu wissen brauchte.

Noch einmal Sepp gegenübergestellt, sagte dieser aus, daß der nächtliche Gast wohl Gollwitz gewesen sein könne, da dieser groß und schlank war, sich schwarz kleidete und auch blonde oder graue Haare besaß.

Gollwitz sah mit Schaudern, daß sich der eiserne Ring mehr und mehr um ihn zog. Nichts konnte ihn mehr retten, selbst nicht, wenn er angab, wo er in der bewußten Mordnacht war, daß er nicht planlos spazieren ging, sondern sich mit einer zweiten Person unterhielt.

Aber was half es, wenn er diese auch noch mit hereinzog, da er ja den Mord trotzdem begangen haben konnte, nachdem er sie verlassen hatte.

So ließ er denn, völlig entmutigt, alles über sich ergehen.

*

Im Hause Peter Braks herrschte seit der Mordnacht eine äußerst unbehagliche Stimmung.

Brak befand sich in beständiger, nervöser Aufregung und Luise hatte kein auch noch so leises Lächeln mehr.

Sie lief meist mit verweinten Augen umher, schrak vor jedem Geräusch zusammen und vermied es angstvoll, von dem Mord zu sprechen.

Dafür sprach Brak um so mehr davon, und es kam dann häufig vor, daß Luise gezwungen war, dem Vater zu antworten.

Die Verhaftung des Referendars traf übrigens Vater und Tochter wie ein Schlag aus heiterem Himmel, ebenso die Nachricht, daß der Wald-Sepp vollkommen unschuldig an der Bluttat und nach allem Gollwitz der Schuldige wäre.

»Er ist kein Mörder, es ist nicht möglich!« schrie Luise qualvoll.

Brak ging sofort zu dem Untersuchungsrichter, und was man ihm dort mitteilte, mußte wohl geeignet sein, auch ihm die Überzeugung beizubringen, daß Gollwitz der Täter war. Mit hochrotem Kopf kam er heim und rief sofort Luise in sein Zimmer.

Zitternd befolgte das Mädchen seine Weisung.

Er teilte ihr nun in zorniger Erregung mit, was er über den Fall erfahren.

»Und denke dir nur,« rief er heftig, »der Mensch dachte daran, bei mir um dich zu freien, und die Tante wußte darum, wie ein aufgefundener Brief besagen soll. So ein Hungerleider! Hahaha! Ich hätte ihm eine andere Antwort gegeben! Aber er wußte das und hütete sich deshalb, offen mit seinem Projekt hervorzutreten. Deshalb steckte er sich hinter die schwache Tante; natürlich, sie sollte Geld hergeben. Und sie versprach es ja auch, sie sagte, daß sie ihm ein Erbe hinterlassen wolle. Aber das dauerte ihm zu lange und er machte ein Ende!«

Mit edler Entrüstung wies Luise das Ansinnen zurück, daß Gollwitz ein solches Verbrechen begangen haben könne, der Alte aber hörte gar nicht darauf.

»Gott sei Dank, daß ich den Menschen eigentlich immer möglichst fern von dir gehalten habe,« rief er. »da wäre etwas Schönes entstanden. Solch eine Frechheit! Er ist ein hinterlistiger Erbschleicher, der die Tante schon ganz hübsch herumgebracht hatte. Nun hat er den Lohn: noch kein Testament vorhanden und einen Mord um nichts ausgeführt. Und wenn ihm meine Schwester selbst ihr Vermögen noch bei Lebzeiten in die Hand gedrückt hätte, ich hätte ihn mit der Werbung abgewiesen, denn ich suche einen anderen Mann für dich, als solch einen Groschenschreiber!«

Dies war eine harte Antwort, wie sie Luise selbst nicht in ihren schlimmsten Stunden erhoffte.

Oftmals lag ihr ein Wort auf den Lippen, dem Vater das Geheimnis ihres Herzens zu verraten, aber wenn sie dann wieder hörte, daß er Gollwitz verwünschte und ihn für den Mörder hielt, da schwieg sie angstvoll.

Zitternd hörte sie die Mitteilungen der alten Magd an, die von ihr hin und wieder beauftragt wurde, in der Stadt Erkundigungen einzuziehen, wie es um Heinrichs Sache stehe.

Und was sie dann stets erfuhr, war keineswegs tröstlich. Gollwitz' Sache stand sehr schlimm und endlich hieß es, daß die Untersuchung abgeschlossen wäre und der Referendar vor das Schwurgericht gestellt würde.

Luise verbrachte schlaflose Nächte; sie rang mit einem Entschluß, den sie doch nicht auszuführen wagte.

Dem Vater gegenüber hatte sie noch eine leise Andeutung gemacht, Gollwitz könne nicht der Mörder der guten Tante sein, aber Brak fuhr heftig auf und verbot ihr, den Namen des Schändlichen ferner noch in den Mund zu nehmen.

»Morgen wird er nach E… überführt, wo er als erster schon in vierzehn Tagen die Schwurgerichtssitzungen eröffnet,« rief er. »Dabei wird man ja sehen, daß die Polizei den Richtigen faßte.«

Und es kam der verhängnisvolle Tag näher und näher.

Bleich und mit verweinten Augen schleppte sich das junge Mädchen durch das Haus.

Peter Brak, ihr Vater, war, im Verein mit seinem Bruder, dem Polizeiinspektor, Erbe des Fallnerschen Vermögens geworden.

Ein Testament, das anders verfügte, war nicht gefunden worden. Frau Fallner hatte tatsächlich versäumt, ein solches aufzusetzen.

Die allgemeine Ansicht des Publikums war dem Verhafteten nicht günstig gestimmt, nur wenige hielten ihn für schuldlos.

Unter diesen befanden sich Balthasar, der alte Diener der Ermordeten, Frau Ballin, Luise und der Polizeiinspektor Brak.

Aber die von dem Untersuchungsrichter gegen Gollwitz gesammelten Indizienbeweise waren so gravierend, daß dessen Verurteilung vorauszusehen war, wenn nicht ein Wunder eintraf.

Dieser Ansicht hatte der Inspektor bei einem Besuch im Hause seines Bruders Ausdruck verliehen und unbewußt Luise auf das höchste geängstigt.

Er war dann wieder abgereist.

Zwei Tage vor der beginnenden Schwurgerichtsverhandlung erschien Balthasar eines frühen Morgens so, wie vor einiger Zeit im Stadthaus.

Dabei war er fast ebenso erregt.

Der Kommissar, benachrichtigt, daß ihm Balthasar etwas Wichtiges mitzuteilen habe, erschien sofort.

»Nun, Balthasar,« fragte er, »was bringen Sie?«

»Ich habe etwas ganz Sonderbares zu melden,« antwortete der Alte, rasch atmend. »In zwei Tagen wird Herr Gollwitz vor das Schwurgericht gestellt. Er soll den Mord auf dem Gewissen haben. Ich habe von allem Anfang nicht daran geglaubt, und jetzt habe ich den Beweis dafür!«

»Den Beweis? Was sagen Sie da?«

»Ein anderer ist der Mörder, und diesen anderen habe ich gesehen!«

Der Beamte war nicht wenig überrascht.

»Erzählen Sie, Balthasar; das wäre ja eine Sache von höchster Wichtigkeit!«

Und der Alte berichtete:

»Wie Sie wissen, Herr Kommissar, blieb ich mit der alten Magd, auf den Wunsch Herrn Braks, in dem Haus meiner armen Herrin wohnen, bis sich ein Käufer dafür findet, was noch gute Wege hat, da die Leute sich davor scheuen.

Alles an Einrichtung befindet sich noch an derselben Stelle. Das Zimmer meiner Herrin ist verschlossen. Diese Nacht nun, es mochte schon gegen ein Uhr gehen, wurde ich durch ein Geräusch geweckt, das im Garten vor dem Fenster entstanden war.

Ich habe einen sehr leichten Schlaf, deshalb erwachte ich so rasch. Eine Weile lauschte ich, dann stand ich auf und ging an das Fenster. Es war jemand im Garten, ich hörte ja die Schritte in dem Kies.

Ohne Licht zu machen, öffnete ich geräuschlos den einen Fensterflügel und beugte mich über das Gesims hinaus. Draußen war es aber ziemlich dunkel. Eine Zeitlang hörte ich nichts mehr und sah auch nichts.

Das Haus ist schräg gebaut,« fuhr Balthasar in seiner Erzählung gegen den Kommissar weiter fort; »mir gegenüber, parterre, lag das Fenster, durch das der Mörder eingestiegen ist.

Ich konnte es, trotz der Dunkelheit, ziemlich gut unterscheiden, denn es lag als dunkles Viereck in der weißen Kalkwand. Plötzlich hörte ich einen ganz sonderbaren Laut, es klang wie ein Ächzen und Stöhnen, und dann – dann schlich eine lange, schwarze Gestalt um das Fenster der Ermordeten, an der Kalkwand entlang.

Aber nicht genug damit, der Mensch, dessen Gesicht ich freilich nicht sehen konnte, schwang sich auf das Gesims, geradeso, wie es der Mörder getan haben muß, und kratzte mit den Fingernägeln an dem Glas. Wäre das Fenster offen gewesen, er wäre eingestiegen, und man hätte so gewiß den Menschen auf die leichteste Art abfangen können.

Ich dachte daran, mich des Schändlichen zu bemächtigen, denn daß nur er der Mörder sein konnte, stand fest bei mir. Aber ich bin ein alter Mann und allein. Deshalb holte ich eine alte, geladene Pistole und stieg die Treppe hinab, in den dunklen Garten hinaustretend.

Dabei war ich fest entschlossen, den Menschen niederzuschießen, wenn er nicht stehenblieb. Aber mittlerweile mußte er sich wohl entfernt haben, denn ich fand keine Spur von ihm mehr vor, so eifrig ich auch den Garten durchsuchte. Unverrichteter Sache mußte ich wieder in das Haus zurückkehren. Was sagen Sie nun zu dieser wunderlichen Geschichte, Herr Kommissar?« schloß der Alte.

»Hören Sie, Balthasar,« meinte bedächtig der Beamte, »sind Sie auch ganz gewiß, daß Sie sich nicht getäuscht haben? Sie könnten ja alles nur geträumt haben!?«

»Das ist unmöglich!« rief in vollem Eifer der Alte. »Alles hat sich genau so ereignet, wie ich es soeben schilderte. Ist denn das unmöglich?«

»Unmöglich gerade nicht, denn es ist eine allbekannte Tatsache, daß Mörder mitunter noch wiederholt zur Nachtzeit den Ort ihrer blutigen Tat aufsuchen, gleichsam als ziehe sie etwas mit Gewalt dorthin. Aber die vorliegende Geschichte klingt doch etwas unwahrscheinlich!«

»Und weshalb?« fragte rasch der Diener.

»Weil alles darauf hinweist, daß der wahre Mörder festgenommen ist!«

»Gollwitz ist es nicht, so wenig wie der Wald-Sepp es war; Sie werden mir vielleicht eines Tages recht geben, Herr Kommissar. Jetzt glaubt man Gollwitz nicht, legt alles zu seinen Ungunsten aus; wäre der Mann, den ich diese Nacht sah, festgenommen, dann würde die Sache ein anderes Gesicht annehmen. Auf jeden Fall wird man doch meine Aussage dem Gericht vorlegen?«

»Kommen Sie mit zum Oberamtsrichter, und dann wollen wir diesem die Entscheidung überlassen!« sagte der Beamte.

Obwohl Balthasar wußte, daß der Genannte Gollwitz keine Sympathie entgegenbrachte, so konnte er doch für den Augenblick nichts tun, als dem Kommissar folgen.

Die beiden Männer wurden von dem Oberamtsrichter sogleich vorgelassen und Balthasar hatte noch einmal sein Erlebnis zu schildern.

Mit einem überlegenen Lächeln horchte der Stadtgewaltige auf Balthasars Worte. Als dieser geendet, sprach er kurz:

»Ich gebe gar nichts auf die ganze Geschichte!«

»Gar – nichts?« fragte Balthasar. »Sie setzen wohl meine Glaubwürdigkeit in Zweifel, Herr Oberamtsrichter?«

Dieser zuckte die Schultern.

»Sie können geträumt haben, und wenn auch nicht, vielleicht sahen Sie einen ganz harmlosen Strolch, der sich in dem einsam stehenden Hause ein Nachtquartier suchte, für den Mörder an. Aber was soll uns denn diese Geschichte nützen?«

»Man muß sie dem Gerichtshof, der in zwei Tagen über Gollwitz entscheidet, vorlegen.«

»Aha! Darum ist es Ihnen wohl hauptsächlich zu tun?«

»Gewiß, weil ich Gollwitz für unschuldig halte. Man muß den anderen suchen!«

»Diese ganze Geschichte halte ich, kurz gesagt, für erfunden, um dem Gollwitz, der verurteilt werden wird, einen Dienst zu erweisen. Aber selbst, wenn der Gerichtshof davon Notiz nimmt, so wird dadurch nur eine Verschleppung bezweckt, weiter nichts. Lassen Sie uns also doch in Ruhe mit solchen Ammenmärchen! Sie verdunkeln nur den wahren Sachverhalt!«

Balthasar vermochte vor Aufregung kaum zu sprechen.

»Herr Oberamtsrichter,« stotterte er, »ich bin in Ehren grau geworden, ich habe meine arme Herrin sehr verehrt und verwünsche jede Stunde ihren Mörder. Aber ich lüge nicht! Nicht Gollwitz ist es, sondern der andere!«

»So nennen Sie uns doch seinen Namen!« rief der Oberamtsrichter heftig.

»Ich weiß ihn nicht!«

»Oder beschreiben Sie sein Gesicht!«

»Das kann ich nicht!«

»Haben Sie wenigstens dann Fußspuren, Stiefelabdrücke im Sande bemerkt?«

»Ich habe nachgesehen, aber der Mensch ging allem Anschein nach in Strümpfen!«

Der Richter schlug eine laute Lache auf.

»In Strümpfen! Da haben wir ja die Bescherung. Und Sie verlangen noch, daß man Ihre konfuse Geschichte für Ernst nehmen soll?«

»Ich verlange, daß meine Angaben wenigstens zu Protokoll genommen werden,« versetzte sehr hartnäckig Balthasar, »und vor dem Schwurgericht werde ich alles wiederholen.«

Dieser Forderung konnte der Oberamtsrichter nicht entgehen, so zornig er auch darüber war.

Er ließ also Balthasars Bericht protokollieren, worauf sich der Alte entfernte.

»Balthasar ist ein alter Narr!« sagte der Oberamtsrichter zu dem zurückgebliebenen Kommissar. »Durch diese erlogene Geschichte verschleppt er nur noch die Sache und wird Gollwitz durchaus nichts helfen, was er allein bezweckt. Ich glaube kein Wort davon; der Alte ist in den Burschen eben verschossen und will ihm heraushelfen. Ich werde aber schon den nötigen Bericht diesem Protokoll beifügen.«

*

Balthasar hatte, im höchsten erbittert, den Richter verlassen.

Man glaubte ihm dort nicht, betrachtete ihn als einen Lügner, der einfach zugunsten des Referendars die ganze Geschichte erfand. Den Groll in der Brust, betrat er Peter Braks Haus.

Er stand nun eigentlich in dessen Dienst und mußte auch ihm Mitteilung von der sonderbaren Erscheinung in vergangener Nacht machen.

Luise empfing ihn und hörte mit größtem Interesse auf seine Worte.

»Wenn Ihnen niemand glaubt, Balthasar, so glaube ich Ihnen,« rief sie, »denn ich weiß, daß Gollwitz der Mörder nicht sein kann. Wenn nur auch mein Vater so dächte, aber das ist leider nicht der Fall.«

»Vielleicht denkt Herr Brak anders, wenn ich ihm mein Erlebnis schildere!«

»Das hoffe ich noch; die Angst um Gollwitz bringt mich ja um, und ich weiß nicht, was geschieht bis übermorgen, wo sie ihn in E… vielleicht zum Tod verurteilen, ihn, der die Tante doch so sehr liebte, wie ich selbst.«

In voller Verzweiflung hatte Luise diese Worte hervorgestoßen, so daß sie Balthasar mit einem betroffenen Blick ansah.

»Wissen Sie etwas, Fräulein Luise, das Herrn Gollwitz retten könnte, wenn es meine Aussage nicht tut, so werfen Sie es für den Unschuldigen in die Wagschale!«

»Ich kann ja noch immer keinen festen Gedanken fassen, die Angst verzehrt mich!«

»Sie müssen ruhig überlegen, es geht nicht anders! Denken Sie doch, was auf dem Spiel steht. Noch zwei Tage bleiben uns bis zur Verhandlung, benutzen Sie die Zeit gut. Führen Sie mich nun zu Herrn Brak.«

Sie ging ihm voran und öffnete das Arbeitszimmer.

Es war leer.

»Der Vater scheint diesen Morgen lange zu schlafen!« sagte Luise. Ich will anklopfen.«

Sie tat es.

Fast zu gleicher Zeit trat Brak über die Schwelle. Er hatte eine türkische Mütze auf dem Kopf und den Schlafrock um.

Im übrigen mußte er nicht gut geschlafen haben, er sah schlecht aus.

»Was gibt es denn, Balthasar?« fragte Brak.

Dieser berichtete nun ausführlich, was er schon dem Kommissar und dem Oberamtsrichter sagte.

Luise hatte sogleich die Stube verlassen, denn es war ihr nicht möglich, ruhig zu bleiben.

Sie erwartete jedoch Balthasar im unteren Flur.

Nach einer starken halben Stunde erschien erst der Diener. Seine Miene war ziemlich trostlos.

»Herr Brak glaubt mir noch weniger, als der Oberamtsrichter,« sagte er zu dem Mädchen. »Er lachte mich sogar aus und als ich trotzdem ernst blieb, hieß er mich verrückt. Schließlich wollte er mir noch durch Beispiele beweisen, daß ein Mensch, dessen Nerven oder Gehirn sich nicht in voller Ordnung befänden, sogar imstande wäre, Dinge zu tun oder Erscheinungen zu sehen, die in Wahrheit gar nicht existierten, oder wovon er später gar keine Idee mehr habe. Es war recht konfuses Zeug, was mich Herr Brak da glauben machen wollte, aber die Hauptsache bleibt ja doch, daß ich entweder für einen Lügner oder Narren angesehen werde.«

»Ich dachte es mir!« sprach Luise trostlos. »Was werden Sie nun tun?«

»Ich werde, trotz allem, meine Aussage vor Gericht wiederholen, und wenn es mir auch nichts nützt oder Gollwitz rettet, so habe ich doch meine Pflicht getan!« antwortete Balthasar.

Er verließ Luise und ging in das Haus der Ermordeten zurück. Noch einmal durchsuchte er den Garten auf das Genaueste, um vielleicht etwas zu finden, womit er seine Behauptung beweisen konnte.

Leider fand er nichts.

Peter Brak war in seinem sogenannten Arbeitszimmer zurückgeblieben und lief nun, laute Worte vor sich hinmurmelnd, in dem Raum auf und nieder.

»Balthasar ist ein Narr,« sagte er. »wenn er mich glauben machen will, daß der eigentliche Mörder wo anders, als hinter Gollwitz, zu suchen sei, daß er ihn gesehen habe mitten in der Nacht, an der Mauer hinaufkletternd, am Fenster scharrend! Dummheit! Was wollte denn der Mensch noch in dem Zimmer! Balthasar will dem Gollwitz heraushelfen, oder er hat wirklich nur in seiner Einbildung etwas gesehen, das gar nicht existierte.«

Peter Brak brach plötzlich ab.

Seine Pupillen erweiterten sich.

Dann schoß er nach dem Fenster und fuhr mit beiden Händen an dem Rahmen hinauf.

»Verschlossen, von innen verriegelt!« keuchte er.

»Luise!« rief er laut, indem er die Tür öffnete.

Nach wenigen Minuten erschien das Mädchen.

»Was wünschest du, Vater?« fragte sie, erschrocken über sein Aussehen.

»Komm hier herein,« befahl er, und als Luise nähergetreten war, fragte er heftig: »Du warst diesen Morgen in dem Zimmer hier?«

»Gewiß,« antwortete sie, erstaunt über den Ton seiner Worte; »ich wollte sehen, ob du noch schliefst.«

»Du hast dabei das offene Fenster dort geschlossen, den Riegel vorgeschoben?«

»Nein, Vater, das Fenster war zu.«

»Du hast es gar nicht angerührt? Weißt du das gewiß?« fragte er, sie anstarrend.

»Ich kann es beschwören!« beteuerte sie. »Aber weshalb fragst Du nur so sonderbar? Ist etwas geschehen?«

Er winkte ihr heftig, sich zu entfernen.

»Nichts, nichts, laß mich allein –«

»Soll ich dir das Frühstück auftischen?«

»Noch nicht; ich – rufe dich schon!«

Luise ging, ohne sich gerade besondere Gedanken über das eigentümliche Benehmen Braks zu machen.

Sie war dergleichen gewöhnt.

Ihren Geist beschäftigte nunmehr ausschließlich der qualvolle Gedanke, wie Gollwitz gerettet werden konnte.

Peter Brak sah kaum, daß sich die Tür hinter seiner Tochter geschlossen hatte, als er auch schon von dem Stuhl aufsprang und sich wild umblickte.

»Er war wieder hier,« stieß er keuchend hervor. »Ich sehe ja die Spuren seiner schmutzigen Füße hier auf dem Teppich, da, am Fensterrand. Und doch habe ich diesmal selbst das Fenster verriegelt, von innen verriegelt. Wo ist er hereingekommen? Ich finde nichts, gar nichts, keine Öffnung! Und die Tür hatte ich ja auch verriegelt!«

Brak fuhr sich mit ausgespreizten Fingern durch sein starres Haar.

»Was will der Mensch denn von mir und wer ist es denn? Ich mag suchen, wie ich will, ich vermisse nichts, rein gar nichts. Gilt es nur immer dem Geldschrank, der verschlossen und ohne meinen Schlüssel kaum zu öffnen ist? Das wäre möglich.

Aber die Frage bleibt: wie kommt der Mensch denn herein? Ich hielt den Wald-Sepp für den Einbrecher, dann Gollwitz; aber keiner der beiden kann es sein, denn diese sitzen ja fest. Aber wer, wer ist es denn nun? Es ist ja, um verrückt zu werden! –

Wenn es derselbe wäre, den Balthasar bemerkte, wenn die Geschichte nicht erlogen wäre? Soll ich dem Gericht Mitteilung machen? Nein; ich lege mich auf die Lauer! Ich will doch sehen, ob der Mensch noch einmal kommt und was ich da für einen Fang mache?«

Nachdem Brak noch einmal eine Zeitlang auf und ab geschritten war, trat er in die große Stube und rief Luise zum Frühstück.

Auch sie erfuhr nichts von der geheimnisvollen Entdeckung ihres Vaters.

*


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