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4.
Der Polizeimann


Eine Wagenreihe, sämmtliche Gattungen Fuhrwerk in sich begreifend, vom dickbäuchigen, vorsündfluthlichen Stellwagen an bis zum leichtsinnigen Handicap und herab zum plebejischen Schubkarren, hat sich vor und in den düsteren Hallen des nunmehr auch heimgegangenen Stubenthores gegen eine andere Wagenkaravane gestaut, welche der Wollzeile entgegenstrebt. Die Wagenlenker schleudern sich Rosenkränze von Ehrentitel zu, die Pferde stampfen und schnauben, die Pflastertreter auf den Trottoirs bleiben stehen, in der Hoffnung Zeugen einer urwüchsigen Prügelei zu werden: da löst sich plötzlich der Knäuel wie auf ein Zauberwort, die Wagen gelangen allgemach ins alte Geleise, die Schimpfwörter der Kutscher verhallen unter dem Donner der wieder rollenden Räder. Endlich entsteht eine Lücke in dem Zuge, und wir erblicken in der Mitte der Fahrstraße den Mann, der linderndes Oel auf die empörten Wogen gegossen hat, den Polizeimann.

Mit verschränkten Armen geht er auf dem engen Schauplatz seiner Thätigkeit auf und ab. Ernst und gemessen ist der Ausdruck seines Gesichtes; die Blicke aber fliegen nach allen Richtungen, hier ermahnend, dort befehlend und ermuthigend, je nachdem die Gelegenheit es erheischt.

Da rasselt ein elegantes, mit zwei feurigen Pferden bespanntes Kabriolet in scharfem Trabe die Wollzeile herab. Der Führer desselben, ein junger, gelbbehandschuhter Dandy, schaut mehr nach den Fenstern der Häuser als auf seine Pferde. Seine Leute kennend geht der Polizeimann dem Rosselenker vor das Thor entgegen. In demselben Augenblicke tritt aus dem Thore des N.'schen Hauses ein altes Weib mit einem schweren Bündel auf dem Rücken und schreitet langsam nach der Mitte der Straße vor. Ist die Alte blind? hört sie den Wagen nicht? Noch einen Augenblick, und sie wird unter den Füßen der Pferde liegen. Die Leute rechts und links schreien angsterfüllt der Bündelträgerin zu; ein junger Mann springt ihr nach, um sie an ihrem Pack zu fassen und dem sichern Verderben zu entreißen. Da, im Augenblicke der höchsten Gefahr erscheint wie vom Himmel gefallen der Retter. Mit nervigem Arme fällt der Polizeimann in die Zügel des Handpferdes und verschafft dem jungen Manne Zeit die Alte an ihrem Bündel zu packen und wegzureißen. Diese blickt auf, gewahrt unmittelbar vor sich eine Pferdebrust, stößt einen durchdringenden Schrei aus, taumelt zurück und fällt, dem Rucke von hinten folgend, sammt ihrem Rettungsbündel, sitzend auf das Trottoir nieder.

Die ganze aufregende Scene hat keine halbe Minute gedauert. Das Kabriolet hält. Sein Führer scheint nicht weniger erschrocken als die Alte. Mit einem Satze ist derselbe vom Wagen und neben der Frau, die fortwährend nach Luft schnappt.

»Um Gottes Willen, Mutterl!« ruft der junge Mann, »sind Sie verletzt?«

Die Alte schüttelt den Kopf, holt tief Athem, versichert sich, daß ihr Bündel nicht abhanden gekommen ist und fängt dann zu weinen an.

Eine zahlreiche Gruppe hat sich um die beiden Hauptpersonen der so eben geschilderten Scene gebildet. Während mitleidige Seelen die alte, halbtaube Frau aufrichten, tritt der Polizeimann auf den bestürzten Rosselenker zu.

»Ihre Karte, mein Herr!« sagt halblaut der Mann des Gesetzes.

Der Dandy zieht sein Visitkartentäschchen und überreicht dem Polizeisoldaten das verlangte Dokument.

»Gut. Nun fahren Sie gefälligst im Schritte durch das Thor und hüten Sie sich vor ähnlichen Zufällen. Die Passage muß frei bleiben!«

Der junge Mann drückt der Alten etwas in die Hand, besteigt sein Kabriolet und fährt langsam zum Thore hinaus. Die Frau wirft einen Blick auf das Papierchen in ihrer Hand. Es muß ein kräftiges Rezept gegen überstandene Angst sein, denn mit überraschender Behendigkeit packt sie ihr Bündel auf und eilt über die Straße nach dem nahen Dominikanerkeller, um sich mit einem guten Schluck zu weiteren Märschen zu stärken. Die Menge verläuft sich und der Wachmann kehrt auf seinen Posten zurück.

Langsam schreitet die polizeiliche Vorsehung in hechtgrauen Hosen und grünem rothpassepoilirtem Waffenrock auf ihrem Posten auf und ab. Um ihn rollen die Wagen, an ihm hüpft die neckische Grisette, schreitet der ernsthafte, von seinem Bureau nach Hause kehrende Beamte vorüber. Sie alle kümmern ihn nicht; er wacht über seine Passage, bis die ersehnte Stunde der Ablösung schlägt und ein neuer Kamerad an seine Stelle rückt.

In dem Maße als der Abend der Nacht weicht, gewinnen auch die Pflichten des Polizeimannes an psychologischem Interesse. – Erst in dumpfen, dann in schrillen Schlägen hat der alte Stephansthurm der guten Wienerstadt die elfte Stunde verkündigt. Die Wagen rollen seltener durch das Thor und bestreben sich, den polizeilichen Vorschriften genauer nachzukommen, so daß unser wackerer Hüter des Gesetzes eigentlich eine Sinekure hätte, wäre es nicht das nachtschwärmende Publikum, das jetzt seine Sorge in Anspruch nimmt.

Die unzähligen Wirths- und Kaffeehäuser der inneren Stadt entsenden nach und nach ihre Gäste in die 36 Vorstädte, welche sich wie ein riesiger Gürtel um das alte Wien herumziehen. Starke Patrouillen kommen vor unserm Wachposten vorüber, um auf dem breiten Glacis ihre nächtlichen Wanderungen zu Schutz und Frommen derer anzutreten, welche diese Strecke zwischen Stadt und Vorstadt zu später Stunde zu passiren haben. Unser Polizeimann betrachtet sich die Vorübergehenden. Hier ein zärtliches Pärchen, das in süßes Geplauder versunken, ohne es zu merken an den Mann des Gesetzes gerannt wäre, hätte dieser nicht für Billigkeit erachtet, daß nunmehr Themis dem schelmischen Amor zu weichen habe. Dort kehrt eine wackere Bürgerfamilie aus dem Gasthause nach dem heimischen Heerde zurück. Peppi, der jüngste Sprößling, ist im Wirthshause eingeschlafen. Sein unschuldiger Schlummer ist Ursache einer lebhaften Debatte zwischen Papa und Mama geworden. Es handelt sich darum, zu ermitteln, wer den Schläfer nach Hause tragen soll, da dieser durchaus nicht zum Gehen zu bewegen ist. Unser polizeilicher Peripathetiker hört lächelnd dem Streite zu und dankt im Stillen Gott, daß er sich noch unter die freien Männer rechnen darf.

Kaum ist die disputirende Familie fort, als ein ältlicher Herr etwas schwankenden Schrittes unter die hell erleuchtete Thorhalle tritt.

»Wo nur das Hunderl bleibt,« murmelt er ängstlich nach der Stadt zurückblickend. »Azorl! komm Azorl!« ruft er, indem er lockend auf die Beine klopft.

Azorl ist nicht weit. Schweifwedelnd steht er hinter seinem besorgten Herrn und blickt verwundert auf dessen unbegreifliches Suchen.

Der Polizeimann tritt zu dem alten Herrn und klopft ihm sanft auf die Schulter: »Ihr Pintsch ist hier, mein Herr!« sagt er lächelnd auf den wedelnden Begleiter deutend.

Der alte Herr kehrt sich um und gewahrt zu seinem größten Erstaunen den Gesuchten in unmittelbarer Nähe: »Da schau einer!« ruft er vergnügt, »jetzt such' ich den Azorl überall und nun ist der Schlingel gar auf die Polizei gelaufen. Danke, danke. Komm Azorl! Hauserl gehn! komm!«

Herr und Hund trollen sich langsam nach der Vorstadt zu, und der Polizeimann setzt seinen kontemplativen Spaziergang fort.

Wenige Minuten sind in Ruhe vergangen, als von der Vorstadt her sich ein schreiender Gesang vernehmen läßt. Die Sänger, zwei feingekleidete junge Männer, die augenscheinlich des Guten zu viel gethan haben, treten in die Thorhalle. Die in der hohen Wölbung wiederhallenden Stimmen scheinen ihnen ein besonderes Vergnügen zu gewähren, und schon beginnt der ältere das bekannte Nestroy'sche:

»Es gibt keine Ordnung mehr hier unter d'Stern,
»Kometen müßten sonst verboten wer'n«

mit schmetterndem Tenor anzustimmen, als das mahnende »Pst« des Polizeimanns ihn unterbricht.

Der jüngere Sänger bleibt stehen und versucht das »Pst!« des Wachmanns nachzumachen, ohne daß es ihm jedoch gelänge, mehr als ein unartikulirtes Schnauben zuwege zu bringen.

»Meine Herren!« sagt der Polizeimann, »Sie kommen jetzt in die Stadt und da muß ich Sie ersuchen, ruhig nach Hause zu gehen.«

»Aber Freunderl,« ruft in gemüthlicher Laune der Tenor, »wir gehen ja noch gar nicht nach Hause. Jetzt gehen wir ins Café Français und von da ...«

»Gehen die Herren wohin Sie wollen; nur um Ruhe muß ich bitten. Aber, a propos« setzt der Polizeimann zu dem Jüngern gewendet hinzu, »was haben Sie denn da unter dem Rocke?«

Der Angeredete trägt nämlich einen etwa drei Fuß im Geviert großen Pappendeckel unter seinem Raglan. Umsonst versucht er das Ding mit seinem Ueberwurf zu bedecken; zwei Fuß mindestens gucken unter demselben heraus.

Der Polizeimann zieht das Ding hervor und erblickt zu seinem Erstaunen einen jener riesigen auf Pappe geklebten Anschlagzettel, die den lebenslustigen Wiener unterrichten, wo er am heitersten sein Geld loswerden kann.

»Wo haben Sie den Anschlagzettel her, meine Herren?« fragt ernst der Mann des Gesetzes.

»Ja, sehen Sie,« erwidert der gemüthliche Tenorist, »draußen am Invalidenhause sind uns zwei Herren begegnet und haben uns den Zettel geschenkt, nicht wahr, Moritz?«

»Ja, ja,« lallt dieser, »geschenkt.«

»Unsinn,« versetzt der Polizeimann, »die Herren haben den Zettel abgerissen!«

Der Tenor sucht eine gekränkte Miene anzunehmen. »Aber, Freunderl,« sagt er, »wie können Sie denken, daß wir Zettel stehlen gehen, pfui!«

Der Polizeimann denkt einen Augenblick darüber nach, was er mit den nachtschwärmenden Zettelliebhabern anfangen soll. »Den Zettel lassen Sie hier,« sagt er endlich, »und gehen ruhig nach Haus, sonst können die Herren auf der Wachtstube schlafen. Adieu!«

»Adieu, Freunderl,« erwidert der Aeltere. »Wenn Ihnen das Zetterl gefällt, schenken wir's Ihnen, gelt Moritz?«

»Ja, ja, schenken! Gute Nacht!« sagt dieser mit Aufbietung seines ganzen Sprechvermögens, »nicht stehlen, Pfui!«

Und Arm in Arm stolpern die Sänger nach der Wollzeile. Der Polizeimann lehnt den Riesenzettel an die Wand, schaut dem schwankenden Paare noch eine Weile nach und kehrt dann ruhig auf seinen Posten zurück.


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