Saadi
Bostan
Saadi

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

 
Sechste Pforte.

Genügsamkeit.

(155.)

    1   Der kennt nicht Gott und hat ihm nie gedient hienieden,
Wer nicht mit seinem Loos und Anteil ist zufrieden.
2   Zufriedenheit allein macht einen Menschen reicher;
Sag das dem gierigen unsteten Weltdurchstreicher.
3   Nimm eine Ruh' dir vor, o ruheloser Mann;
Weil auf dem Stein, der rollt, das Gras nicht wachsen kann.
4   Nähr' nicht den Bauch, wenn lieb dir ist des Geists Behagen;
Denn so wie du ihn nährst, so hast du ihn zu tragen.
5   Wer da vernünftig ist, Tugenden nähren mag er;
Denn wer da nährt den Leib, wird an der Tugend mager.
6   Zum Menschlichen gelangst du erst, wenn du in dir
Hast Schweigen auferlegt dem Hunde der Begier.
7   Der Thiere Laufbahn ist, zu schlafen und zu essen;
Nur Unvernünftigen ist so der Kreis gemessen. 192
8   Heil dem Glückseligen, der einen Winkel kürt,
Und einen Vorrat von Erkenntnis bei sich führt.
9   Wem das Mysterium der Wesenheit erschien,
Das Nichtige vermag nicht zu bestechen ihn;
10   Doch wer die Finsternis nicht scheidet von dem Licht,
Kennt Huriwangen vom Dämonenantlitz nicht.
11   Selbst in die Grube hast du dich gestürzt, o Leiden,
Weil Grub' und Weg du nicht wußtest zu unterscheiden.
12   Wie soll zu Himmelshöh' dein Edelfalke dringen,
Wenn du den Stein der Lust ihm bindest an die Schwingen?
13   Doch wenn du aus der Hand der Lüste seinen Saum
Losmachest, fliegt er bis zum Paradiesesbaum.
14   Wer minder isset, als er war gewohnt zuvor,
Hebt stufenweise sich zu Engelsart empor.
15   Der Leu ist nicht sofort zum Engel aufgestiegen,
Vom tiefsten Abgrund kann man nicht zum Himmel fliegen:
16   Menschlichen Wandels mußt du dich befleißen erst,
Bis du auf Engelsart deine Gedanken kehrst.
17   Du reitst ein junges Roß von böser Zucht, gib Acht,
Daß es nicht seinen Kopf entziehe deiner Macht.
18   Denn, wenn es dir den Zaum hat aus der Hand gebrochen,
Zerquetscht es sich den Leib und schmettert dir die Knochen.
19   Wenn du ein Mensch willst sein, genieß dein Mahl mit Maß;
So vollen Bauchs, bist du ein Mensch? bist du ein Faß?
20   Raum hat darin die Kost, das Denken und der Atem;
Du aber denkst, es sei fürs Brot allein ein Gadem.
21   Zwei Augen und ein Bauch, die du nie füllen kannst;
Viel besser hältst du leer den windungsreichen Wanst,
22   Der wie die Höll' ist, die mit der Verdammten Heer
Man füllt, sie aber schreit beständig: Kommt nicht mehr?ein Schreckensbild des Koran. 193
23   Den Jesus in dir mag die Magerkeit verzehren,
Du bist allein bedacht, den Esel wohl zu nähren.Jesus und der Esel, Inneres und Äußeres.
24   O siehst du etwa nicht, daß jedes wilde Thier
In Schlingen nur gerät durch seine Freßbegier?
25   Der Tiger, dessen Stolz hervorragt über alle,
Gerät alswie die Maus durch Freßlust in die Falle.
26   Bei wem du wie die Maus magst Brot und Käse naschen,
Dem gehest du ins Netz, sein Pfeil wird dich erhaschen.

 
(156.)

    1   Mir schenkt' ein Kämmerer 'nen Kamm von Elfenbein:
»Mög' allen Kämmerern Gott ewig Huld verleihn!«[Kämmerer: Rückert las hâdschib statt der gewöhnlichen Lesart hâddschi, Pilger.]
2   Dann hört' ich, daß einmal er einen Hund mich hieß,
Weil ich an seiner Huld ich weiß nicht was verstieß.
3   Da warf ich weg den Kamm: »Ich brauche nicht dies Bein,
Und will von dir ein Hund genannt nicht wieder sein.« –
4   Nie hab' ich, seit ich mir ließ meinen Essig munden,
Vom Herrn der Süßigkeit Demütigung empfunden.
5   Seel', übe Gnügsamkeit, und groß sei dir dein Kleines,
Damit du künftig Fürst und Bettler siehst als Eines.
6   Warum mit Bettelgruß gehst du den Chosru an?
Thu' die Begierde weg, und du bist Chosru dann.
7   Und fröhnst du der Begier, so mach den Bauch nur gar
Zum Trog, und jede Thür der Reichen zum Altar.Altar, eigentlich Kibla; was 157, 4 erläutert.

 
(157.)

    1   Mir ward erzählt, ein Mann trat dem Charesmeschah,
Getrieben von Begier, am frühen Morgen nah. 194
2   Wie er ihn sah, macht' er sich krumm und wieder grad,
Und richtete sich auf vom Fußfall, den er that.
3   Zu diesem sprach sein Kind: »Lieb Väterchen, o sage,
Antwort erteile mir auf eine Zweifelsfrage:
4   Sprachst du nicht, dorthin sei die Kibla nach Hidschas?Ausführung von 156, 7b. Kibla, die Richtung des Betenden nach der Kaaba in Hidschas.
Und richtest dein Gebet nun hieher? wie ist das?« –
5   Sei mit lustfröhnender Begierde nicht im Bunde;
Denn deren Kibla liegt woanders jede Stunde.
6   Genügsamkeit erhöht das Haupt, hoch ehre sie;
Ein Haupt voll Gier erhebt sich von der Schulter nie.
7   Gier hat zur Gnüge dir der Ehre Naß verschüttet,
Den Schooß voll Perlen um ein Körnlein Fraß verschüttet.
8   Da aus dem Wasserbach du satt dich trinken kannst,
Erniedrige dich nicht um Eis für deinen Wanst.[Eis, im heißen Persien von großem Werthe, um die Getränke damit zu kühlen.]
9   Vielleicht der Weichlichkeit lernst du noch zu entsagen,
Wonicht, so mußt du stets von Thür zu Thür anfragen.
10   Geh, Freund, und zieh die Hand deines Verlangens ein,
So wird nicht nötig dir des Reichen Ärmel sein.
11   Wer nur der Wünsche Blatt fein läßt gefaltet bleiben,
Der braucht an keinen Herrn »Diener und Knecht« zu schreiben.
12   Der Anspruch macht, daß man dich weist aus jedem Kreise;
Weis' ihn selbst von dir weg, daß niemand weg dich weise.

 
(158.)

    1   Der Vielfraß hat die Last von seinem Bauch zu tragen;
Und fand er keinen Fraß, so trägt er Mißbehagen.
2   Des Bauches Diener trifft oft der Beschämung Schmerz;
Lieber ist mir der Bauch verengert, als das Herz. 195

 
(159.)

    1   Sei mit dem Weibe nicht unmäßig im Verkehr;
Bist du nicht rasend, zück auf dich nicht deine Wehr.
2   Begierden über der Natur Verlangen reizen,
Heißt mit Verlangen nach dem eignen Tode geizen.

 
(160.)

    1   Von Basra hab' ich ein Geschichtchen mitgebracht,
Ein wundersüßes, das Datteln zu Schanden macht.Basra, Dattelland.
2   Wir gingen, ein'ge Mann, zusammen im Gewand
Ehrbarer Leute hin an eines Palmhains Rand.
3   Doch einer von der Zahl war seinem Bauch ergeben;
Weil er ein Fresser war, vergeudet' er sein Leben.
4   Er schürzte sich, der Wicht, und klomm den Baum hinan;
Er fiel auf seinen Hals, und hatte gnug daran.
5   Des Dorfes Obmann kam: »Wer hat den Mann erschlagen?«
Ich sprach: »Du brauchst darum so barsch uns nicht zu fragen.
6   Sein Wanst hat ihm den Saum geschlungen an den Baum;
Von weitem Magen wird verengt des Herzens Raum.« –
7   Nicht stets von Datteln gilt's: verschlungen und entsprungen;
Zuweilen trifft sich's so: verschlungen und zersprungen.
8   Der Bauch ist Fessel an der Hand und Kett' am Fuß;
Des Bauches Diener dient dem Herren mit Verdruß.
9   Die Heuschreck' ist ganz Bauch; darum sie solcherweise
Am Fuß gezerrt wird von kleinbauchiger Ameise.
10   Geh und bereite dir ein Inn'res leer und rein;
Zu füllen ist der Bauch mit Erde nur allein. 196

 
(161.)

    1   Ein Sufi war der Knecht von Bauch und Fleischeslust;
Zwei Thaler hatt' er, die er dafür ausgab just.
2   Als von den Freunden ihn vertraulich einer fragte:
»Mit den zwei Thalern was hast du gemacht?« er sagte:
3   »Das Rückenmark hab' ich mit einem angeregt,
Und habe für den Bauch den andern angelegt.
3   Doch eine Schlechtigkeit und Thorheit war's, nichts mehr;
Denn dieser ward nicht voll, und jenes ward nicht leer.«

 
(162.)

    1   Rohrzucker trug umher auf seinem Bret ein Krämer,
Sich wendend rechts und links, damit er fänd' Abnehmer.
2   Zu einem weisen Mann sprach er an Dorfes Ende:
»Nimm und bezahl mich, wann dir Geld kommt in die Hände.«
3   Da gab der Treffliche, von rechter Einsicht voll,
Die Antwort, die man vor die Augen schreiben soll:
4   »Du hättest etwa nicht Geduld mit meiner Schuld;
Vor deinem Zuckerrohr hab' ich jedoch Geduld.« –
5   In seinem Rohre hat nicht Süßigkeit der Zucker,
Wenn bitter hinterher die Mahnung kommt dem Schlucker.

 
(163.)

    1   Einst ward beschenkt ein Mann besonnen und bescheiden
Vom Emir von Choten mit einem Stücke Seiden.
2   Er legt' es an, darauf küßt' er die Erd' und sprach:
»Dem Weltgebietenden sei Heilgruß tausendfach.«
3   Vor Freude lachend blüht' er wie ein Rosenblatt,
Dann küßt' er ihm die Hand und sprach an selber Statt: 197
4   »Schön ist das Ehrenkleid des Schahes von Choten,
Doch meinen Kittel hier nenn' ich den schöneren.« –
5   Wenn frei du sein willst, schlaf am Boden auf der Erde;
Den Boden küsse nicht, daß dir ein Kissen werde.

 
(164.)

    1   Es war ein Mann, der nur zum Brot die Zwiebel aß,
Weil er nicht Geld und Gut wie mancher sonst besaß.
2   Ihm sagt' ein Thörichter: »O Kriechender im Staube,
Geh, hol dir ein Gericht von des Freimahles Raube.
3   Begehr und heische nur, und sei nicht scheu mit Bitten;
Denn dem Verschämten ist die Nahrung abgeschnitten.«
4   Da schürzt' er sein Gewand und schwang den Arm mit Pochen;
Zerrissen ward sein Rock und ihm der Arm zerbrochen.[nämlich vom Gedränge zum Freimahl.]
5   Ich hörte, wie er sprach und weinte lautres Blut:
»Wie ist zu helfen dem, was man sich selber thut?
6   Sein eignes Unheil sucht der Sklave der Begier;
Bei Brot und Zwiebel bleib' ich künftig im Quartier.« –
7   Ein Gerstenbrot, verzehrt vom Fleiße meiner Hände,
Ist besser als gereicht von fremdem Tisch die Spende.

 
(165.)

    1   Bei einer alten Frau war eine Katz' im Haus,
Erbärmlich ging es ihr, und ärmlich war ihr Schmaus.
2   Da rannte sie einmal zum Gasthaus vom Emir;
Der Fürstenknechte Troß mit Pfeilen schoß nach ihr.
3   Sie sprang heraus, indes das Blut vom Leib ihr lief,
Und rannt' in Todesangst davon, indem sie rief: 198
3   »Wenn ich den Schützen hier entrinn' und bin zu Hause,
So bleib' ich bei der Maus in meiner Alten Klause.« –
4   Der Honig, liebes Herz, ist nicht der Stacheln wert,
Besser Genügsamkeit, die sich von Molken nährt.
5   Mit jenem Diener ist der Herr nicht wohlzufrieden,
Dem nicht der Teil genügt, den ihm der Herr beschieden.

 
(166.)

    1   Als in des Kindes Mund die ersten Zähn' entsprangen,
Da ließ gedankenvoll den Kopf der Vater hangen:
2   »Woher nun soll das Brot und Mus dem Kind entsprießen?
Und unbarmherzig wär's, wenn wir es hungern ließen.«
3   Da ratlos er das Wort vor seinem Weibe sprach,
Nun sieh, wie männlich sie des Mannes Zweifel brach:
4   »Laß dir vom Teufel Angst nicht machen für sein Leben;
Der ihm die Zähne gab, wird auch das Brot ihm geben.« –
5   Reich ist doch wol genug, der schuf des Tages Licht,
Dir auch des Tages Brot zu geben; sorge nicht.
6   Und der im Mutterleib das Kind gezeichnet hat,
Schreibt auch den Unterhalt ihm auf des Lebens Blatt.
7   Der Herr, der nur gekauft den Knecht, wird ihn mit Recht
Erhalten, wie viel mehr, der selbst erschuf den Knecht.
8   Hast du soviel Vertraun zu deinem Schöpfer nicht,
Als selbst zu seinem Herrn ein Knecht hat Zuversicht?

 
(167.)

    1   Du hast ja wohl gehört, daß vormals Stein und Sand
Zu Gold und Silber ward in eines Heil'gen Hand.
2   O denke nicht, dies Wort sei der vernünft'gen keines;
Wenn du genügsam bist, ist Sand und Silber eines. 199
3   Sag' doch dem Derwisch, der nach Sultans Gnaden jagt,
Daß mehr der Sultan als der Derwisch ist geplagt.
4   Ein halber Groschen macht den Bettler schon halb satt,
Und den Feridun kaum ganz Babylon halb satt.
5   Herrschaft von Volk und Land befreit kein Herz vom Grame;
Der Bettler ist ein Fürst, und Bettler nur sein Name.
6   Der Bauer und sein Weib, sie schlafen sanft und tief,
Süß wie der Sultan nie in seinem Schlosse schlief.
7   Wenn weggespült vom Strom des Schlafs jedwedes wurde,
Wer ist Schah auf dem Thron, wer in der Wüst' ein Kurde?
8   Ob hier ein Padischah, dort ein Schuhflicker lag,
Die Nacht des einen wie des andern wird zum Tag.
9   Wenn du den Reichen siehst, das Haupt von Hochmut trunken,
Geh, Armer, und bet' an, vor Gott in Staub gesunken;
10   Dank ihm, daß er die Macht nicht gab in deine Hände,
Daß eines Andern Weh aus deiner Hand entstände.

 
(168.)

    1   Ich hört' erzählen, daß ein sinn'ger guter Mann
Nach seines Leibes Maß ein Haus zu baun begann.
2   Zu diesem sprach ein Freund: »Ich weiß, daß du mit Fug
Baun kannst ein bessres Haus.« Doch jener sprach: »Genug!
3   Was soll ich ein Gebäud' empor zum Himmel bäumen?
Auch dieses ist dazu genug, um es zu räumen.« –
4   Mein Knabe, baue dir kein Haus an Gießbachs Rande;
Denn niemand noch war fest zu bauen dort im Stande.
5   Der Weisheit und Vernunft, der Einsicht ist's entgegen,
Daß sich ein Reisender ein Haus bau' auf den Wegen.

 
(169.)

    1   In Herrschaft stand ein Mann, der hoch war angesehn,
Doch seine Sonne sah er bergwärts niedergehn. 200
2   Da ließ er einem Scheich die Herrschaft übers Land,
Weil sich in seinem Haus kein Stellvertreter fand.
3   Wie der Einsiedler hört die Herrschaftspauke schlagen,
Will in der Siedelei die Rast ihm nicht behagen.
4   Mit Mannschaft rechts und links er auszuziehn begann,
Und der Beherzten Herz vor ihm zu fliehn begann.
5   Ihm wuchs der Fäuste Schärf' und seines Armes Wucht,
Mit allen Streitern hat er Kampf und Streit gesucht.
6   Von dem verstörten Volk hieb er ein Teil in Stücken,
Die andern schlossen fest zusammen Rat und Rücken,
7   Und schlossen endlich so in eine Vest' ihn ein,
Daß seine Kraft erlag vor Wurfgeschoß und Stein.
8   An einen frommen Mann ging da von ihm der Bot':
»O spring mir bei! ich bin bedrängt und hart in Not.
9   Mit Herzwunsch und Gebet sei thätig für mein Heil;
Denn nicht in jedem Kampf entscheidet Schwert und Pfeil.«
10   Der Fromme hörte das, er lacht' und sprach dazu:
»Ei, warum aß er nicht ein halbes Brot in Ruh!« –
11   Karun erkannte nicht, berückt von Eigennutz:
Der Schatz der Rettung liegt in niedrer Hütten Schutz.

 
(170.)

S. oben das Ende der zweiten Pforte, (79, 12)

    1   Der Edelmüt'ge trägt den Wert in seinem Mut;
Gering ist der Verlust, verliert er Geld und Gut.
2   O glaub' nicht, daß ein Wicht, wird er wie Karun reich,
Die Niederträchtigkeit auszieh' damit zugleich.
3   Doch hab' ein Edelmut Ausübender kein Brot,
Den Reichtum des Gemüts entzieht ihm keine Not. 201
4   Der Gott, der aus dem Staub den Menschen ließ entstehn,
Meinst du, daß Menschlichkeit er läßt zu Grunde gehn?
5   Ja, wenn aus Rang und Würd' ein Niederträcht'ger fällt,
Ein halbes Wunder wär's, würd' er neu hergestellt;
6   Doch, wenn ein Stein von Wert du bist, kein Gram dich nage!
Verloren gehen läßt dich nicht der Lauf der Tage.
7   Am Wege liegen mag vielleicht ein Ziegelstück;
Du siehst nicht, daß danach thut jemand einen Blick.
8   Doch aus der Schere Mund kein Blättchen Goldes klein
Mag fallen, ohne daß man's sucht bei Kerzenschein.
9   Selbst aus Gestein bringt man das Glas hervor; getrost!
Der Spiegel wird bedeckt nicht bleiben unterm Rost.
10   Du brauchst nur Frömmigkeit und Tugend, Wert und Mut;
Denn mit der Zeit kommt, mit der Zeit geht Ehr' und Gut.

 
(171.)

    1   Die Kunde hört' ich in der Redekund'gen Kreise,
Daß vormals in der Stadt hier war ein alter Greise,
2   Des Augen manchen Schah und Herrschaftswechsel sahn,
Manch Menschenalter durch, von Amru's Zeiten an.[Amru, d. i. Amr ibn Leith der Saffaride, regierte 878/900.]
3   Dem alten Baume war ein Früchtchen jung entsprossen,
Von dessen Schönheit laut schrien alle Stadtgenossen:
4   »O Wunder übers Kinn von solchem Herzensdieb!
Wer sah Cypressenwuchs, der einen Apfel trieb?«Der Apfel ist eben das Kinn.
5   Dem jungen Schalk das Spiel mit Menschenruh zu wehren,
Fiel es dem Alten ein, das Haupt ihm kahl zu scheren.
6   Mit hoffnungkürzenden betagten Messers Rand
Macht' er so glänzend ihm das Haupt wie Moses' Hand. 202
7   Der Hitzkopf, dessen Herz von Eisen war, den Schönen
Mit Periwangen hub er scharf an zu verhöhnen.Der Hitzkopf ist das Messer; verhöhnen = verunstalten, verschimpfen.
8   Weil solcher Schönheit er ein Härchen abgekappt,
Ward ihm der Kopf sogleich in seinen Bauch geschnappt.Das Messer wird zur Strafe für seine Unthat eingeschlagen, der Kopf (die Schneide) in den Bauch (die Scheide).
9   Der Schöne ließ vor Scham alswie die Laute hängen
Den Kopf, von dem herab fielen der Stränge Längen.
10   Dem Liebenden, der hatt' auf ihn das Herz gewandt,
Das Herz in Thränen gleich des Schönen Augen stand.
11   Da sprach zu ihm ein Freund: »Unbill hast du erfahren
Und Schmerz; die Leidenschaft, die eitle, laß nun fahren!
12   Thu' wie ein Schmetterling, und ihm den Rücken kehre,
Da seiner Schönheit Kerz' erlegen ist der Schere.«
13   Der rüstig Liebende ließ einen Seufzer steigen:
»Die Unbeständigkeit,« sprach er, »ist Rohen eigen.
14   Anmutig muß ein Knab' und hold sein von Gebahren;
Mag sich der Vater dann vergreifen an den Haaren!
15   Ins Leben über ist die Liebe mir gegangen,
Und nicht an einem Haar wird mein Gemüte hangen.« –
16   Hast du ein schön Gesicht, so laß dich's nicht verdrießen,
Das Haar wird, wenn es dir entfiele, wieder sprießen.
17   Auch nicht die Rebe hat beständig frisches Laub,
Bald gibt sie Früchte, bald ihr Blatt dem Wind zum Raub.
18   Ein Edler fällt wol in Verhüllung gleich der Sonnen,
Sein Neider aber fällt wie Aschen in den Bronnen.
19   Die Sonne kommt hervor aus Wolkenhüllen wieder,
Im Brunnen aber sinkt die Asch' allmählich nieder.
20   Erschrick vorm Dunkel nicht, o Mann des hohen Strebens;
Denn in dem Dunkel ist vielleicht der Quell des Lebens. 203
21   Fand der Erschütterung nicht Ruhe Meer und Land?
Und reiste Saadi nicht, bis seinen Wunsch er fand?
22   Drum quäle nicht dein Herz, ob dir ein Wunsch versage:
Denn schwanger ist die Nacht, o Bruder, mit dem Tage.

 << zurück weiter >>