Joseph Roth
Hotel Savoy
Joseph Roth

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XXV

Es regnet nun schon eine Woche in der Stadt. Die Abende sind klar und kühl, aber bei Tage regnet es.

Es paßt so zum Regen, daß in diesen Tagen die Flut der Heimkehrer sich mit frischer Gewalt heranwälzt.

Mitten durch den schrägen, dünnen Regen gehen sie, Rußland, das große, schüttet sie aus. Sie nehmen kein Ende. Sie kommen alle denselben Weg, in grauen Kleidern, den Staub zerwanderter Jahre auf Gesichtern und Füßen. Es ist, als hingen sie mit dem Regen zusammen. Grau wie er sind sie und beständig wie er.

Sie strömen Grau aus, unendliches Grau über diese graue Stadt. Ihre Blechgeschirre klappern wie der Regen in den Blechrinnen. Ein großes Heimweh geht von ihnen aus, die Sehnsucht vorwärtstreibt und eine verschüttete Erinnerung an Heimat.

Unterwegs sind sie hungrig, sie stehlen oder betteln, und beides ist ihnen gleich. Sie töten Gänse und Hühner und Kälber, es ist Friede in der Welt, aber das bedeutet nur, daß man keine Menschen mehr zu töten braucht. Gänse, Hühner und Kälber aber haben nichts mit dem Frieden zu tun. Wir stehen, Zwonimir und ich, am Rande der Stadt, wo die Baracken sind, und spähen nach vertrauten Gesichtern. Alle sind fremd und alle vertraut. Der sieht wie mein Nachbar in der Schwarmlinie aus, und der hat mit mir Gelenksübungen gelernt.

Wir stehn seitwärts und betrachten sie, aber es ist genauso, als ob wir mit ihnen gingen. Wir sind wie sie, auch uns hat Rußland ausgeschüttet, und wir ziehn alle heim.

Es führt einer einen Hund mit, er trägt das Tier auf dem Arm, und seine Eßschale klappert an seine Hüfte bei jedem Schritt. Ich weiß, daß er den Hund nach Hause bringen wird, seine Heimat liegt im Süden, in Agram oder in Sarajevo, den Hund bringt er treu bis zu seiner Hütte. Seine Frau schläft mit einem andern, den Totgeglaubten erkennen seine Kinder nicht mehr – er ist ein anderer geworden, und der Hund nur kennt ihn, ein Hund, ein Heimatloser.

Die Heimkehrer sind meine Brüder, sie sind hungrig. Nie sind sie meine Brüder gewesen. Im Felde nicht, wenn wir, von einem unverstandenen Willen getrieben, fremde Männer totmachten, und in der Etappe nicht, wenn wir alle, nach dem Befehl eines bösen Menschen, gleichmäßig Beine und Arme streckten. Heute aber bin ich nicht mehr allein in der Welt, heute bin ich Teil der Heimkehrer.

Sie strichen in Gruppen von fünf oder sechs Mann durch die Stadt, sie zerstreuten sich kurz vor den Baracken. Sie sangen Lieder von den Höfen und Häusern, mit gebrochener, rostiger Stimme, und dennoch waren die Lieder schön, wie manchmal an Märzabenden die Stimme eines schadhaften Leierkastens schön ist.

Sie aßen in der Armenküche. Die Portionen wurden immer kleiner und der Hunger größer.

Die streikenden Arbeiter saßen und vertranken ihre Streikgelder in den Wartesälen des Bahnhofs, und die Frauen und Kinder hungerten.

In der Bar griff der Fabrikant Neuner nach den Brüsten der nackten Mädchen, die vornehmen Frauen der Stadt ließen sich ihre Kopfschmerzen von Xaver Zlotogor wegmagnetisieren. Den Hunger der armen Frauen konnte Xaver Zlotogor nicht wegmagnetisieren.

Seine Kunst war nur für leichte Krankheiten gut, den Hunger konnte er nicht vertreiben und die Unzufriedenheit auch nicht.

Der Fabrikant Neuner hörte nicht auf die Ratschläge Kanners und schob alle Schuld auf Bloomfield.

Was aber ging Bloomfield diese Gegend an, ihr Hunger und ihre Verhältnisse? Sein toter Vater Jechiel Blumenfeld hungerte nicht, und seinetwegen war Henry Bloomfield hierhergekommen.

Die Stadt bekam ein Kino und eine Fabrik für Juxgegenstände – was sollte das den Arbeiterfrauen. Die Juxgegenstände waren für die Herrschaften, und ein Spielzeug taugte keinem Arbeiter. Bei den Knallerbsen und brennenden Fröschen und im Kino könnten sie den Neuner vergessen, aber den Hunger nicht.


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