Joseph Roth
Hotel Savoy
Joseph Roth

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Zweites Buch

XIV

Nun stehe ich schon den dritten Tag am Bahnhof und warte auf Arbeit. Ich könnte in eine Fabrik gehen, wenn die Arbeiter nicht gerade streikten. Philipp Neuner würde sich wundern, einen Mann aus der Bargesellschaft unter den Arbeitern zu finden. Ich mache mir aus derlei Dingen nichts, viele Jahre harter Arbeit liegen hinter mir.

Man braucht keine Arbeiter, es sei denn gelernte, und gelernt habe ich nichts. Ich kann »Kaleguropulos« deklinieren und noch manches andere. Auch schießen kann ich – ich bin ein guter Schütze. Für Feldarbeit bekommt man Essen und Wohnung, aber kein Geld – und ich muß Geld haben.

Am Bahnhof kann man Geld verdienen. Manchmal kommt ein Ausländer. Er sucht einen zuverlässigen »Menschen mit Sprachkenntnissen«, um nicht übers Ohr gehauen zu werden von der schlauen Bevölkerung. Auch Gepäckträger sind sehr gesucht – hier gibt es nicht viele. Ich weiß auch nicht, was ich sonst machen könnte. Vom Bahnhof ist es nicht mehr so weit in die Welt. Hier darf man Schienenstränge hinauslaufen sehn. Menschen kommen an und fahren weiter. Vielleicht kam ein Freund oder ein Kriegskamerad?

Es kam wirklich einer, nämlich Zwonimir Pansin, ein Kroate, von meiner Kompanie. Auch er kommt aus Rußland, und nicht einmal zu Fuß, sondern mit der Bahn – also weiß ich, daß es Zwonimir gutgeht und daß er mir helfen wird.

Wir begrüßen uns sehr herzlich, Zwonimir und ich, zwei alte Kriegskameraden.

Zwonimir war ein Revolutionär von Geburt. In seinen Militärpapieren stand ein p. v., das heißt: politisch verdächtig – deshalb hat er es nicht einmal zum Korporal gebracht, obwohl er eine große Tapferkeitsmedaille trug. Er war einer der ersten in unserer Kompanie, die eine Dekoration bekamen – Zwonimir wollte sie ablehnen – er sagte dem Hauptmann ins Gesicht: Er wolle nicht ausgezeichnet werden – und es täte ihm leid, daß es dazu gekommen sei.

Nun, der Hauptmann war sehr stolz auf seine Kompanie – ein guter und hohler Kerl war der Hauptmann – und wollte es nicht zugeben, daß der Regimentskommandant etwas von Aufruhr erfahre. Deshalb ordnete sich alles, und Zwonimir nahm die Medaille an.

Ich entsinne mich der Tage – das Regiment war in Rast –, da lagen Zwonimir und ich auf der Wiese am Nachmittag und sahen zur Kantine hinüber, vor der Soldaten kamen und gingen und in Gruppen herumstanden.

»Sie haben sich schon daran gewöhnt«, sagte Zwonimir, »sie werden nie mehr in einem anständigen Laden Präservative kaufen, in so einem duftenden, wo die Ladenmädchen parfümiert sind wie Huren.«

»Ja«, sagte ich.

Und wir sprachen davon, daß dieser Krieg in alle Ewigkeit fortgehen würde und daß wir nie mehr nach Hause kämen. Zwonimir hatte noch einen Vater und zwei kleine Brüder.

»Auch sie werden einrücken«, sagte Zwonimir. »In zehn Jahren wächst keine Frucht mehr in allen Ländern der Welt, nur noch in Amerika.«

Er liebte Amerika. Wenn eine Menage gut war, sagte er: Amerika! Wenn eine Stellung schön ausgebaut war, sagte er: Amerika! Von einem »feinen« Oberleutnant sagte er: Amerika. Und weil ich gut schoß, nannte er meine Treffer: Amerika.

Und alles Dauernde, Unaufhörliche nannte er: Übt! »Übt« war ein Kommando; bei den Gelenksübungen sagte man: »übt«: »Kopfnicken übt!«, »Kopfbeuge übt!« – Das ging dann in alle Ewigkeit.

Wenn wir jeden Tag Dörrgemüse hatten, so sagte Zwonimir: »Drahtverhau übt.« Weil das Trommelfeuer wochenlang dauerte, sagte er: »Trommelfeuer übt!«, und weil er mich für einen allzeit guten Kerl hielt, sagte er: »Gabriel übt!«

Wir saßen im Wartesaal dritter Klasse, umtobt vom Lärm der Betrunkenen, und sprachen leise und verstanden dennoch jedes Wort, denn wir hörten mit den Herzen, nicht mit den Ohren.

In diesem Wartesaal hat mich schon jemand mit lauter Stimme angesprochen, und ich habe dennoch nicht verstanden. So stark war das Geheul der Betrunkenen.

Es waren die streikenden Arbeiter Neuners, die hier ihre Streikgelder vertranken.

In der Stadt war Schnapsverbot, am Bahnhof erhielt man den Alkohol in Kaffeekannen. Arbeiterinnen saßen da, junge Mädchen, sie waren schwer berauscht, aber nichts konnte ihre Frische ganz verderben, vergeblich kämpfte der Schnaps gegen ihre Gesundheit. Die jungen Burschen gerieten in Streit wegen eines Mädchens und griffen zum Messer. Aber sie schlugen einander nicht tot. Das Volk war nur lebhaft, nicht böse, jemand warf einen Witz zwischen die Kämpfer, und alle söhnten sich aus.

Dennoch war es gefährlich, hier lange zu sitzen, man konnte plötzlich einen Schlag auf den Schädel erhalten oder einen Stoß vor die Brust, oder es kam einer und nahm dir deinen Hut weg oder schmiß dich auf den Boden, weil er keinen freien Stuhl mehr gefunden hatte. Zwonimir und ich saßen am Ende des Saals, lehnten uns gegen die Wand, so daß wir die ganze Menge übersehen und jeden erblicken konnten, der sich uns näherte. Aber niemand belästigte uns, in unserer Nähe wurden alle freundlich. Manchmal bat uns einer um Feuer, einmal fiel mir eine Streichholzschachtel auf den Boden – und ein junger Bursche hob sie auf.

»Willst du weitergehn, Zwonimir«? fragte ich – und erzählte ihm, wie es mir ging.

Zwonimir wollte nicht weitergehn. Er wollte hierbleiben; ihm gefiel der Streik. »Ich will hier eine Revolution machen«, sagte Zwonimir, so einfach, als sagte er: Ich will hier einen Brief schreiben.

Ich erfahre, daß Zwonimir Agitator ist, aus Liebe zur Unruhe. Er ist ein Wirrkopf, aber ehrlich, und er glaubt an seine Revolution.

»Du kannst mir dabei helfen«, sagt er.

»Ich kann nicht«, sage ich. Und erkläre Zwonimir, daß ich ein einzelner bin und kein Gefühl für die Gemeinschaft habe. »Ich bin ein Egoist«, sage ich, »ein wirklicher Egoist.«

»Ein gebildetes Wort«, tadelt Zwonimir. »Alle gebildeten Worte sind schändlich. In der einfachen Sprache könntest du so Häßliches gar nicht sagen.«

Darauf kann ich nicht antworten.

Ich stehe allein. Mein Herz schlägt nur für mich. Mich gehen die streikenden Arbeiter nichts an. Ich habe keine Gemeinschaft mit einer Menge und nicht mit einzelnen. Ich bin ein kalter Mensch. Im Krieg fühlte ich mich nicht eins mit der Kompanie. Wir lagen alle im gleichen Dreck und warteten alle auf den gleichen Tod. Aber ich konnte nur an mein eigenes Leben denken und an meinen eigenen Tod. Ich ging über Leichen, und manchmal tat es mir weh, daß ich keinen Schmerz empfand.

Jetzt läßt mir der Tadel Zwonimirs keine Ruhe – ich muß über meine Kälte nachdenken und über meine Einsamkeit.

»Jeder Mensch lebt in irgendeiner Gemeinschaft«, sagt Zwonimir.

In welcher Gemeinschaft lebe ich? –

Ich lebe in Gemeinschaft mit den Bewohnern des Hotels Savoy.

Alexanderl Böhlaug fällt mir ein, auch er lebt nun »in enger Nachbarschaft« mit mir. Was hatte ich mit Alexanderl Böhlaug Gemeinsames? Nicht mit Böhlaug, aber mit dem toten Santschin, der im Wäschedunst erstickt ist, und mit Stasia, mit den vielen vom fünften, sechsten und siebenten Stock, die sich vor Kaleguropulos' Inspektionsbesuchen fürchten, ihre Koffer verpfändet haben und eingesperrt sind in diesem Hotel Savoy, lebenslänglich.

Und keine Spur von Gemeinschaft habe ich mit Kanner und Neuner und Anselm Schwadron, mit Frau Kupfer und mit meinem Onkel Phöbus Böhlaug und seinem Sohn Alexanderl.

Gewiß, ich lebe in einer Gemeinschaft, ihr Leid ist mein Leid, ihre Armut ist meine Armut.

Jetzt stehe ich da am Bahnhof und warte auf Geld und finde keine Arbeit. Und habe noch das Zimmer nicht bezahlt und nicht einmal einen Koffer für Ignatz.

Es ist ein großes Glück, das Zusammentreffen mit Zwonimir, ein glücklicher Zufall, wie er nur in Büchern vorkommt.

Zwonimir hat noch Geld und Mut. Er will in mein Zimmer ziehn.


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