Joseph Roth
Hotel Savoy
Joseph Roth

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XXIII

Ich verstand Henry Bloomfield.

Er hatte Heimweh, wie ich und Zwonimir.

Die Leute kamen immer noch aus Berlin und aus anderen Städten. Es waren laute Menschen, sie schrien und logen schreiend, um das Gewissen zu übertönen. Sie waren Aufschneider und Prahlhänse, und alle kamen vom Film her und wußten viel zu erzählen von der Welt, aber sie sahen die Welt mit ihren Glotzaugen, hielten die Welt für eine geschäftliche Niederlage Gottes, und sie wollten ihm Konkurrenz machen und ebenso große Geschäfte eröffnen.

Sie wohnten in den drei unteren Stockwerken und ließen sich von Zlotogor ihre Kopfschmerzen kurieren.

Viele kamen mit ihren Frauen und Freundinnen, und dabei hatte Zlotogor erst recht zu tun.

Es änderte sich viel im Hotel Savoy.

Man gab Frauen- und Herrenabende und Tanzkränzchen, die Gesellschaft der Herren flüchtete um Mitternacht in die Bar und zwickte die nackten Mädchen und Frau Jetti Kupfer.

Oben stieg Alexanderl herum, in Frack und Lack, und Xaver Zlotogor mit einem hochgeschlossenen Rock und tat geheimnisvoll und trug ein schelmisches Jungengesicht.

Bloomfield kam und Bondy. Bondy sprach, die Frauen aber sahen nur Henry Bloomfield an, und weil er nichts sprach, schien es, als lauschten sie seinem Schweigen. Als hätten sie die Fähigkeit zu hören, was er dachte und verbarg.

Zu mir kamen auch die Leute aus den oberen Stockwerken, und es nahm kein Ende. Ich sah, daß keiner von ihnen freiwillig im Hotel Savoy wohnte. Jeden hielt ein Unglück fest. Jedem war Hotel Savoy das Unglück, er wußte nicht mehr gerecht zu scheiden zwischen dem und jenem.

Alles Mißgeschick stieß ihnen in diesem Hotel zu, und sie glaubten, Savoy heiße ihr Unglück.

Es nahm kein Ende. Auch die Witwe Santschin kam. Sie lebte jetzt bei ihrem Schwager auf dem Lande und mußte schwere Arbeit im Hause tun. Sie hatte von Bloomfields Ankunft gehört und daß er allen Menschen half.

Ich weiß nicht, ob die Witwe Santschin etwas erreicht hat.

Ich weiß nicht, wie vielen Bloomfield geholfen hat.

Der Polizeioffizier tauchte plötzlich auf, derselbe, dessen ganze Familie allabendlich im Varieté saß.

Er war ein junger, stupider Mensch mit Achselklappen und einem Schleppsäbel, und nichts war an ihm Besonderes. Er hatte von seinem Vorgänger das Zimmer 80 geerbt, alle Polizeioffiziere, die hierher versetzt wurden, wohnten umsonst im Zimmer 80.

Seit einer Woche trug der Offizier eine neue Uniform aus dunkelblauem Tuch und eine Auszeichnung auf der Brust. Ich glaube, er wurde endgültig zum Oberleutnant ernannt. Er stelzte feierlich, sein Säbel geriet ihm oft genug zwischen die Beine, und in der Rechten schwenkte er gelbe Wildlederhandschuhe. Er kam in die Bar und trank an allen Tischen, auf aller Kosten und landete schließlich bei Alexanderl am Tisch.

Die zwei verstanden sich gut.

Der Polizeioffizier hat ein kurzes Schnurrbärtchen und ein kurzes, stumpfes Näschen und große rote Ohren an einem glattrasierten, kleinen Schädel. Das Haar wuchs ihm tief in die Stirn in einem spitzen Dreieck über der Nase, er mußte seine Dienstmütze streng über den Augen tragen, weil man sonst diesen lächerlichen Haarwuchs gesehen hätte.

Ich weiß nicht, was ein Polizeioffizier zu tun hat, ich weiß, daß er sehr wenig arbeitet. Unser Polizeioffizier stand um zehn Uhr auf, er aß um zwölf Uhr Mittag, und dann las er die Zeitungen. Das war eine schwere Arbeit, er legte immer den Säbel ab, wenn er Zeitungen las. Er gab sich sozusagen privat.

Am Abend tanzte er flott – er war ein begehrter Tänzer. Er bestäubte sich mit Maiglöckchenparfüm, er roch wie ein Blumenpavillon, und er tanzte in straffen Hosen, die mit Gummischnallen an den Stiefeln befestigt waren. Die Hose hatte einen dünnen roten Streifen an der Naht, der sehr schön und sehr blutig leuchtete. Seine großen Ohren flammten in tiefem Purpur, und mit einem kleinen Spitzentaschentuch wischte er sich eine Schweißperle von der Nase.

Der Polizeioffizier hieß Jan Mrock. Er war sehr höflich und gefällig und lächelte immer.

Das Lächeln war seine Rettung, ein guter, gefälliger Geist hatte es ihm geschenkt.

Wenn ich ihn so ansah, seine rosige Haut, seinen ahnungslosen Mund, dann wußte ich, daß er sich seit seinem siebenten Lebensjahr gar nicht geändert hatte. Er sah genauso aus wie ein Schulknabe. Zwanzig Jahre Krieg und das Elend ließen ihn unberührt.

Einmal kam er mit Stasia in die Bar.

Zwei Wochen sind vergangen, seitdem ich sie zum letztenmal gesehn habe. Sie ist braun und frisch und lächelnd und hat große graue Augen.

»Sie sind immer noch da?« sagt Stasia und wird rot, denn sie hat sich verstellt, sie weiß ja wohl, daß ich nicht verreist bin.

»Sind Sie enttäuscht?«

»Sie vernachlässigen unsere Freundschaft!«

Ich vernachlässige nicht die Freundschaft. Dieser Vorwurf gebührt Stasia selbst.

Zwei Wochen liegen zwischen ihr und mir, zweihundert Jahre können nicht mehr verwüsten. Ich habe auf sie zitternd gewartet, vor dem Varieté, in den Schatten einer Mauer gedrückt. Wir haben Tee miteinander getrunken, und eine leise Wärme lag um uns beide. Sie war meine erste liebliche Begegnung im Hotel Savoy, und uns beiden war Alexanderl unsympathisch.

Ich habe durch das Schlüsselloch gesehn, wie sie in einem Bademantel hin und her ging und französische Vokabeln lernte. Sie will ja nach Paris.

Ich wäre gerne mit ihr nach Paris gereist. Ich wäre gerne mit ihr zusammengeblieben, ein Jahr oder zwei oder zehn.

Ein großer Haufen Einsamkeit hat sich in mir angesammelt, sechs Jahre großer Einsamkeit.

Ich suche nach Gründen, weshalb ich ihr so fern bin, und finde keine. Ich suche nach Vorwürfen – was konnte ich ihr vorwerfen? Sie nahm von Alexander Blumen an und schickte sie nicht zurück. Es ist dumm, Blumen zurückzuschicken. Ich bin vielleicht eifersüchtig. Wenn ich mich mit Alexander Böhlaug vergleiche, spricht freilich alles zu meinen Gunsten.

Dennoch bin ich eifersüchtig.

Ich bin kein Eroberer und kein Anbeter. Wenn sich mir etwas gibt, nehme ich es und bin dankbar dafür. Aber Stasia bot sich mir nicht. Sie wollte belagert werden.

Ich verstand damals nicht – ich war lange einsam gewesen und ohne Frauen –, weshalb die Mädchen so heimlich tun und soviel Geduld haben und so stolz sind. Stasia wußte ja nicht, daß ich sie nicht triumphierend angenommen hätte, sondern demütig und dankbar. Heute verstehe ich, daß es der Natur der Frauen ansteht zu zögern und daß ihre Lügen vergeben werden, noch ehe sie geschehn.

Ich kümmerte mich zuviel um das Hotel Savoy und um die Menschen, um fremde Schicksale und zuwenig um mein eigenes. Hier stand eine schöne Frau und wartete auf ein gutes Wort, und ich sagte es nicht, wie ein verstockter Schulknabe.

Ich war verstockt. Mir war, als ob Stasia schuld wäre an meiner langen Einsamkeit, und sie konnte es ja gar nicht wissen. Ich warf ihr vor, daß sie keine Seherin war.

Nun weiß ich, daß die Frauen alles ahnen, was in uns vorgeht, aber dennoch auf Worte warten.

Gott legte das Zagen in die Seele der Frau.

Ihre Gegenwart reizte mich. Weshalb kam sie nicht zu mir? Weshalb ließ sie sich von dem Polizeioffizier begleiten? Weshalb fragt sie, ob ich immer noch da wäre? Weshalb sagte sie nicht: Gott sei Dank, daß du da bist!

Aber man sagt vielleicht nicht, wenn man ein armes Mädchen ist, zu einem armen Mann: Gott sei Dank, daß du da bist! Es ist vielleicht nicht mehr an der Zeit, einen armen Gabriel Dan zu lieben, der nicht einmal einen Koffer hat, geschweige denn ein Haus. Es ist vielleicht jetzt die Zeit, in der die Mädchen den Alexander Böhlaug lieben.

Heute weiß ich, daß die Begleitung des Polizeioffiziers ein Zufall war, ihre Frage eigentlich ein Geständnis. Damals aber war ich einsam und verbittert und benahm mich so, als wäre ich das Mädchen und Stasia der Mann.

Sie wird noch stolzer und kühler, und ich fühle, wie sich der Abstand zwischen uns beiden vergrößert und wie wir immer mehr und mehr fremd werden.

»Ich fahre bestimmt in zehn Tagen«, sage ich.

»Wenn Sie nach Paris kommen, schreiben Sie mir eine Karte!«

»Bitte, gerne!«

Stasia hätte sagen können:

Ich möchte mit Ihnen nach Paris fahren!

Statt dessen bittet sie mich um eine Postkarte.

»Ich schicke Ihnen den Eiffelturm.«

»Wie Sie wollen!« sagte Stasia, und es bezieht sich gar nicht auf die Ansichtskarte, sondern auf uns selbst.

Das ist unser letztes Gespräch. Ich weiß, es ist unser letztes Gespräch. Gabriel Dan, du hast gar nichts von Mädchen zu erwarten. Arm bist du, Gabriel Dan!

Am nächsten Morgen sehe ich Stasia am Arm Alexanderls die Treppe hinuntergehn. Beide lächeln mir zu – ich esse Frühstück unten. Da weiß ich, daß Stasia eine große Dummheit gemacht hat.

Ich verstehe sie.

Die Frauen begehn ihre Dummheiten nicht wie wir aus Fahrlässigkeit und Leichtsinn, sondern wenn sie sehr unglücklich sind.


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