Joseph Roth
Hotel Savoy
Joseph Roth

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XII

Wir schieden um 11 Uhr vormittags, und ich hatte Zeit genug – einen ganzen Sommernachmittag, einen Abend, eine Nacht.

Dennoch hätte ich gerne noch länger Zeit gehabt, eine Woche, zwei Wochen oder einen Monat. Ja, ich hätte gerne so eine Stadt wie diese zu einem längeren Ferienaufenthalt gewählt – es war eine recht amüsante Stadt, mit allerlei wunderbaren Menschen – man traf derlei nicht in aller Welt.

Da war dieses Hotel Savoy – ein prachtvolles Hotel, mit einem livrierten Portier, mit goldenen Schildern, es versprach Lift, reinliche Stubenmädchen in weiß gestärkten Nonnenhauben. Da war Ignatz, der alte Liftknabe, mit höhnischen, biergelben Augen, aber was tat er mir, wenn ich zahlte und keine Koffer verpfändete? Da war Kaleguropulos, gewiß der Übelsten einer – den kannte ich noch nicht, den kannte niemand.

Dieses einzigen Kaleguropulos wegen hätte es sich gelohnt hierzubleiben – Geheimnisse haben mich immer gelockt, und es ergab sich bei längerem Aufenthalt gewiß Gelegenheit, Kaleguropulos, dem Unsichtbaren, auf die Spur zu kommen.

Gewiß, es war besser zu bleiben.

Da lebte Abel Glanz, ein sonderbarer Souffleur, da konnte man bei Kanner Geld verdienen, im Judenviertel lag Geld im Straßenkot – es wäre nicht übel, als reicher Mann in den Westen Europas einzuziehen. Mit einem Hemd konnte man im Hotel Savoy anlangen und es verlassen als der Gebieter von zwanzig Koffern.

Und immer noch der Gabriel Dan sein.

Aber will ich nicht nach dem Westen? Habe ich nicht lange Jahre in der Gefangenschaft gelebt? Noch sehe ich die gelben Baracken wie schmutzigen Aussatz eine weiße Fläche bedecken, schmecke ich den süßen letzten Zug aus irgendwo aufgeklaubtem Zigarettenstummel, Jahre der Wanderung, Bitterkeit der Landstraße – grausam gefrorene Ackerschollen, die meine Fußsohlen schmerzen.

Was geht mich Stasia an? Es gibt viele Mädchen in der Welt, braunhaarige mit großen, grauen, klugen Augen und schwarzen Wimpern, kleinen Fußsohlen in grauen Strümpfen, man kann Einsamkeiten zusammenlegen, Schmerzen gemeinsam auskosten. Mag Stasia im Varieté bleiben, dem Pariser Alexander anheimfallen.

Fahr zu, Gabriel!

Es fügt sich, daß ich zum Abschied noch einmal durch die Straße streiche, die groteske Architektur der windschiefen Giebel, der fragmentarischen Kamine besehe, zerbrochene und mit Zeitungspapier verklebte Fensterscheiben, arme Gehöfte, das Schlachthaus am Rande der Stadt, die Fabrikschlote am Horizont, Arbeiterbaracken, braune, mit weißen Dächern, Geranientöpfe in Fenstern.

Das Land ringsum ist eine traurige Schönheit, eine verblühende Frau, der Herbst meldet sich allerorten, obwohl die Kastanien noch tiefgrün sind. Man muß zum Herbst woanders sein, in Wien, die Ringstraße sehn, von goldenem Laub übersät, Häuser wie Paläste, Straßen, gerade ausgerichtet und geputzt zum Empfang vornehmer Gäste.

Der Wind kommt aus der Gegend der Fabriken, es riecht nach Steinkohle, grauer Dunst lagert über den Häusern – das Ganze ist wie ein Bahnhof, man muß weiterfahren. Der Pfiff eines Zuges kommt gellend herüber, Menschen fahren in die Welt.

Bloomfield fällt mir ein – wo steckt er eigentlich? Längst müßte er kommen, die Fabrikanten sind aufgeregt, im Savoy ist alles vorbereitet, wo bleibt Bloomfield?

Hirsch Fisch erwartet ihn sehnsüchtig. Vielleicht hat Fisch jetzt Gelegenheit, aus dem ewigen Elend herauszukommen, er hat doch mit Bloomfields Vater gesprochen, der Blumenfeld hieß, Jechiel Blumenfeld.

Ich entsinne mich des Loses, das ich vom Hirsch Fisch bekam, die Zahlen 5, 8 und 3 sind sicher, ein Terno scheint mir gewiß. Wie, wenn das Los gewänne? Dann könnte ich in dieser interessanten Stadt bleiben, noch ein bißchen ausruhen. Ich habe keine Eile. Keine Mutter, kein Weib, kein Kind. Niemand erwartet mich. Niemand sehnt sich nach mir.

Aber ich sehne mich wohl, nach Stasia zum Beispiel. Ich lebte gerne mit ihr ein Jahr oder zwei oder fünf, ich reiste gerne mit ihr nach Paris, wenn ich einen Terno bekäme, knapp, ehe die Regierung die Lotterie abschafft – ich brauchte Alexander nicht mein Zimmer zu verkaufen und nicht bei meinem Onkel Phöbus zu betteln.

Die Ziehung ist nächsten Freitag, es muß eine Woche dauern – so lange kann ich Alexander nicht warten lassen. Bis morgen muß es entschieden sein.

Ich muß von Stasia Abschied nehmen.

Sie war angekleidet, als ich kam, und wollte in die Vorstellung gehn. Sie trug eine gelbe Rose in der Hand und ließ mich riechen.

»Ich habe viele Rosen bekommen – von Alexander Böhlaug.«

Vielleicht wartet sie, daß ich sage: Schicken Sie die Blumen zurück.

Vielleicht würde ich es auch sagen, wenn ich nicht gekommen wäre, um Abschied für immer zu nehmen.

So sagte ich nur:

»Alexander Böhlaug wird mein Zimmer nehmen. Ich verreise.«

Stasia blieb stehn – auf der zweiten Stufe –, wir hatten gerade die Treppe hinuntergehen wollen.

Vielleicht hätte sie mich gebeten zu bleiben – aber ich sah sie nicht an, blieb auch nicht stehen, sondern ging hartnäckig die Stufen hinunter, als wäre ich ungeduldig.

»Sie reisen also bestimmt?« sagte Stasia. »Wohin?«

»Ich weiß es nicht genau!«

»Es ist schade, daß Sie nicht bleiben wollen –«

»Nicht bleiben können –«

Nun sagte sie nichts mehr, und wir gingen schweigsam bis zum Varieté.

»Kommen Sie heute nach der Vorstellung zu einem Abschiedstee?« fragte sie.

Wenn Stasia mich nicht gefragt, sondern kurzweg eingeladen hätte – ich hätte ja gesagt.

»Nein!«

»Nun, dann gute Reise!«

Das war ein kühler Abschied – aber es war ja auch gar nichts zwischen uns gewesen! Nicht einmal Blumen hatte ich geschenkt.

Es gab Chrysanthemen bei der Blumenhändlerin im Hotel Savoy – ich kaufte sie und schickte die Blumen mit Ignatz in Stasias Zimmer.

»Der Herr verreist?« fragte Ignatz.

»Ja!«

»Weil nämlich für Herrn Alexander Böhlaug noch ein Zimmer frei wäre – wenn der Herr deswegen verreist.«

»Nein, ich verreise ohnehin! Bringen Sie morgen die Rechnung!«

»Die Blumen für Stasia?« fragte Ignatz, ehe ich aus dem Fahrstuhl stieg.

»Für Fräulein Stasia!«

Ich schlief die ganze Nacht traumlos –. Morgen oder übermorgen reiste ich – der Pfiff eines Zuges kam langgedehnt und schrill herüber – Menschen fuhren in die Welt – ade, Hotel Savoy!


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