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6

Anna Hedenus durchschritt den Korridor der großen stillen Wohnung in der Bleibtreu-Straße. Einen Augenblick blieb sie vor dem Flurspiegel stehen und strich sich mechanisch die Haarsträhnen, die blond und wirr fielen, aus dem Gesicht.

Man müßte sich mehr pflegen können, dachte sie resigniert und sah Mrs. Spencer strahlend und schön vor sich.

Sie lächelte, als sie in das Arbeitszimmer ihres Vaters trat; man mußte ein freundliches Lächeln für diesen alten Mann haben.

Professor Hedenus saß in dem mächtigen hohen Lehnstuhl vor seinem Schreibtisch. Immer fand man ihn so, wenn er arbeitete, niemals hinter, sondern seitlich vor dem mit einem Wirrwarr von Manuskripten und Akten bedeckten Tisch.

Es vergingen manchmal Wochen und Monate, ehe eine einzige Seite diktatreif war.

»Guten Abend, Vater!« sagte Anna und lächelte tapfer.

Er hatte wohl nicht gehört, er antwortete nicht; nur seine welken Hände konnte sie jetzt sehen, die unbeweglich auf den Armlehnen ruhten.

»Guten Abend«, sagte sie noch einmal und trat neben den Tisch, »geht's vorwärts?«

Erst jetzt bemerkte sie, daß neben dem Notizblock die Brille lag; der alte Mann arbeitete nicht, er stierte mit großen, leeren Augen vor sich hin.

»Was ist?« stieß sie gepreßt hervor und griff nach seiner schlaffen Hand.

Die Hand machte eine ausweichende Bewegung und verbarg sich. Und nun sprach eine Stimme, die wohl die des Professors Hedenus, ihres Vaters, sein mußte. Diese Stimme, die irgendwie in den Raum hineintönte, fremd und fern, fragte: »Wo warst du, Anna?«

»Ich? Bei Mrs. Spencer, du weißt doch!« gab sie unbefangen zurück. Sie fühlte eine plötzliche Schwäche und mußte sich gegen den Tisch lehnen, das Herz klopfte stark und wild, sie wußte nicht weshalb.

»So – bei Mrs. Spencer, so?«

»Was dachtest du?« fragte sie gequält und erschrocken. Eine schreckliche Ahnung stieg in ihr auf, so absurd und abwegig. Aber nicht unmöglich.

Die nächste Minute brachte die Gewißheit.

Hedenus griff nach seiner Brille, er fand sie nicht; statt dessen ballte sich diese schlaffe weiße Hand zu einer Faust, zur lächerlichen schwachen Faust eines Kindes.

»Ich dachte, Anna, du wärest wieder bei deinem Freund Marcus gewesen!«

Das Zimmer rückte heran und floß ganz weit zurück, wunderliche Buddhas grinsten fröhlich zwischen dunklen hohen Bücherregalen. Fern gongte eine Standuhr.

Marcus war das Geschäft, in dem sie die Stücke verkauft hatte, die sie aus der Sammlung des Vaters genommen.

»Sie stehen jetzt im Fenster zum Verkauf!« sagte der Professor blechern. Es klang, als hätte jemand das Teuerste, was es in seinem Leben gab, am Pranger gesehen. Er atmete schwer und sank ganz in sich zusammen. Mitleid mit diesem Menschenwrack stieg in ihr auf, saß, eine stickende quellende Kugel, im Halse, schnürte die Kehle – hätte jetzt jemand die Stücke gebracht und sie selbst als Preis gefordert, sie hätte sich ohne Besinnen gegeben.

»Was hast du zu sagen?« forschte seine Stimme.

Was konnte sie ihm entgegnen? Sollte sie ihm jetzt die Wahrheit gestehen, sollte sie ihm diese Wunde schlagen, daß sie die Stücke aus seiner Sammlung verkaufen mußte, damit er zu essen hatte, daß selbst die heimlichen Unterstützungen der Verwandten nicht mehr reichten, daß sie ganz am Ende war mit ihrer Widerstandskraft? Sollte sie das? Kein Mensch konnte es von ihr verlangen.

»Brauchtest du etwas, fehlte dir etwas – Kleider?«

»Nein!« brachte sie mühsam hervor, schamerfüllt, daß man sie für fähig hielt, um elender Staffage willen Dinge zu veräußern, die ein anderer, ihr Vater, unter Einsatz seines Lebens gesammelt hatte.

»Warum also?!«

*

»Ich konnte mich bisher mit allem abfinden«, sprach eine sehr müde, kranke Stimme, »weil ich mir einbildete, eine Tochter zu haben – – wie man sie vielleicht heutzutage nicht mehr häufig findet – ich – – ich dachte noch etwas zu besitzen, worauf ich stolz sein dürfte!« Die Hand machte eine vage Bewegung, das Gesicht sah sie nicht, sie konnte es nicht ansehen in diesem Augenblick.

»Ich sehe nun ein«, fuhr der Professor nach einer sehr schweren Pause fort, »daß ich mich getäuscht habe – es muß wohl so sein!«

»Ich werde sie zurückkaufen!« rief sie verzweifelt.

»Nein, nein – – das kannst du nicht mehr zurückkaufen!«

»So begrei – –«

»Du brauchst dich nicht zu verteidigen – wozu sich in neue Lügen verstricken?!«

Er lachte seltsam; wahrhaftig, Hedenus lachte wie einer, der nicht mehr wußte, was er tat.

»Lügen?« brach es leidenschaftlich aus ihr hervor; sie war jetzt fertig mit ihren Nerven, wer wußte, was sie jetzt sagen würde, alles, schonungslos. Es gab Grenzen der Menschenkraft, hier waren sie.

»Du hast mich immer belogen, ich habe mich in dir getäuscht – im übrigen habe ich bereits mit Tante Emma telephoniert, ihr Haus in Prenzlau wird dir vorderhand offenstehen!« Seine Hand begann plötzlich zu fliegen, suchte, ertastete einen Block, umkrampfte ihn fest.

Professor Hedenus zerriß und zerknüllte die Arbeit von Wochen, von Monaten.

»Was tust du?!« schrie sie erschrocken und wollte ihn zurückhalten.

»Ah – eine Diebin – – eine Diebin!« röchelte der vereinsamte Mann.


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