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Rückblick

Neulich besuchte mich ein amerikanischer Freund.

Ich saß hungrig da und lauschte gierig auf sein Erzählen. Es war, als hätten nebelhafte Märchengebilde der Erinnerung auf einmal wieder die festen klaren Formen der Wirklichkeit angenommen; eines romantischen aber wahren Lebens, das doch weit und unwiederbringlich zurückzuliegen schien. Der Mann, ein erfolgreicher Ingenieur, sprang von Stadt zu Stadt über in seinem Schildern; von Staat zu Staat, von Land zu Land – von Texas zu Kuba, von New York zu San Franzisko, von Zuckerplantagennegern zu New Yorker Milliardären...

Und ich lauschte und lauschte, und eine Spanne Zeit lang kam es mir vor, als sei ich Aermlicher nun wirklich wie ein Gefangener an die Scholle gebannt. Als könne ich das weite Feld von dereinst gar nicht mehr überblicken. Jedes Wort rief mit grausamer Deutlichkeit alte Erinnerungen wach. Zu locken schienen sie, zu schmeicheln, zu liebkosen, die alten Ausdrücke und Wortwendungen des Amerikaners, die in drei kurzen Strichen eine Sache, einen Menschen haarscharf umrissen. Wie das Ueberspringen eines elektrischen Funkens war es, wie die Nähe einer lieben Frau. Auf einmal jedoch schien sich etwas Fremdes einzuschieben. Ich empfand, daß mich von diesem Mann, von seinen Vorstellungen, von seinem Sein eine breite Kluft trennte. Eine andere Kultur. Verändertes Schauen. Neues Erleben.

Und als der Mann, der mir große Freude und tiefes Enttäuschtsein zugleich ins Haus gebracht hatte, gegangen war, legte ich mir eine Frage vor, die mich eigentlich niemals in so klarer Form beschäftigt hatte:

Was ist mir Amerika?

Ein weiches, zärtliches Gefühl kam über mich, als gedenke ich eines lieben Menschen, von dem ich getrennt sein mußte. Die Traumbilder kamen. In ungeheurer Wucht stiegen gigantische Städte auf. Lebendige Steinmassen ragten gen Himmel. Von allen Seiten und nach allen Seiten wälzte sich ein schwarzer, bienenemsiger Menschenstrom. Dumpfes Getöse erdröhnte. In den dichtgedrängten Massen brauste es wie Kampfgetümmel, und still lagen die Leiber der Gestürzten da wie ruhiges Inselwasser im rauschenden Strom. Schwarze Punkte stießen andere schwarze Punkte nieder, kletterten über sie hinweg, schwangen sich auf fremden Rücken empor...

Dort, wohin alle drängten, rieselte aus bleigrauem Himmel gelb und gleißend ein Goldstrom. Getrieben, gepeitscht, gelenkt von furchtbaren, sausenden Maschinen. Gespenstisch große und starre Riesengestalten von Menschen standen kalt und drohend an den Hebeln. Aus dem Wirrwarr hinaus schossen, wie Granaten aus Geschützen, dampfende Eisenbahnzüge nach allen Richtungen, sich aus der schwarzen Masse wühlend, ungeheuren Fernen zu. Länderstrecken leuchteten da voll goldgelben Weizens, und Millionen von Rindern grasten auf unendlicher Prärie, und während dort Schneeberge drohten, brannte hier glühende Tropensonne über undurchdringlichen Urwäldern. Wie feines, dichtmaschiges Fischernetz spannen sich überallhin die Telegraphendrähte, und schrill wie Trompetenklang erdröhnte hoch über allem das stete Gebrause der Arbeit: jener Arbeit, die ein Gott dem Menschen gegeben hat, damit er sich stark fühle wie die Götter ...

Welch ein Land!

Es wird ständig genährt von einem Menschenstrom aus allen Teilen der Erde, der niemals versiegt. Es ist so riesenhaft groß und es birgt so fabelhafte Schätze, daß man sich nur beklemmten Herzens wie ein unwissendes Kind in törichter Undeutlichkeit vorstellen kann, ob in hundert Jahren ein Paradies aus ihm geworden sein wird oder eine Hölle. Es ist so mächtig, daß die Welt erzittern müßte in Furcht vor ihm.

Ah, welch ein Land!!

Traumhaft schön ist es und furchtbar häßlich zugleich. Freier ist es als irgend ein Teil der Welt, wo Menschen sich regieren, und doch geknechteter wiederum als ärgstes Sklaventum. Es hat eine Regierungsform geschaffen, die fast die ideale Grenze erreicht, und – hat diese Regierungsform so lästerlich mißbraucht, daß ihre Schönheit zu einem jämmerlichen Zerrbild zerstört worden ist. Es züchtet menschliches Herdenvieh, das geschlagen, mißhandelt und zu Tode gearbeitet wird in unsäglicher Roheit – und es bringt starke, freie Männer hervor, die der Welt einen Stempel aufdrücken, nicht nur ihrer heißen Arbeit, sondern ihrer großen Menschlichkeit. Es ist ein Land, in dem eine Welle großer und edler Begeisterung alles, was da Mensch ist, so urplötzlich und gewaltig erfassen kann wie kaum irgendwo auf der Erde – und es ist ein Land, in dem blinde Leidenschaft und wahnsinniges, gemeinsames Tun verheerend wüten können, wie eine epidemische Krankheit. Es ist ein Land voll der unlöslichsten Widersprüche. Es ermangelt aller Einheitlichkeit.

Und gerade darum vielleicht stellt es ein vollendet wahres Abbild des menschlichen Lebens unserer Zeit dar.

Wer in diesem Gewühl von Arbeit, in diesem Wirrwarr der Widersprüche von lebenden und toten Dingen sechs Wanderjahre aufnahmefähiger Jugend verbringen durfte, dem ist wenig Menschliches mehr fremd ...

Und wieder kommt das Träumen. Sonnenfrohe Augen sind es, aus denen ich auf die Lehrjahre im Riesenreich des Dollars zurückblicke. Kein häßliches Erinnern trübt das Bild. Keine Lebenswunde wurde mir geschlagen in diesen Jahren; nicht eine einzige Schramme wurde dem jungen Menschen von damals zur Narbe. Darin liegt unzweifelhaft etwas sehr Sonderbares. Wenn ich mir heute vorstelle, welche Ungeheuerlichkeit es war, von einem jungen Menschen, der bis zum Alter von achtzehn Jahren nichts getan hatte als Schulbänke zu drücken und sein Taschengeld in möglichst unsinniger Weise auszugeben, auf einmal praktischen Lebenskampf unter allerschwersten Bedingungen zu verlangen, so will es mir scheinen, als müsse das Gelingen des Experiments einen tieferen Grund haben als die bloße Widerstandskraft starker Jugend. Und aus den Erinnerungsträumen von jagenden Eisenbahnzügen, von Riesenstädten und ungeheuren Menschenmassen, von buntem Hin und Her und anscheinend so planloser Arbeit ersteht ein klarer Begriff; erklärt sich das wirkliche Wesen von tausend kleinen Dingen:

Die Bürger des Reiches Amerika besitzen eine Errungenschaft, die wir uns erst lange Zeit nach ihnen erkämpft haben und noch Schritt für Schritt weiter erkämpfen. Sie haben als Ideal in das tägliche Leben hineingetragen, was einst der Mann von Korsika meinte, als er erklärte, jeder seiner Soldaten trüge den Marschallstab im Tornister! In all seinem rohen, brutalen Kampf um den Dollar, bei all seinem mörderischen Riesenverbrauch von Menschen, achtet der Amerikaner die Persönlichkeit des Einzelnen auf das höchste. Es ist eine seiner schönsten und größten Lehren, wenn er anscheinend so unfreundlich und gleichgültig sagt und immer wieder sagt: hilf dir selber!

Wie ein tönendes Leitmotiv klingen die winzigen drei Worte fortwährend über das Riesenland hin. Sie geben Stärke. Sie verleihen Kraft. Sie bedeuten Freiheit. Sie schenken dem Mann in noch jungen Jahren den Selbstrespekt und das Selbstbewußtsein, die in den Ländern der alten Welt in dieser bestimmten Form erst mit dem Beginnen des wirklichen Lebenserfolgs zu kommen pflegen. Wenn ich den Lausbub von damals sehe und mich lächelnd und schier verwundert erinnere, wie fröhlich und unbekümmert er nach den ersten kurzen Zeiten des Verblüfftseins in die amerikanische Welt hinausgetrampelt ist, so weiß ich, daß das bitterharte Land über dem Atlantischen Ozean seinen jungen Menschen den ganz großen Begriff der Männlichkeit zu schenken vermag. Etwas Urprimitives sicherlich. Einen Kraftbegriff, wie er etwa dem Urwaldpionier nötig war. Aber ein wundervolles Geschenk für den Lebensgang. Eine starke Stütze des Rückgrats, wenn Menschen und Dinge auf die Schultern drücken.

Und jetzt glaube ich, die Frage beantworten zu können.

Die sonderbare amerikanische Luft, in der es von Arbeit rauscht und von der Wichtigkeit des Einzelmenschen tönt, hat Bruder Leichtfuß mit der alten Lebensweisheit durchtränkt, daß keine Werte geschenkt werden ohne Gegenwerte, und daß der allein frei ist und der allein tüchtig, der sich selber hilft!

Das war mir Amerika!

Und wieder huschen die Träume und wechseln die Bilder. Ueber dem einen Großen, das sich so aus vielen Schalen herausschälte als errungenes Wertkörnchen, gaukeln in sonniger Farbenpracht die frohen Tage, die ich erleben durfte. Es ist ja nicht wahr, daß das Leben grau und trübe ist. Denn in jenen Tagen, die den meisten Leuten mit schwerer Arbeit und hartem Ringen angefüllt scheinen würden, war immerdar – und das in dem härtesten Land der Erde – Güte von Menschen und Frohsinn im Kampf. Und eine Romantik des täglichen Lebens, deren Erlebendürfen ein Göttergeschenk war.

Ach, was waren das für schöne Zeiten!

Aber der Besuch meines amerikanischen Freundes schenkte mir noch ein anderes Erkennen. Auf einmal spann sich in die alten Träume hinein ein jubelnder Glücksbegriff:

Welch wundervolle Zeiten sind das heute!

Rings um den Mann liegt neue Schönheit und immer neues Erleben, größer noch, als es dem Jüngling geschenkt wurde. Die Welt und die Menschen und die Dinge sind überall Märchenwunder. Wir werden freier von Tag zu Tag. Um uns braust das tätige Leben. Heut brauchen unsere jungen Menschen nicht mehr nach Amerika zu gehen, um zu lernen:

Sei stark!
Sei frei!
Hilf dir selbst!

Ende des dritten Teils.


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