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Im Zeitungsgetriebe

Ich diktiere den ersten Artikel. – Bei Flossy. – Das Gummimädel. – Das erste Honorar. – Im Zeitungsklub. – Die Tamaniten. – Wie man von Ideen lebt. – Zeitungsatmosphäre. – Die Tat der Miß Flynn. – Eine große Sensation und ihre Folgen. – Landsknechte der Feder. – Der Marschallsstab im Füllfederhalter. – Das kleine Herrgöttlein!

Auf der Visitenkarte, die der managing editor mir gegeben hatte, stand:

»Lieber Jack! Ich führe hiermit Mr. Carlé ein« – hm, wenigstens etwas. Es war doch ein Haufen Zufallsglück dabei, daß Mc. Grady in Neuyork gewesen war. Aber man hat eben Glück. Das war einfach selbstverständlich. Ja, da würde ich hingehen, morgen, oder übermorgen, oder irgendwann – ja, und die boys kennen lernen und das würde sehr nett sein – – nun, und vielleicht auch nützlich...

Jetzt aber hieß es arbeiten!

Jetzt gerade erst recht.

Jetzt sofort!

Und liebevoll betastete ich die Westentasche, in der die grünen Dollarscheine steckten, denn die waren besser als alle Empfehlungen und konnten mehr helfen als Glück und Menschen. Wir wollen sie doch schleunig auf Nummer sicher bringen, mein Sohn! So wanderten fünf Minuten darauf vierhundertundfünfzig Dollars über den Einzahlungsschalter der First National Bank of New York, und ich war zum erstenmal im Leben Besitzer eines Scheckbuchs. Das kam mir noch viel imposanter vor als das bare Geld, und ich wurde sehr vergnügt.

*

Eine halbe Stunde später.

»Guten Tag,« sagte kurz angebunden und befremdet Flossy. »Was kann ich für Sie tun?«

Das war nämlich nicht die übermütige lustige Flossy, wie ich sie gestern abend kennen gelernt hatte, sondern Miß Florence Rafferty, Inhaberin der Hurry-Up-Schreibstube im Sun Building (die Adresse hatte ich mir telephonisch vom Montgomery erfragt), Herrin einer Anzahl von Angestellten, businesswoman.

»Ich möchte diktieren. Was kostet das?«

»In die Maschine oder Stenogramm?«

»In die Maschine.«

»Das berechnen wir nach Zeit. Einen Dollar die Stunde.«

»Schön. Ich pflege jedoch beim Diktieren zu rauchen.«

»Das sind wir gewöhnt. Miß Whitmann – Diktat!«

Das schlanke kleine Ding ging mit straffen energischen Schritten voran und führte mich in eine winzige Schachtel von kleinem Zimmerchen mit schallsicheren, dickgepolsterten Türen und Wänden, und setzte sich wortlos an die Maschine. Ich stürmte auf und ab in dem kleinen Raum, meine Gedanken ordnend. Es gab nur ein Thema, über das ich im Augenblick schreiben konnte: Fort Myer und das Signalkorps. Langsam begann ich zu diktieren. Mit unglaublicher Geschwindigkeit flogen Miß Whitmanns Finger über die Tasten. Sie arbeitete glänzend –

Aber was hatte das Mädel nur?

Ich betrachtete das schmale Gesicht, die fidelen Augen, das kleine Stumpfnäschen verstohlen von der Seite. Da – jetzt wieder!

Schnitt mir das Balg etwa gar Grimassen? Sie verzerrte das Gesicht, sie schien zu lachen nun, zu schmunzeln dann, zu feixen jetzt, und ich wartete entsetzt darauf, daß sie mir auch noch die Zunge herausstrecken sollte ... Sie machte die komischsten Gesichter – sie grinste – sie verdrehte die Augen – sie arbeitete auf ihren Kiefermuskeln herum, daß dicke Muskelstränge an den Mundwinkeln sich zeigten! Donnerwetter! Hatte ich etwas Lächerliches an mir?

Da kam mir plötzlich die Erleuchtung.

Selbstverständlich: Das Mädel kaute einfach Gummi. Kaugummi! Zähes Zeug, das nach Schokolade oder Pfefferminz schmeckte und durch seine Zähigkeit Unterkiefer gegen Oberkiefer wie ein schnellendes Gummiband in steter Bewegung hielt. Das Mädel war eben ein nervöses Produkt einer hetzarbeitenden Zeit und mußte etwas Zappeliges zu tun haben. Sie kaute Gummi, wie alle Neuyorkerinnen kauen und alle Neuyorker ständig rauchen!

Nun störte mich das Grinsen nicht mehr ...

Mit der Arbeit ging es sehr rasch. Ich fühlte instinktiv, daß sie ein Erfolg sein würde. Der Stoff erfüllte alle Bedingungen der amerikanischen Zeitung. Er brachte durchaus Neues, mit genauer Sachkenntnis gesehen, war bildhaft, hatte Raum für Schilderung, und konnte obendrein auf besondere Daseinsberechtigung im Zeitungssinne Anspruch machen, weil er Gelegenheit gab, eine Forderung zu stellen: Mehr Mittel für das Signalkorps – noch rascheren Ausbau des technischen Zentrums Fort Myer! So konnte man sich mit ein bißchen patriotischem Glorienschein umgeben. Jawohl, es war eine gute Sache. Ich erzählte vom Linienlegen in Kuba. Kurz, drastisch; von der Arbeit weniger Hände mit primitivsten Werkzeugen; dem Anschwellen des Korps und der Hetzarbeit in Fort Myer. Ich fabrizierte gerissene Überschriften, machte Unterabteilungen, korrigierte, ergänzte. Und sandte die » copy«, die ungefähr eine Seite des Journal umfassen mußte, mit kurzem geschäftsmäßigem Begleitschreiben an Holloway. Mir war ein wenig bänglich zumute, als ich das doppelte des ungefähr wahrscheinlichen Honorars forderte. Aber nur die Lumpe sind bescheiden ...

Abends ging ich seelenvergnügt mit Flossy und Nicky ins Theater.

Am nächsten Morgen erhielt ich ein kurzes formelles Annahmeschreiben vom Journal mit einem Scheck über die geforderte Summe, hundert Dollars; und da war ich wieder auf der Lebenslinie angelangt und schwelgte in tausend Träumen und sah alle Himmel voller Geigen.

*

Dick Burton, Lokalredakteur der » World«, kam von seiner Arbeit in den Klub wie allnächtlich, warf die Zeitungen auf dem Stuhl neben mir auf den Boden, und setzte sich zu mir hin. Tiefe Schatten lagen unter seinen Augen und dort, wo der buschige Schnurrbart aufhörte, zuckte es nervös um seine Mundwinkel. Es war gegen zwei Uhr morgens.

»Pass' auf – das sind meine Zeitungen,« knurrte ich.

»In die Verdammnis mit den Zeitungen!« sagte er. »Wollen lieber 'n Glas Bier trinken. Ich muß noch mit jemand reden, sonst kann ich nicht schlafen, und die anderen spielen alle Poker da drin, also hands up, mein Junge! Idiotisch übrigens, die Spielerei. Es ist mir unbegreiflich, daß jemand mir mein bißchen Geld nehmen dürfen soll, ohne daß ich ihm wenigstens eine 'runterhauen kann! Uebrigens, deine Heilsarmeegeschichte hab' ich genommen, muß aber dreihundert Zeilen streichen. Viel taugt sie nicht.«

»Danke.«

»Bitte. Prosit! Ja – Tammany hat's also wieder!« Er sah starr vor sich hin.

»Eine interessante Neuigkeit!« sagte ich bissig (seit zehn Uhr abends war im Klub von nichts anderem gesprochen worden)!

Burton lachte kurz auf.

»Jawohl, eine interessante Neuigkeit. Sämtliche Kandidaten der Tammanypartei sind wiedergewählt worden: der Bürgermeister, der Schatzmeister, die Stadträte, alle miteinander, die saubere Gesellschaft. »Uir sitze' so frohlik beisamme'.« heißt's nicht so? Es ist zum Totschießen. Durch die freie Wahl des souveränen Volks dieser verrückten Stadt, haben mir den ganzen Schwindel amtlicher Gaunerei glücklich wieder auf dem Hals. Diebstahl, Erpressung, verpestete Polizei, und so weiter! Das ist doch interessant! Nachdem fast alle Neuyorker Zeitungen, ein halbes Jahr lang dem Schafskopf, der sich Neuyorker Bürger nennt, haarklein vorerzählt haben, daß die politische Stadtpartei, die den schönen Namen Tammany führt, aus Spitzbuben reinsten Wassers besteht – nachdem wir absolute Beweise geliefert haben – nachdem die Spatzen auf der Straße es schon pfeifen, wie es aussieht in der Verwaltung Neuyorks! Einstimmig beinahe wird die Bande wiedergewählt! Erdrückende Majorität! Weshalb bin ich wütend? Weil das beweist, daß wir, wir Zeitungsmenschen, keinerlei Einfluß, auch nicht eine Spur von Einwirkung, auf die Millionen von Menschen in Neuyork haben, die täglich lesen, was wir schreiben. Dreck sind wir, mein Sohn. Gar nichts sind wir! Machen uns täglich kaput im kleinen Tagewerk, und wenn wir wirklich einmal Großes und Wertvolles zu schaffen glauben, dann ist's umsonst geschrieben, wie dieses schöne Tammanybeispiel beweist. Hoh, wer möchte nicht amerikanischer Journalist sein! Geh' und verkaufe Hosenträger, mein Junge, solange es noch Zeit ist. Ich bin schon zu alt dazu. Brr – wollen von was anderem reden. Fritz, noch zwei Bier. Also deine Salvation-Army-Idee ist allright. Wie bist du daraufgekommen?«

»Durch die Zeitung, wie immer. Eigentlich durch dich, nebenbei bemerkt.«

»Wieso?«

»So auf Umwegen. Du erwähntest neulich in einem bissigen Ausfall gegen die Polizei die Heilsarmee. Sagtest, sie leistete mehr im Kampf gegen Verbrechen und Elend als sämtliche Schutzleute Neuyorks zusammen genommen. Ich ging also ins Hauptquartier der Hallelujaleute. interviewte den General, und bekam viel Großzügiges und Gescheites zu hören. Aber es taugte gar nichts für mich, weil das alles schon dutzende Male gesagt und geschrieben worden war.«

»Hätt' ich dir vorher sagen können.«

»Weiß ich. Als ich wieder auf die Straße kam und mich wunderte, ob aus dem mageren Interview etwas zu machen wäre, war es Abend. Vor dem Hauptquartier ordneten grobe Polizisten Hunderte von armen Teufeln in die berühmte bread line ein, die Brotlinie, den Gänsemarsch der Armut. Stundenlang mußten die Reihen stehen und warten und langsam vorrücken, bis jeder ein Stück Brot und seine Schlafkarte an der Türe der Heilsarmee bekam. Da dachte ich mir, es müßte interessant sein und höchst wichtig obendrein, herauszubekommen, wie diese Leute zur Brotlinie gesunken waren. Wie es ihnen in Neuyork erging und was sie über Neuyork dachten! Ich nahm mir die letzten zwanzig Mann der Linie beiseite, führte sie ins nächste Quick Lunch Restaurant, fütterte sie und ließ sie erzählen. Resultat: »Zwanzig Schicksale«!«

»Gut!« sagte Dick Burton. »Wie jung man sein muß, um so einfach zu arbeiten!«

»Das kostet dich noch ein Bier –«

» Done. War aber nicht bissig gemeint – im Gegenteil. Bin heute nur Zyniker. Trinken wir Höll' und Verdammnis den Tammaniten! So. Dies ist ein höchst wunderbares Land. Ich, der ich kaum einen Steinwurf weit weg von diesem Hause geboren bin, in dem wir hier sitzen, kenne es nicht, noch kenne ich die Stadt, in der ich mein Leben lang gearbeitet habe. Du auch nicht. Wir alle nicht. Später einmal, mein Sohn, wirst du daheim im Vaterland über uns Amerikaner erzählen und schreiben, denn du bist allzusehr Teutone, um nicht früher oder später heimwärts zu gravitieren. Und es wird großer Mist sein, lieber Freund! Wie alles, was über Amerika und die Amerikaner geschrieben wird. Man sagt uns Männern von der Zeitung nach, daß wir den Finger am Pulsschlag des öffentlichen Lebens haben –«

Er hob andächtig den Krug.

»– und das ist wieder eine von unseren verdammten verlogenen Phrasen. Nirgends haben wir einen Finger! Nichts wissen wir! Dreck sind wir! Hallo – Holloway!« »Hallo, Kinder. Was treibt ihr?«

»Ich versuche,« lachte Dick Burton, »diesen jungen Dachs Demut zu lehren.«

»Das ist entschieden eine nette Ausrüstung für einen Zeitungsmenschen!« grinste Holloway.

»Sei bescheiden, Franky! Hast nicht auch du täglich fünfmalhunderttausend Menschen – das ist doch so ungefähr eure Auflage – gepredigt und bewiesen, daß Tammany der Schandfleck Neuyorks ist, daß diese Politiker, die das Schicksal einer Millionenstadt in ihren Händen halten, verrottet sind bis ins Innerste? Daß sie stehlen und betrügen und die anständigen Menschen an der Nase herumführen? Nun, was hast du ausgerichtet, du einflußreicher Zeitungsmann?«

Frank Holloway lehnte sich weit in den Sessel zurück und sah ernst vor sich hin.

»Ich glaube an dieses Land und seine Kräfte!« sagte er endlich. »Was wir hier in Neuyork erleben, ist nur ein Abklatsch, ein Ausschnitt im Kleinen, verrotteter politischer Zustände, die aber immer nur Ausnahmen sind und bleiben müssen. Der und jener unserer politischen Führer ist verderbt. Eine Zeitlang vermag er sich durch Tricks und Mätzchen und Bestechung armen Stimmviehs zu halten. Dann aber wird er hinweggefegt, wie sie alle hinweggefegt worden sind von Zeit zu Zeit. Denn dieses Land ist im tiefsten Grunde knochenehrlich. Es begeht Fehler, aber es wird die Fehler automatisch in seiner Entwicklung gutmachen. Wenn ich im Geiste die ungezählten Heerscharen sehe, die aus allen Ländern in unsere neue Welt geströmt sind, so will es mir scheinen, als sei von ihnen nur übrig geblieben, was tüchtig, wertvoll, lebenskräftig war. Die anderen sind zermalmt worden in unserem brutalen Daseinskampf. Noch kämpfen ihre Kinder und ihre Kindeskinder. Sind wir doch die jüngste aller Nationen. Aber der Grund ist gelegt. Es ist nichts als ein Wachsen und Werden, wenn wir, das einzige freie und völlig selbstbestimmende Volk der Welt, uns mit vom Daseinskampf getrübten Sinnen von einigen Milliardären knechten lassen, weil wir in diesem harten Leben das Geld nun einmal anbeten müssen wie es scheint; wenn wir Schurken dulden, weil die Besten unter uns keine Zeit haben, für Ehrlichkeit zu kämpfen, wenn wir, die vielen Freien, uns von einigen ausbeuten lassen. Und einst wird die Zeit kommen, wo dieses ungeheure Land sich an seine Freiheit gewöhnt haben und alles abschütteln wird, was alt und verfault ist: Die irischen Politiker, die englische Pfäfferei, die puritanische Lüge, den schlauen Geschäftsschurken der alten Oststaaten...«

»Gut!« sagte Dick Burton. »Ich achte persönlichen Enthusiasmus. Ich persönlich jedoch glaube, daß mit zunehmendem Reichtum die Sache immer fauler werden wird bei uns. Die Zukunft gehört dem smarten begabten Juden. Schon jetzt leitet er unsere Banken, schreibt unsere Bücher, dichtet unsere nationalen Lieder – –«

»Ich hab' eine Idee!« unterbrach ich ihn. (Wenn Dicky auf den amerikanischen Juden und auf den Neuyorker Juden im besonderen zu sprechen kam, wurde er langatmig und langweilig. Außerdem ungerecht!)

»Hoih! Er hat eine Idee!« schrie Holloway, sah mich jedoch dankbar an.

»Aber nicht für dich! Dir gegenüber ist sie vertraulich, denn die kann nur Dick machen, weil er eine Dame im Stab hat.«

» Alright

»Dick, wenn du meine Idee akzeptierst, muß sie honoriert werden.«

»Selbstverständlich. Wie gerissen dieser Jüngling schon ist!«

»Entschuldige, ich muß von dem bißchen Ideenhaben leben. Es ist nämlich in diesem Falle sehr fraglich, ob ich überhaupt mitarbeiten könnte. Also, es ist mir heute und gestern aufgefallen, daß nach verschiedenen kurzen Berichten über an und für sich unbedeutende Gerichtsverhandlungen die verhafteten Mädchen zu geringeren Strafen verurteilt wurden, als das üblich ist. In den Berichten hieß es ferner, daß die Mädchen sich über die ihnen gewordene Behandlung beschweren wollten, aber nicht zu Wort kamen. Ich habe nun das Gefühl, als ob da etwas nicht in Ordnung sei. Ob ich recht habe oder nicht, ist aber für meine Idee ziemlich gleichgültig. Was ich dir vorschlage. Dick, ist, daß die Flynn, eure Reporterin, sich auf der Straße als »unordentliche Person« verhaften läßt – «

»Oho!« rief Dick.

»– alles mitmacht, sich auf die Wache bringen läßt, in die tombs« (das Neuyorker Zentralgefängnis), »vor den Richter. Sobald sie verurteilt ist, greifen wir ein. Wir werden dann von der Flynn erfahren, wie die Verhältnisse in der Weiberabteilung sind und haben unter Umständen – wenn nämlich die Dinge so liegen, wie ich das vermute – einen authentischen Fall, gegen den alles Ableugnen nichts ausrichten kann. Selbstverständlich ist das nicht eine gewöhnliche Sensation sondern ernste Arbeit, die von großer Tragweite sein kann.«

»Gut!« sagte Dick Burton.

Holloway nickte und pfiff leise vor sich hin.

»Dick,« sagte er plötzlich, »wir wollen die Sache miteinander machen. Gleichzeitige Veröffentlichung, gleichzeitige Polemik, gemeinsames Vorgehen. Das scheint mir in diesem Falle notwendig, wenn es auch von unseren Gepflogenheiten abweicht, damit die Herren von der Tammanypolizei nicht sagen können, das sei wieder einmal nur ein boshafter Angriff einer einzelnen gelben Zeitung.«

»Abgemacht,« sagte Dick Burton. »Nun lass' den Jungen da reden. Die Flynn wird die Aufgabe übernehmen, glaube ich.«

»Es kommt vor allem darauf an,« meinte ich, »daß sie sich nicht das geringste zuschulden kommen läßt und völlig unschuldig verhaftet wird. Bei den Verhältnissen im Tenderloindistrikt, die wir alle kennen und die doch nie so recht bewiesen werden konnten, wird das sehr leicht möglich sein. Die Flynn muß sich ganz einfach und unauffällig anziehen und abends in den Nebenstraßen bei der Bowery spazieren gehen. Weder zu schnell noch zu langsam. Sie darf nicht auf- und abgehen und nie dieselbe Straße zweimal passieren. Selbstverständlich wird sie sehr bald dem einen oder dem anderen der Detektivsergeanten des Tenderloin auffallen. Selbstverständlich wird er sich die übliche Bestechung von ihr holen wollen. Natürlich ist er auch zu dumm, um etwas zu merken, und wird die Flynn prompt verhaften, sobald sie nicht zahlt.«

»Sehr gut!« sagte Dick Burton. »Mann, wo hast du nur deine großartigen Ideen her! Natürlich sind wir drei stets in der Nähe, um beschwören zu können, daß die Flynn sich einwandfrei verhalten hat. Kommt sie dann vor den Richter, so sind wir mit unseren eidesstattlichen Versicherungen da. Ja. Also abgemacht, Holloway?«

»Ja. Unter der Bedingung, daß Miß Flynn auf das genaueste über alle Fährlichkeiten informiert wird, denen sie unter Umständen entgegengeht. Es gibt da brutale Leibesuntersuchungen und derartiges.«

»Das ist selbstverständlich. Miß Flynn gehört übrigens einer sehr guten Neuyorker Familie an. Es wird ihrem Ruf nichts schaden, wenn sie im Interesse der Aermsten der Armen eine tapfere Tat wagt. Ich denke, wir gehen jetzt schlafen. Wo treffen wir uns morgen?«

»Hier. Um zwei Uhr,« sagte Holloway.

*

Wenn ich mir jenen Abend, von dem mich fünfzehn Jahre nun trennen, eine sehr lange Zeit in einem Leben der Unrast, aus der Erinnerung wieder erträume, so ist mir, als wären die Menschen von damals wieder lebendig geworden, als sei ich mitten im Wirrwarr der Dinge. Ich höre die Männer reden, ich sehe ihre Gesichtszüge, ich verspüre wieder die prickelnde Aufregung der »Großen Sache«. Ich sehe die kleine Miß Flynn im einfachen Kleidchen und rundem Schleierhut mit grellroten Flecken der Aufregung im merkwürdig energischen Gesicht – die lärmende grellerleuchtete Straße, – den vierschrötigen Polizeimenschen, der brutal auf sie einspricht – den heransausenden Gefängniswagen, den Menschenauflauf, das Drängen und Schieben von blauröckigen Polizisten. Die durchwachte Nacht steht mir vor Augen, der Polizeigerichtshof in früher Morgenstunde, das scharfe, kurze Verhör, die entrüstete Beschwerde der in ihrer ganzen Weiblichkeit aufs tiefste verletzten Reporterin, das ungläubige Kopfschütteln des Tammanyrichters. Ich höre das harte geschäftsmäßige Urteil wegen gewerbsmäßiger Unzucht. Und ich sehe die aschenfahlen Gesichter der beiden Polizeibeamten, als Holloway plötzlich aufsprang und in öffentlicher Gerichtssitzung die Polizeibehörden der erpresserischen Freiheitsberaubung beschuldigte. Die Arbeit dann, das Hetzen, das Höllenbild, das Zeile um Zeile in einem stillen Zimmer des Worldgebäudes entstand, die zornbebende Frau, die uns erzählen mußte, weil sie unfähig zum Niederschreiben war ...

Es galt, auf das Vorsichtigste zu mildern, weil die Urenkel der Puritaner kräftige Worte nicht vertragen können, aber was geschrieben wurde, war immer noch deutlich und wahr genug. Im Lande der Frauenverehrung war ein Mädchen auf den fadenscheinigsten Verdacht hin als Dirne verhaftet und im Weiberzimmer des Gefängnisses schlimmer behandelt worden als Tiere behandelt werden.

Der Bericht entsetzte ganz Neuyork. Die grand jury, die eigentümliche amerikanische Einrichtung eines Geschworenengerichtshofes in staatsanwaltschaftlicher Funktion, der Mißstände zu prüfen und Anklagen zu erheben hat, nahm sich der Angelegenheit an, und später wurden einige Polizeibeamte zu empfindlichen Strafen verurteilt. Die öffentliche Meinung aber setzte wenigstens einige wichtige Veränderungen im Neuyorker Polizeiwesen durch.

Im Zeitungsklub beglückwünschte man mich, den jungen Anfänger, von links und von rechts, denn diese Männer, die kalt und zynisch im Sensationsgeschäft schachern konnten, sahen doch den Höhepunkt und das Große ihres Berufes in sozialer Hilfeleistung.

*

Und wieder sehe ich die Menschen, und höre den Zeitungslärm, in dem ich arbeitete. Gräßlicher Lärm war es; Hasten, Ueberstürzen, Holtergepolter tagaus tagein. Aber diese Arbeit hat Freuden beschert, wie sie der Erfolgreichste und Tüchtigste nicht größer und schöner erleben kann. So stolz kam man sich vor jeden Tag, weil an jedem Tag von neuem gerungen und gekämpft werden mußte! Denn der Landsknecht der Feder hatte es wahrlich nicht leicht!

Free lances, Freilanzen, Landsknechte, Glückssoldaten der Zeitung werden im Zeitungsland des Dollars die merkwürdigen Männer genannt, von denen ich damals einer von den ganz kleinen war. Ihre Zahl ist eine sehr große. Die Tüchtigen behaupten sich in ihrer unabhängigen Stellung, die anderen wenden sich, wenn sie lange genug gehungert und Träume geträumt haben, irgendeinem Dollarberuf zu, der etwas weniger aufreibend und etwas mehr nahrhaft ist. Einige wenige finden Unterschlupf als festangestellte Journalisten. Die ganz wenigen endlich, die übrig bleiben, werden große Männer und schaffen die moderne Romantik der amerikanischen Literatur.

Es ist ein ganz verrückter Beruf, das Schaffen dieser Landsknechte, und beileibe nicht zu vergleichen mit dem deutschen freien Schriftsteller etwa, der seine Feuilletons, seine Essays, sein »Aktuelles« auf dem freien Zeitungsmarkt verkauft. Das gibt es nicht bei der amerikanischen Zeitung. Sie kauft wohl Romane von ersten Autoren und bringt gelegentlich auch eine gute Novelle, aber sie hat kein literarisches Feuilleton im europäischen Sinne und will keines haben. Sie pfeift auf den Geist. Den europäischen Literaten kann sie absolut nicht gebrauchen. Zwar liebt sie Humoristen, aber Humoristen sind in Amerika wie anderwärts so selten wie die Uneigennützigkeit. Vor allem will die amerikanische Zeitung:

Erstens Tatsachen!
Zweitens interessante Tatsachen!
Drittens famos geschilderte Tatsachen!

Wer ihr diese bringt, sei er nun Fachmann oder in seinem Urberuf Präsident der Vereinigten Staaten oder professioneller Lumpensammler, ist ihr herzlich willkommen und wird glänzend bezahlt – vorausgesetzt, daß er den Wert seiner Ware zu würdigen weiß und ohne falsche Scham zu fordern versteht. Denn business is business. Mehr als sie muß, zahlt auch die amerikanische Zeitung bestimmt nicht.

Nach der Lehre der Anpassung ist also der freie amerikanische Schriftsteller, wenn er nicht gerade Romancier ist, zu allererst und überhaupt Neuigkeitsjäger im Lande der Wirklichkeit. Landsknecht im Zeitungsdienst. Großer Landsknecht, kleiner Landsknecht, mittlerer Landsknecht, oder minderwertiger Landsknecht, je nach Können, und Laune Dame Fortunas. Es gibt free lances, die tagaus, nachtein, in schäbigen Bars herumvegetieren, um einen kleinen politischen boss zu erwischen und ihn zu interviewen – es gibt solche, die auf eigene Kosten und auf eigenes Risiko Flibustierexpeditionen ausrüsten, Südseeinseln erforschen, in nördlichste Eisregionen wandern – es gibt free lances, die mühselig aus mühselig ergattertem Kleinen einige Zeilen » copy« fabrizieren – und es gibt geniale Künstler, die aus ihrer Zeitungsarbeit Kunstwerke flammender Schilderung schaffen.

Einer von ihnen war zum Beispiel Stanley. Ein anderer Richard Harding Davis. Ein dritter der weltberühmte Ambrose Bierce, der Kriegsschilderer, der Wereschtschagin der Feder ... Woraus ersichtlich sein mag. daß das Landsknechttum der amerikanischen Zeitung keinen Anfang hat, kein Ende, keine Grenzen. Es gibt gute free lances und schlechte free lances, so wie es Sonntagsjäger gibt und Waidmänner ...

Der amerikanische Neuigkeitsjäger trägt eben in seinem Füllfederhalter verborgen den Marschallsstab der schildernden Kunst. Ob er ihn jemals schwingt, hängt von seinem Hirn ab, von seinen Augen, vom Glück, von Nerven, Zähigkeit, Genius, von den Männern und den Frauen vor allem um ihn – wie alle großen Dinge in dieser Welt.

Selbstverständlich jedoch hatte von dem wirklichen und den endlichen Zielen dieses Landsknechttums, in dem er arbeitete, der Lausbub von damals auch nicht die Spur einer Ahnung!

Ich fraß halt auch in Neuyork das tägliche Leben und die tägliche Arbeit seelenvergnügt genießend, aber höchst gedankenlos in mich hinein. So, wie ich alles in mich hineingefressen hatte in den fünf amerikanischen Wanderjahren. Mit gefräßigem Appetit. In vollkommener Wurstigkeit, was Bekömmlichsein und Verdauung anbetraf. Die Welt war wunderwunderschön. Die Zeitung ein arkadisches Traumland; die Zeitungsmänner allmächtige Götter, so schien es mir. Ich selber ein kleiner Herrgott zum mindesten.


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