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Wie das Wandern wieder begann

Meine periodische Frühlingsdummheit. – Das große Neuyork ist zu klein für mich. – Die Sehnsucht nach dem großen Ereignis. – Hinaus! Erleben! – Die neue Wanderschaft beginnt. – Journalist im Herumziehen. – Der pennsylvanische Bergarbeiterstreik. – Der Sergeant wird ausgepumpt. – Ich schlage der Miliz ein Schnippchen. – Die Bergleute schlagen mir ein Schnippchen. – Das Ende des Streiks. – Seine Ursachen. – Ein raffiniertes Ausbeutesystem. – Die Blechmarkenwirtschaft. – Journalistenfahrten kreuz und quer. – Das Ereignis fehlt immer noch ...

Die ganz großen Dummheiten im Leben habe ich immer in den Zeiten des Jahres gemacht, da der Frühling nahte. Wenn andere Menschen zu sanfter Lyrik sich neigten und in beifälligen Sehnsüchten des Bibelworts gedachten, das Alleinsein des Menschen sei nicht gut, dann wurde irgend etwas in mir gewaltig rebellisch, und die Gehirnkämmerchen, in denen die Tollheit, der Wandertrieb, die Veränderungssucht eine Zeitlang wenigstens wohl verwahrt gewesen waren, müssen dann plötzlich ihre Türchen geöffnet und meinen Schädel mit ihrem gefährlichen Inhalt überschwemmt haben.

Und so ist es auch an einem Vorfrühlingstag gewesen, an einem jener wundervollen Tage, deren herbe Luft und junger Sonnenschein wie eine Verkündung neuer Kraft und neuen Werdens den Menschen packen, als ich im tollen Verkehrsgebrause den Broadway hinunterschritt und im Gehen wirre Träume träumte um mein liebes Ich herum.

Ich bin im Luftschlösserbauen nie sparsam mit Material und Größenverhältnissen gewesen und verzichtete auch diesmal auf alle Kleinlichkeit. Ich sehe die Luftschlösser noch ganz genau vor mir. Es ist mir erinnerlich, daß ich in dem rasenden Tempo, das solchen Träumen eigen ist, einen neuen kubanischen Feldzug erlebte, nur mit dem kleinen Unterschied, daß ich nicht Signalmann war, sondern kommandierender General der amerikanischen Armee, um dann mit einem in Träumen furchtbar leichten Uebergang Zeitungsmilliardär zu werden und als Besitzer von einigen Dutzend Riesenzeitungen die Geschicke eines Erdteils zu beeinflussen, und nun, presto, neues Zauberbild, das Knirschen und Rauschen von Eisenbahnbremsen zu hören und den sausenden Luftzug jagender Fahrt auf der Lokomotive zu verspüren. Ich weiß noch so gut, als stünde ich wiederum an der Ecke von Broadway und 58. Straße, wie das Gedränge mich aus den Träumen scheuchte, und ich sehe noch das entrüstete Gesicht der jungen Dame, der ich in den Arm gelaufen war, und höre noch das scharfe »sir!« ihres Begleiters. Und ich entsinne mich sehr wohl, wie nun auf einmal meine goldene Frühlingslaune tollfröhlichen Träumens in bittere Unzufriedenheit umschlug.

Langsam schlich ich mich in mein Zimmer im Montgomery und setzte mich ans offene Fenster. Wie das nach Rauch und Schmutz roch trotz aller Frühlingsluft! Wie grau und düster die Häuser aussahen trotz allen Sonnenscheins und wie langweilig das lärmende Getriebe da unten doch war, wenn man wußte, daß es aus gleichgültiger Tagesarbeit strömte und zu gleichgültiger Tagesarbeit ging. Die Wolkenkratzer, wie waren sie altbekannt und fade: die riesigen Häusermassen, wie ausdruckslos geworden!

War man denn allezeit verdammt, immer die gleichen Dinge zu sehen und immer die gleichen Menschen zu beschreiben und immer täglich sich den Kopf zerbrechen zu müssen darüber, welche Kleinlichkeit morgen wieder die dollarbringenden Zeilen füllen sollte!

Ich kam mir bemitleidenswert vor.

Ich hatte Sehnsucht.

Die Rebellion in mir war im schönsten Zug.

Ich dachte an die Männer um mich. Dick Burton war vor kurzer Zeit als Korrespondent nach London geschickt worden; Frank Holloway erst vor einigen Tagen nach den Philippinen abgegangen, um eine glänzende Stellung im Stab des amerikanischen Gouverneurs einzunehmen. Unter den anderen summte und surrte es ständig von Riesenprojekten.

In der knappen bestimmten amerikanischen Art wurde da besprochen, wie dem Kupfertrust der Garaus gemacht werden sollte, oder die republikanische Partei gestürzt, oder der Balkankrieg »gemacht«, wenn es im nächsten Herbst da unten endlich losgehe. »Im Herbst brennt es auf dem Balkan«, war überhaupt eine stehende Phrase. Der eine sprach mit Vorliebe davon, einen Schoner auszurüsten und die Südseeinseln zu befahren: der andere wollte demnächst nach Alaska, um einmal etwas Gescheites zu schreiben und nebenbei schnell einige Millionen Gold zu ergraben. Dieser sehnte sich nach dem Wirrwarr südamerikanischer Republiken, jener wollte die Wracker und Küstenpiraten der kleinen Floridainseln in ihren Schlupfwinkeln belauschen, ein dritter ein Reklamebüro gründen, das Amerika mit seinen nagelneuen glänzenden Ideen faszinieren und natürlich ein Märchenvermögen einbringen sollte. Wo bei diesen endlosen Projekten der Scherz aufhörte und der Ernst begann, hätten auch viel ernstere und erfahrenere Leute nicht beurteilen können, denn Leistungen hatten sie alle schon zu verzeichnen, waren alle Sausewinde, und gehörten alle einem Lande an, in dem Journalisten häufig Minister werden, noch häufiger erfolgreiche Politiker, und am allerhäufigsten Leiter großer kaufmännischer Unternehmungen.

Sollte ich da verwundert und gierig immerdar nur zuhören!

Und ich starrte zum Fenster hinaus und schalt mich einen Narren, der bienenemsig kleine Dinge zusammenarbeitete und philisterhaft zufrieden war damit, sich satt zu essen und ein unbekannter kleiner Reporter zu bleiben. Hinaus mußte man aus diesem Neuyork, wo die großen Namen und die großen Könner einen bedrängten! Wagen mußte man! Sich rühren und regen! Erleben, um schildern zu können! Wer rastet, rostet!

Ich holte mir die Argumente nur so aus dem blauen Frühlingshimmel herunter, zu Dutzenden, zu Hunderten, und kam mir mit jeder Minute ernster, strebender, bedeutender vor. So etwa, als überschritte ich voll Wagemut einen Rubikon. Es kam mir gar nicht in den Sinn, als sei ich vielleicht im Begriff, eine große Dummheit zu machen, sondern es schien mir, als wäre ich auf einmal sehr gescheit geworden.

Man merke, wie sonderbar Frühlingslüfte manchmal mit Menschen spielen.

Hinaus! Erleben – die Sehnsucht!

Es war doch einfach nicht zum Ertragen, hier in Neuyork zu sitzen, sein glänzendes Auskommen zu haben, nicht von Sorgen belastet zu sein, in bravem Einerlei zu arbeiten – und zu wissen dabei, daß es irgendwo draußen noch eine Welt gab, in der etwas los war. Mit Macht trieb es mich hinaus. So! Nun stand mein Entschluß fest. Fort! Als aber die Unvernunft glücklich gesiegt hatte, erwog ich ganz vernünftig Mittel und Wege zur Ausführung. Fünf Minuten lang etwa. Hatte nicht Frank Holloway beim Abschied gesagt:

» Stick to the human interest side of it, kid!«

»Halt dich ans Menschliche, Kleiner!« Das war nun Zeitungsslang gewesen, aber für den Eingeweihten klar wie Quellwasser. Die amerikanische Zeitung verlangt nackte Tatsachen und genaue Einzelheiten, wünscht aber als Garnierung das »menschliche Interesse», das auf Herzen und Vorstellungskraft wirkt. Das ist eine Art Allgemeinrezepts und als solches ein miserabler Mischmasch: wird aber ehrfürchtig befolgt. Weil ich nun – so sagte mir Holloway – in rein naivem Auffassen nur Menschliches, mir ganz Persönliches schilderte, was der routinierte Zeitungsmann überhaupt gar nicht mehr fertig brachte, so wurden meine Sachen eigenartig befunden und genommen.

Denn Zeitungsmann blieb ich natürlich. Nichts anderes war möglich – Selbstverständlichkeit!

»Kalten wir uns also ans Menschliche!« murmelte ich vergnügt vor mich hin. Und kam mir so begeistert vor, und so tatkräftig, und so willensstark, und nicht einmal als Ahnung dämmerte es in mir auf, daß wieder einmal Wandertrieb und Veränderungssucht mich gepackt hatten. Der Zufall wollte es, daß schon der erste Blick in die Zeitungen mir eine Aufgabe zeigte, die mir gefiel. In einem Teil der pennsylvanischen Kohlenregion in der Nähe Pittsburgs war ein Streik ausgebrochen, der zu schweren Ausschreitungen geführt hatte. Eine Kompagnie der pennsylvanischen Staatsmiliz war mobilisiert worden. Die Neuyorker Blätter brachten lange Berichte über die Ursachen des Streiks, die Aussichten auf Beilegung, die beiderseitigen Interessen, aber Schilderndes war nicht so recht da.

Hier wollte ich den menschlichen Hebel ansetzen! Ich!

Es war eine gigantische Unverschämtheit!

Kofferpacken – kurzes Erklären im Hotel, ich verreise auf einige Tage – Feststellen der Zugfahrtszeiten – Car und Ferry zum Pennsylvaniabahnhof – seliges Träumen im Rauchwagen.

Jawohl, da hatte ich endlich das Richtige gefunden. Neuyork mußte mein Hauptquartier und meine Operationsbasis sein, und wo etwas im Lande geschah, da mußte ich hin und sehen und schildern, von kleinen Aufgaben zu großen Unternehmungen wachsend.

Das klang großartig!

Jawohl! Und wenn ich mir heute das Reporterchen von damals vorstelle, so könnte ich mich totlachen!

*

Oh, es war sehr schön.

Ich mußte in Philadelphia umsteigen und in Pittsburg umsteigen, und es war spät abends, als der langsame lokale Zug in den Bahnhof des kleinen Kohlennestes fuhr. Padsbury Mines hieß es oder so ähnlich. Und meine Seele jubelte laut. Denn bei dem kleinen Holzhäuschen, das den Bahnhof vorstellte, leuchteten in grellem Fackelschein blaue Uniformen, glitzerten blanke Bajonette, blinkten schwarzschillernde Gewehrläufe, glühten in langen Reihen lodernde Lagerfeuer. Ein großer Lümmel von Milizsergeant durchstöberte meinen kleinen Koffer und durchfühlte mir die Taschen nach verbotenen Waffen, und ich pries die Götter, daß ich gutes, altes, reguläres Armee-Englisch noch so schön flüssig fluchen konnte. Der Sergeant machte ein dummes Gesicht und führte mich zur Hauptwache.

»Was wollen Sie hier?« fragte der Leutnant.

»Zeitung. Neuyorker Zeitungssyndikat,« log ich dreist. »Dann mache ich Sie darauf aufmerksam, daß Sie meine Postenlinie nicht überschreiten dürfen und im Falle der Zuwiderhandlung zu gewärtigen haben, daß die Posten feuern!«

» Thank you,« sagte ich höflich. »Darf ich fragen, wie die Sachen stehen?«

»Soviel ich weiß, unterhandeln die Führer der Streikenden augenblicklich mit dem Kohlensyndikat. Heute nachmittag hat ein kleiner Zusammenstoß stattgefunden. Es sind aber keine Verletzungen vorgekommen.«

» Thank you,« sagte ich.

Worauf ich mich neben den Milizsergeanten ans Lagerfeuer hockte. Nachdem ich ihm in leisem Flüsterton auseinandergesetzt hatte, was er nicht zu sein brauche, und was er sich ja nicht einbilden dürfe, und was in der Flasche in meinem Ueberzieher drin sei, war schönstes Einvernehmen hergestellt.

» Well,« sagte er, »links da drüben, zweihundert Schritt weit weg, sind die Minen. Die haben wir. Rechts da drüben, in Linie mit dem Feuer dort, so vier-, fünfhundert Schritte weit weg, sind die Hütten der Bergleute. Die haben wir nicht. Was los ist, weiß ich nicht recht, aber die Bande scheint die Minenmaschinen ein bißchen kaput machen und die Büros ein bißchen anzünden zu wollen, 's sind blutige Anarchisten natürlich, verdammte Deutsche un' Italiener und so'n Pack, aber ich nenn's eine gute Sache, daß wir es nicht mit richtiggehenden Amerikanern zu tun haben, die mit Revolvern umgehen können. Mit Kohlen haben sie uns geschmissen! Weiber und Kinder immer lustig mit! Korporal Smith hat ein Kohlenstück von ungefähr fünf Pfund mitten aufs Maul gekriegt. Sein natürlicher Phonograph sieht jetzt aus wie'n Fußball, gerade so schön braunschwarz und fast ebenso groß. Es macht aber nichts; er redet sowieso zuviel. Ich? Verletzt? Well, nein; wozu wäre ich denn Baseballspieler zu Hause, wenn ich nicht Flugkurven abschätzen könnte! Na, und dann feuerten wir mit Platzpatronen. Die Dinger machten ein bißchen Lärm, so ungefähr, als wenn man mit der Zunge geschnalzt hätte, und rochen abscheulich nach rauchlosem Pulver, und natürlich lachten die Bergleute uns nur aus. Well, daraufhin gaben wir's ihnen im Ernst, über die Köpfe weg, und sie gingen in beschleunigtem Tempo nach Hause. Das war alles, glaube ich. Aber wie die Bande geschrien und spektakelt und geflucht hat! Jawohl, es wird wohl bald aus sein. Schade, wir beziehen für die Zeit des Einberufenseins sehr anständige Löhnung und mein Chef zahlt mir den Gehalt weiter. Ich bin Schuhclerk – Pittsburg. Was sagten Sie, sei in der Flasche?«

– – Eine halbe Stunde später ging ich ein bißchen abseits, wie man eben einmal abseits geht, wenn man am offenen Feuer lagert, und ging noch ein wenig mehr abseits, und war im Dunkeln, und schlug einen gewaltigen Bogen nach rechts, um Bahnhof, Lagerfeuer, und die Herren von der Miliz herum.

Die Lehre vom Werte der Umgehung ist ja eine der einfachsten militärischen Grundregeln. Langsam arbeitete ich mich in völliger Dunkelheit auf unebenem Boden die Bahngeleise entlang, bis die Lagerfeuer kleiner und kleiner wurden und endlich wie glühende Punkte aussahen. Dann rasch hinüber über die Geleise. Links, in ziemlicher Entfernung, mußte nach der Schilderung des Sergeanten die Postenkette sein. Gerade vor mir zeichnete sich eine schwarze Masse undeutlich gegen den Himmel ab, die Hütten der Bergleute wahrscheinlich.

Auf gut Glück tappte ich auf die schwarze Masse zu, alle Augenblicke stolpernd, denn der Grund hier war ein Schlackenfeld – aber heidenmäßig vergnügt.

Ach, das war endlich wieder einmal nettes natürliches Leben ohne Handschuhe und Bügelfalte!

Ich kam immer näher.

Aus der schwarzen Masse wurden einzelne dunkle Gruppen und Schatten. Einen Augenblick leuchtete zwischen den Schatten matter Lichtschein auf, und ich glaubte, die Umrisse eines größeren Gebäudes zu erkennen. Da stolperte ich über irgend etwas, fiel, schimpfte leise, und wollte wieder aufstehen, als plötzlich harte Fäuste von rückwärts mir den Hals umkrampften. Instinktiv schlug ich mit aller Kraft mit beiden Armen nach hinten. –

»Tu' das noch einmal,« sagte eine Stimme in hartem, schlechtem Englisch, »und ich dreh' dir den Hals 'rum! So! Jetzt gehst du vorwärts, langsam, und denkst daran, daß dicht hinter dir ein Mann mit einer Spitzhacke ist, der dir im Notfall gern den Schädel einschlägt!« » Allright, allright,« brummte ich. Etwas Gescheiteres fiel mir nicht ein. Und rieb mir den schmerzenden Hals.

Ich wurde vorwärts gelenkt, gepufft, gestoßen, immer unter denkbar verständlichsten Anspielungen auf die Spitzhacke und meinen Schädel, sah dunkle Hütten, eine Art Straße, ein größeres Haus, wurde hinüberbugsiert, zu einer Tür geschoben, mit einem gewaltigen Puff hineinbefördert, sah Licht, viele Männer in einem großen Raum, und war im Nu umdrängt. Leidenschaftliche Stimmen brüllten auf mich ein –

»Ruhe!« schrie der Mann, der mich gefangen hatte, ein riesiger bärtiger Geselle, der mich bequem hätte erdrücken können.

»Sie haben auf uns geschossen – 's ist einer vom Büro – schlagt ihn tot!«

Wilde Gesichter drängten sich dicht vor meinen Augen, gellende Stimmen schrien, und ein harter Schlag traf meine Rippen. Da schlug ich zu, dem nächsten mitten ins Gesicht, und brüllte aus Leibeskräften:

»Ich bin euer Freund – ich bin euer Freund!«

Es war ein blödsinniger Einfall, aber der Humor der Sachlage wirkte auf die Leute. Ein schallendes Gelächter brach los. Der Riese zerrte mich zum Tisch, über dem eine schmutzige Petroleumlampe baumelte, und starrte mir ins Gesicht.

»Ruhe!« sagte er. »Kennen tu' ich dich nicht. Dachte, ich hätte Mulvaney erwischt, den Aufseher. Wer bist du?«

»Narr, verdammter –« keuchte ich – »Zeitung, große Neuyorker Zeitung – will über euch schreiben – in der Zeitung – verstehst du nicht – Leute wollen wissen – wissen, was hier los ist –«

»Die Hölle ist los,« sagte der Riese. »Hm, vom Büro ist er nicht – ruhig, Jungens. Weiter!«

»Bahnhof angekommen – alles abgesperrt – hinten rumgegangen!«

»Scheint mir zu stimmen, Jungens!«

Da wurde die Tür aufgerissen und zwei Männer stürmten herein, die mit einem Satz auf Stühle sprangen. Sie trugen einfache dunkle Anzüge und runde Hüte, die ihnen in dem Gedränge von verschmutzten blauen und braunen Arbeitskleidern etwas Feierliches gaben. Sofort wurde es totenstill. Und eine klingende metallische Stimme schallte durch den Raum:

»Alles vorbei, Jungens!«

»Im Namen der Union der Bergleute erkläre ich den Streik für beendet.«

»Die Blechmarken sind abgeschafft – Mulvaney ist entlassen – die Preise der Lebensmittel meiden nach dem Standard von Pittsburg reguliert. Wir haben, was wir wollten, Jungens. Die Union hat zu euch gehalten; haltet ihr immerdar zur Union und ihr werdet noch Diamanten tragen!«

Eine Hölle von Lärm brach los.

Weiber stürzten zu ihren Männern, lachend und weinend zugleich; alles schrie, lärmte, zeterte. Die wenigen Amerikaner unter den Bergleuten erklärten denjenigen fremden Miners, die halbwegs Englisch verstanden, wie der Sieg errungen worden sei, und diese wieder verdolmetschten es aufgeregt und gestikulierend ihren Landsleuten. Englische, italienische, deutsche, slavische Worte schwirrten wirr durcheinander. Es war ein neuer Turm zu Babel. Mir wurden immer wieder die Hände geschüttelt, und der Riese klopfte mich auf die Schulter, daß ich in die Knie knickte, und der wollte in gebrochenem Englisch erzählen, und jener schrie dazwischen, und es wurde tief getrunken und gellend gejubelt, und ich trank alles in mich ein.

Recht und abermals recht hatten sie, diese armen Teufel, so schien es mir. Eine winzige Ursache hatte den Streik herbeigeführt. Da war ein Aufseher gewesen, ein Irländer namens Mulvaney, der das berüchtigte Hetzpeitschensystem des amerikanischen Unternehmers ein wenig zu straff durchgeführt hatte. Um Höchstleistungen der Arbeitskraft zu erzielen, wurde der einzelne Arbeiter bei jeder Versäumnis mit kleinen Geldstrafen, Zeitverkürzungen, Gewichtsabzügen so gründlich schikaniert, daß endlich den Bergleuten die Geduld riß. Sie rebellierten gegen die tägliche Peitsche. Das war ihnen die Hauptsache. Nebenbei fiel ihnen ein, daß sie auch sonst noch Sorgen hatten. Die lieben Leute in Pittsburg, denen die Mine gehörte, operierten nach uraltem amerikanischem Brauch höchst skrupellos mit der endlosen Kette, die das Geldgetriebe vom Arbeitslohn zum Lebensbedarf in Bewegung setzt. Sie hatten jede Ansiedlung von Kaufleuten zu verhindern gewußt, und das Bergwerk selbst lieferte alle Lebensmittel, alle Kleider, alle kleinen Notwendigkeiten und Genüsse bis hinunter zum Bier. In schlechter Qualität natürlich und zu hohen Preisen.

Man macht das überall so im Land der sogenannten Freiheit, das den Ruhm für sich in Anspruch nehmen darf, dieses kluge System ersonnen zu haben. Sein Witz ist, daß der Unternehmer nicht nur den gewaltigen Unterschied zwischen Eigenkosten und Verkaufspreis einsteckt und ein glänzend rentables Geschäft im Geschäft eröffnet, eine Art Warenhaus, dessen Kunden Zwangskunden sind, weil sie von ihm abhängen, – sondern er erspart sich die Hauptsorge des Kapitals, die Lohnzahlung! Er schafft sich eine eigene Währung! Blechmarken bekamen diese fremden Arbeitstiere – der geborene oder auch nur akklimatisierte Amerikaner ist für diese Sorte Arbeit nicht zu haben – hübsche blecherne Blechmarken, auch auf Vorschuß, so viel sie nur haben wollten. In allen Werten vom Dollar bis zu fünf Cents. Dafür konnten sie in den Läden der Gesellschaft einkaufen. Wenn der Zahltag kam, so bestand die Bezahlung aus einer Quittung über einen so und so hohen Betrag in Blechmarken und der Mitteilung, daß der Arbeiter Soundso noch so und so viel schuldig sei. Ein recht Sparsamer mochte auch einmal einen Dollar oder zwei in bar erhalten. Aber das kam selten vor. So rollte die Kette endlos. Ersparte sich jedoch wirklich einmal ein Arbeiter Blechgeld, so konnte er den fingierten Wert nicht etwa in wirkliches Geld umtauschen, denn das verbot ja das Münzgesetz der Vereinigten Staaten! Nein, er mußte sein Geld im buchstäblichen Sinne des Wortes aufessen. Oh, der amerikanische Kapitalist ist ein lieber Mensch! Man bedarf wirklich keiner besonderen nationalökonomischen Talente, um sich auszurechnen, ein wie ungeheurer Prozentsatz des gezahlten Arbeitslohnes auf diese Weise wieder in die Taschen des Arbeitgebers zurückfließt.

Jetzt waren sie abgeschafft, der Aufseher und die Geldmarken. Dem Aufseher folgte wohl ein anderer, der klüger war, und statt der Blechmarken bekam jeder Arbeiter sein Einkaufsbuch. Die Form hatte sich geändert. Die Sache blieb.

Und ich schüttelte den Kopf und starrte in die leidenschaftlichen Gesichter und versuchte, mir Wort, Mienen, Art einzuprägen. Soldaten von der Miliz kamen; es wurde gelacht, geschrien, gesungen. Spät nachts schrieb ich mitten im Lärm ein langes Telegramm, das die Western Union-Agentur auf dem Bahnhof beförderte. Im Morgengrauen fuhr ich mit einem Frachtzug nach Pittsburg zurück und im sausenden Pullmanwagen entstand dann auf der Fahrt nach Neuyork die menschliche Geschichte eines kleinen Kohlenstreiks.

O ja, sie wurde sofort genommen. Aber meine schönen sozialen Erwägungen strichen sie mir weg.

»Das verstehst du nicht, Söhnchen,« meinte der maßgebende Mann vom Journal. »Bleib nur hübsch bei den Bilderchen. Bleib bei deinem menschlichen Interesse!«

*

Im Grunde pfiff ja wohl auch ich auf die sozialen Erwägungen.

Kaum beschrieben, waren die armen Miners und die klugen Bergwerksherren schon vergessen, denn neue Pläne mußten schleunigst geschmiedet werden. Das Wandern begann im Ernst. War doch der erste Flug ins Land hinaus ein Erfolg gewesen, der nur neue Träume schuf und neues Rebellieren im Blut. Wenige Tage nach der kurzen Fahrt ins pennsylvanische Kohlengebiet verließ ich Neuyork abermals, um nach Baltimore zu hasten – ein deutsches Schulschiff sollte den Hafen anlaufen, und darüber wollte ich schreiben; wiederum einige Tage in Neuyork darauf – dann in eine Frühlingskolonie armer Neuyorker Kinder am Hudson – dann nach Philadelphia, um unter den Größen der Textilindustrie eine Umfrage über die Wirkung des neuen Zolltarifs zu veranstalten, der damals die Gemüter stark erregte – nun nach Chicago zu Buffalo Bill, der »echte« Rauhe Reiter für seinen riesigen Zirkus angeworben hatte, eine Englandreise plante, und hochinteressante Dinge über die Ausrüstung seines Unternehmens zu erzählen wußte – zurück nach Neuyork ...

So begann das Wandern.

Ich aber begann, steif und fest daran zu glauben, daß ich zu großen Dingen berufen sei!

Nur das Ereignis fehlte noch. Das große Ereignis, von dem jede Freilanze im Zeitungsdienst Tag und Nacht sehnsüchtig träumt in den sonderbarsten Vorstellungen. Man möchte auf einem Schlachtschiff sein im Kampf, die Greuel, die wahnsinnige Aufregung einer Seeschlacht erleben; man müßte der Freund eines Edison, eines Teßla, sein und in das wundersame Gehirn solcher Männer hineinblicken können; man sollte täglichen Ehrgeiz und täglichen Gelderwerb verächtlich weit von sich wegwerfen und ein hartes Jahr lang unter den Hochseefischern Neufundlands leben – dann, ja dann würde endlich das große Federbild gemalt werden können, das Ruhm und Erfolg bedeutet. Aber die großen Ereignisse sind gar selten und lassen sich nicht schaffen und werden in einer Zeitungsgeneration nur von wenigen Männern erlebt. Das weiß ich heute. Große Schilderer werden geboren. Der Künstler ist unabhängig von Raum, Zeit und Geschehen, denn ihm können die Runzeln eines alten Weibes eine große Offenbarung sein. Damals aber wußte ich das nicht und fühlte es nicht, sondern wartete krampfhaft auf das Ereignis. Quälte mich ab, zermarterte mein Hirn, träumte, jagte und hetzte dem Geschehnis nach.

Es war töricht, doch wenn ich heute mich des Erinnerns freue, so ist es in mir wie trauriges Bedauern ob der bitterhart errungenen Weltklugheit. Ach, das bißchen Weltklugheit! Es gibt schönere und größere Dinge im Erdenleben, von denen ein Einundzwanzigjähriger nicht viel wissen kann, aber es ist etwas Wundervolles um junge Lebensgier, die sich noch jubelnd in törichtes Traumland stürzen kann, weil der schwere Hammer der Welt und der Menschen bis jetzt abgeprallt ist von den jungen Sehnen.

Ach, was waren das für schöne Zeiten, da man noch so selig glücklich sein durfte, die eigene Kraft ins Ungemessene überschätzen zu können, in bunten Träumen nicht nur am hellichten Tag sondern in der Tat. Da man sich so gar nicht fragte:

»Was werden wir essen? Was werden wir trinken?«

Und so begann denn das Wandern, das so töricht war und doch so schön, weil es in heißem Sehnen geschah und glühender Freude an der Arbeit. Meine Freunde rieten mir ab. Die Zeitungen erklärten mir strikt, daß sie sich nur von Fall zu Fall entscheiden würden und keinerlei Unterstützung versprechen könnten. Sie alle schalten mich ziemlich deutlich einen heillosen Narren, der gutes Brot für ungebackenen Kuchen wegwarf. Ich aber lachte und packte meinen Koffer. Frei wollte ich sein. Irgendwo wollte ich das große Zeitungsglück suchen. Bald hier, bald dort, wie der Zufall es bestimmte.

Die Periode des Lebens als wandernder Zeitungsmann umfaßte nicht ganz drei Monate. Sie führte mich von Stadt zu Stadt in buntem Wechsel, bis weit in den Westen hinein – sie brachte eine Hetzarbeit, die eigentlich auch nicht sehr verschieden war von meinem Neuyorker Berufsleben. In Cripple Creek schossen sie mir eine Kugel ins Bein, weil ich zufällig dabeistand, als drei Silbersucher ihre Argumente durch Revolverschüsse bekräftigten – auf dem Cowcatcher fuhr ich auch wieder einmal; das war in der Nähe von Denver – aber sonst passierte nichts besonders Schönes! Es ging mir gut, weder besser noch schlechter als in der Wolkenkratzerstadt.

Es blieb die Sehnsucht nach dem Ereignis. Sie war immer da!

Und wie dann das große Ereignis endlich kam – das ist eine lustige Geschichte!


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