Felicitas Rose
Kerlchen als Anstandsdame
Felicitas Rose

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Aus Kerlchens Tagebuch.

Heute ist Wera wieder hier eingerückt. Wie ich mich nach ihr gesehnt habe! Sie schrieb so treulich, und ich konnte ihr nur so wenig antworten, meine ganze Zeit nahmen ja die Kinder und die ganz veränderten Verhältnisse in Anspruch. Auch heute war ich im Kinderzimmer und badete Kleinchen, da Mutter Scholz nicht ganz »auf Deck« ist. Als ich endlich alles besorgt hatte und Kleinchen eingeschlafen war, lief ich spornstreichs nach Weras Zimmer und fand sie da sitzen, mit bitterbösem, ganz blassem Gesicht, das sich aber bald zornig rötete.

»Schöne Wirtschaft das!« polterte sie los. »Ich bin wohl hier der »Gar-Niemand« geworden? O ich bin wütend! So furchtbar hab' ich mich nach dir gebangt und immer nur von dir gesprochen, und beinahe jeden Tag geschrieben, aber hab' ich wohl 'ne vernünftige Antwort gekriegt? Ihr habt wohl alle einen Klaps? Lauter alte Jungfern im Schloß, und dann dieses Kindergeschrei, und wo man hinguckt, flattert Kinderwäsche –« Sie sah zornig auf die Wiese, wo Leine an Leine gespannt war, auf denen Kleinchens und Bubis Sachen trockneten.

»Guck' nicht hin,« riet ich versöhnend.

»Aber, ich lass' es mir nicht gefallen! Du bist meine Anstandsdame, um meinetwillen bist du überhaupt hergekommen, was nützt auch so 'nem Säugling 'ne Anstandsdame, der tut doch, was er will.«

»Stimmt!« sagte ich lachend. »Ich bin auch bereits von der Anstandsdame feierlich zur Kindermuhme avanciert, und glaub' mir, mein Werchen, da brauch' ich mich nicht zu verstellen, da steh' ich meinen Mann!«

»Wenn ich dich freilasse!« grollte Wera.

»Ach, du Dummerchen! Heute hast du wohl 'n Klaps?« Komm mit und besieh dir das süße Bündel da drüben und dann wiederhole mir alles, – wenn du kannst!«

Ich zog sie nach dem Kinderzimmer hin und auf dem Wege erzählte ich ihr die ganzen Erlebnisse der trüben Zeit, und richtig schlug sie gleich ins Gegenteil um, wie ich es gar nicht anders erwartet hatte!«

»Ein Hauptkerl bist du,« sagte sie bewundernd zu mir, »ich bin stolz auf dich!«

Dann schlich sie auf den Zehen zu Kleinchens Bettchen und schaute lange in das kleine Gesichtchen; als sie sich dann zu mir wendete, hatte sie die Augen voll Tränen.

»Auch so ein Mutterloses!« flüsterte sie. »Ob es der liebe Gott wohl auch so führt, daß es später geborgen ist, wie ich bei meinem Ernst?«

»Gutes Werchen! Und du bist mir nicht mehr bös?«

»Still, still, Kerlchen! Ich war häßlich egoistisch! Vergib mir! Und dann laß uns weiter in meinem Zimmer plaudern, hast du Zeit?«

»Jetzt eine ganze Menge!« rief ich fröhlich, und dann saßen wir eng umschlungen in Weras Zimmer und fanden des Schwatzens kein Ende, bis uns tiefe Dunkelheit umgab. Aber ich merkte wohl, daß Wera immer noch etwas auf dem Herzen behielt, und mochte doch nicht in sie dringen, wenn sie es mir freiwillig nicht anvertraute. Schon wollte ich mich wieder nach den Kindern umsehen, da tönte es bittend an mein Ohr:

»Kerlchen!!!«

»Was denn?«

»Kerlchen, wirst du nun arg bös werden, daß ich dir vorhin so einen Auftritt gemacht habe, und noch nachträglich mit mir zürnen?«

»Weri, nicht so 'ne lange Vorrede!«

»Sieh, Kerlchen, – es war schnöde Selbstsucht von mir. Ich wollte dich ganz und gar für mich allein behalten. Und doch mußt du mich erst mal für ein Weilchen freilassen, denn – o Kerlchen, denke dir – nur noch vier Wochen, und ich soll schon als Herrin in Groß-Rhoda einziehen, ich, deine kleine, dumme Wera!«

»Wera!« Ich war zuerst so verblüfft, daß ich weiter gar nichts sagen konnte.

Sie schmiegte sich an mich.

»Es ist jetzt alles festgesetzt worden,« fuhr sie fort, »in vier Wochen ist die Hochzeit, ganz still, in Ernsts Schlosse, Tante Lisbet ist damit einverstanden, dann fahren wir gleich nach Italien und – o Kerlchen, nun kommt ja das Wunderwunderschöne – du sollst ein paar Tage darauf die Tante Aurelia begleiten, erst nach Bayern, dann weiter südwärts, und dann wollen wir uns im schönen Italien treffen, ist das nicht wonnig?«

Ich war aufgesprungen.

»Das ist nicht möglich!« stammelte ich.

»Doch, doch, es ist Wahrheit!« jubelte Wera. Tante Altenhof ist einverstanden damit, sie ist sogar glücklich darüber, daß deine Pflichttreue eine solche Belohnung findet, daß du die schöne Fremde kennen lernen kannst, du, mit deinem empfänglichen Herzen!«

Ich hatte die Lampe angezündet. »Sag's mir nochmal im hellen Licht, Wera, ob es Wahrheit ist!«

»Sicher, sicher, du ungläubiger Thomas!«

»Aber – was wird Fräulein von Rhoda sagen,« stammelte ich kleinlaut.

»Ja, das muß allerdings noch gedeichselt werden,« rief Wera, »aber das besorgt mein Erni schon bei Gelegenheit, wenn er auch absolut keine Anlage zum Diplomaten hat. Kommt Zeit, kommt Rat! O Kerlchen, noch vier Wochen, und ich bin sein!«

Sie versank in träumerisches Sinnen, und ich schwieg auch, während ein glückseliges Gefühl in mir Einzug hielt. Reisen! Die Welt sehen! Die wunderbar schöne Gotteswelt! O wie gut meinte es das Schicksal mit mir! Wie dankbar wollte ich sein und Fräulein von Rhoda alles nach Kräften zu vergelten suchen.

*

Vier Wochen später.

Es ist alles anders geworden. Nur ganz flüchtig kann ich heute in mein Buch schreiben. In der Schloßkapelle zu Groß-Rhoda steht heute mein Werchen vor dem Altar und wird die glückselige Frau ihres Ernst. Eben wird der Wagen angespannt, der mich auf ein Stündchen hinbringen soll. Dann fahre ich wieder zurück, um meinen Platz am Krankenbett einzunehmen. Jawohl am Krankenbett! Denn drüben ringt unser geliebter, kleiner Felix mit dem Scharlach, Kleinchen ist von ihm abgesondert, aber es hat keinen Appetit und unruhigen Schlaf; – – wenn es krank würde, schwer krank, das zarte, süße Ding?

Wie sie alle gut mit mir sind! Wie sie mir selbstlos zuredeten, an der schönen, sich vielleicht nie wieder bietenden Reise festzuhalten!

Und nun, da ich fest darauf bestand, in den Tagen der Not bei ihnen zu bleiben, wie sie mich verwöhnen!

Ich tat doch nur meine Pflicht! Ich denke gar nicht mehr an Italien, habe still meine Koffer wieder ausgepackt und denke nur noch, daß ich meinem Werchen die Myrtenkrone aufs Haar setze und Zeuge ihres Glückes bin. Dann zurück zu den mutterlosen Kindern!

Väterchen! Liebes! Du siehst so treu und gut, auf mich herab! Gelt, du siehst mich am liebsten, wenn ich tapfer bin?! – – – – – –

*

Wieder daheim! Wera war eine einzigschöne Braut! So strahlend, so lieb und froh, und doch so demütig in ihrem Glück.

Frau von Altenhof war mit mir hingefahren und begleitete mich auch wieder zurück. Es war eine ruhige, kleine Tafelrunde, während welcher ich kaum die Augen aufzuschlagen wagte, denn die Stiftsdame schaute mich unverwandt und kopfschüttelnd durch ihre Lorgnette an.

Als ich dann später Wera das Reisekleid anlegen half, brach bei dieser der Übermut zum erstenmal wieder durch.

»O Kerlchen, weißt du, was Tante Aurelia gesagt hat?

Du seist ihr ein Rätsel. Trotz der schweren Krankheit und der aufopfernden Nachtwachen habest du dich förmlich verjüngt, und das Pedantische an dir sei wohltuendem Ernst gewichen!«

Wir lachten beide noch einmal recht herzlich und froh zusammen, mit keinem Worte streiften wir die Reise und meine zerstörten Hoffnungen.

Nur als ich vom jungen Paare Abschied nahm, drückte mir Ernst von Rhoda stark die Hand und sagte: »Tapferes Kerlchen! Ich bin stolz darauf, daß meine Wera Sie Freundin nennt!«

Als ich wieder zu Hause anlangte, fiel mir aus meinem Reisehandtäschchen ein kleiner Zettel entgegen. Ich betrachtete die Knabenhandschrift nachdenklich, und wenn das Verschen auch keine Unterschrift trug, so stand mir doch greifbar deutlich der Fähnrich Heinz vor Augen:

»Gern würf' ich ab den falschen Schein,
Laut möcht' ich meinen Namen nennen,
Dir schlägt mein Herz, nur Dir allein!
Du aber willst es nicht erkennen!«

Er hatte heute an der Hochzeitstafel das Amt des Mundschenks übernommen!!!

*

In Altenhof war es Frühling geworden, und zwar kein Frühling mit Aprilwetter, Sonnenschein, Regen und Sturm, sondern ein lachender, sonniger Frühling mit Vogelfang und Veilchenduft; der alte, düstere Graben, der sich um das Schloß herumzog, war wie besäet mit den blauen Blümchen.

Kerlchen stand im Graben und pflückte Veilchen. Zum erstenmal seit langer, langer Zeit hatte es ein weißes Kleid an, und keinen Schmuck an sich, als einen Veilchenstrauß im Gürtel, außer den roten Wangen und den lachenden Blauaugen.

Heute war Festtag in Altenhof.

Wer es nicht in allen Gliedern spürte, wie »das Kerlchen«, der brauchte nur hineinzugehen und sich die Türen zu besehen, die sämtlich Guirlanden trugen, eine zarte Aufmerksamkeit der dienstbaren Geister in Altenhof. Doppelter Festtag, denn Felix war schon seit ein paar Tagen aus strenger Krankheitshaft entlassen, und heute war Taufe von Kleinchen!

Über ein Vierteljahr war das Dingelchen schon alt, und Mutter Scholz konnte kaum noch ihren Groll verbergen, wie lange man denn eigentlich warten wollte mit der Aufnahme dieses kleinen Erdenbürgers in den Bund der Christenheit.

»Sie soll woll selber »ja« sagen, wenn der Herr Pfarrer fragt,« äußerte sie entrüstet.

Nun, man konnte der guten Mutter Scholz die tieferen Gründe nicht mitteilen, sie ahnte nicht, welch stille Kämpfe ausgefochten wurden, niemandem sichtbar, tief drinnen in den Herzen der beiden Frauen. Wohl hatte der Pfarrer die Schwelle des Schlosses überschritten, aber immer war ihm in der großen Vorhalle nur das Kerlchen entgegengelaufen, und seine Kinderaugen hatten ihm schon von weitem die traurige Botschaft kundgetan, die der Mund dann leise aussprach: »Die Damen nehmen niemand an«.

Dann war aber das Kerlchen »Prediger in der Wüste« geworden, hatte mit heiligem Eifer für eine gute Sache gestritten, und sacht, aber eindringlich pochten auch die zarten Kinderhändchen an die Herzen der beiden einsamen Frauen. Da taten sie sich endlich auf, zuerst noch scheu und beinahe erschrocken vor der Fülle des Lichtes, die hineinfiel, dann aber immer mehr erwärmend, erstarkend in dem Bewußtsein: »Gott sitzt im Regimente und führt alles wohl.«

Und heute war Taufe.

Schon am vergangenen Sonntag hatte der Pfarrer im Schlosse zu Mittag gegessen, und da war der Tag festgesetzt und die Patin ernannt worden, Gisela sollte es sein, und »Gisela-Inge« hieß das Kleinchen von jetzt ab.

Kerlchen pflückte Veilchen.

Heute sollte das ganze Schloß untertauchen in Frühlingsblumen, der Tauftisch, das Taufkleidchen, die Taufpatin und die »Freßgevattern« sollten mit Veilchen bekränzt werden.

O wie schön war die Welt!

Beide Arme warf Kerlchen in die Luft und atmete tief auf und sang: »In meiner Heimat, da wird es jetzt Frühling, der blüht auf den ältesten Gräbern sogar, da flüstern die Brunnen, da locken die Lieder, da wandert mit Kätzchen die Kinderschar!«

Der schmetternde Klang eines Posthorns mischte sich nicht gerade harmonisch in das angestimmte Lied, Kerlchen brach jäh ab und kletterte an dem Grabenrand in die Höhe, um Ausschau zu halten. Wie kam jetzt die Post hierher?

Es war auch nicht die alte gute, gelbe Kutsche, die täglich von Sandkrug über. Altenhof nach Rhoda und weiter fuhr, es war eine hübsche offene »Halbchaise« des Posthalters, und der junge Postillon war des Posthalters eigener Sohn und hatte die beste Uniform an.

»Extrapost.«

Das ganze Schloß kam zusammengelaufen, vom Hof, aus den Ställen, überall her ging und sprang man hinzu, um das Ungewöhnliche zu beobachten.

Und die Extrapost fuhr nicht etwa schlankweg vorbei, nein, sie hielt unter nochmaligem schmetternden Signal an, und dem Wagen entstieg eine mittelgroße, vollwichtige Dame mit energischen Zügen starker Nase, durchdringenden, hellen Augen und einem roten, von grauem Wellenscheitel umrahmten Gesicht.

Mit offenem Munde schauten die Altenhofer, Kerlchen voran, das Wunder an. »Wie die Ochsen das neue Tor!« Die alte Dame warf ihnen diesen Satz ungeniert an den Kopf, und der Troß stob verlegen lachend auseinander.

Inzwischen war Heinrich herbeigeeilt und half den leichten Koffer vom Bock herunterheben.

Beim Anblick des Koffers und der einzigen Schachtel außerdem wetterte und fluchte die alte Dame wie ein Stadtsoldat.

»Kreuzmohrenelement, – ich sag's ja, – eine Kiste und zwei Schachteln sind stehen geblieben, das kommt davon, wenn man nicht Probe reisen kann.«

Ihr Gesicht, das in böse Falten gezogen war, wurde milder, als sie Kerlchen erblickte, das wie der verkörperte Frühlingstag vor ihr stand.

Sie nahm ihm ohne weiteres einen Veilchenstrauß ab.

»Das nenne ich doch noch einen Empfang! Aber woher weißt du denn, Kind, daß ich komme, – oder sind Sie schon eine erwachsene Dame?«

Kerlchen sah sehr verblüfft aus und zuckte die Achseln, es konnte sich gar keinen Vers aus der Fremden machen.«

»Na, – mit der Pulvererfindung scheint ihr euch hier ja nicht lediglich zu beschäftigen,« meinte die Dame trocken, »bisher hat mir hier noch kein Mensch ein Wort gesagt. Geh er und melde er mich bei seiner Herrschaft,« wandte sie sich an Heinrich, und dieser ließ beinahe wieder Koffer und Schachtel fallen vor Schreck.

Was war das? So sprach und wetterte nur eine – er hatte sie im Gedächtnis behalten, lange Jahre hindurch.

Aber die zornigen Worte: »Nun, was steht er, was gafft er,« brachten ihn zu sich.

»Melde er Freifräulein Laura von Hartwig.«

In Kerlchens Gesicht wetterleuchtete es, und so sprechend war sein Mienenspiel, daß Fräulein von Hartwig stutzig wurde.

»Nun, – geht Ihnen ein Seifensieder auf? Kennen Sie mich, haben Sie von mir gehört?«

»Jawohl,« sagte Kerlchen rasch, »ich bin Erich Schliedens Schwester.«

»Leutnant Schliedens Schwester! Da schlag eine Bombe drein! Das sagt dieses Kiekindiewelt so, als wär's ein Empfehlungsbrief. Jawohl! Leutnant Schliedens Schwester! Jagt mich dieser verdrehte Mensch vom Lauenburgischen herunter ins Thüringische, als wär' ich ein perpetuum mobile. Jagt mich mit einem ganz verrückten Brief, von dem ich kein Wort glaube. Und dann nennt sich der Mensch auch noch Leutnant Schlieden! Die Welt ist bunt, Donner und Hagel, bunt ist die Welt!«

Kerlchen folgte kopfschüttelnd der voranstapfenden alten Dame ins Schloß. Sie schien ihm nicht ganz richtig im Kopfe zu sein.

Drinnen in der Vorhalle standen Frau von Altenhof und Gisela, um den unerwarteten Besuch zu empfangen.

Beide waren blaß vor innerer Erregung.

Fräulein von Hartwig knickste altmodisch.

»Lisbet und Gisela! Es stimmt! Die Welt ist bunt, Donner und Hagel, bunt ist die Welt. Sieben Jahre haben wir uns nicht gesehn, nichts voneinander gehörte, schöner und jünger sind wir nicht geworden inzwischen, aber das Herz ist noch auf dem rechten Fleck. Grüß Gott, Leute, alle miteinander!«

Frau von Altenhof streckte ihr beide Hände entgegen und dann umfaßten sie sich lange – stumm. Darauf löste sich Fräulein von Hartwig aus der Umarmung und schritt mit Gisela nach dem früheren Empfangszimmer.

»Nicht hier,« gebot Gisela und führte die Erstaunte nach den ehemaligen Rumpelkammern, – wir sind umgesiedelt, – der Kinder wegen.

Kopfschüttelnd blieb die alte Dame vor den guirlandengeschmückten Türen stehen.

»Ist ein Fest hier – bei Euch?« fragte sie ungläubigen Tones.

»Die Taufe von Hans von Hartwigs Kind,« sagte Gisela mit seltsam verschleierter Stimme und öffnete die Tür zum Wohnzimmer.

»So ist sie denn wirklich wahr, die tolle Mär, die mir der Leutnant Schlieden da auftischte, und die ich nicht glauben wollte? Wirklich zerstört das trügerische Glück, die Frau tot, Hartwig fort, und ihr beiden, ausgerechnet just ihr beiden nahmt die Kinder auf?«

Frau von Altenhof reichte Gisela über den Tisch hinüber die Hand, ein Aufleuchten des Glücks flog über beider Gesicht.

Fräulein von Hartwig lachte kurz und hart auf. »Man sieht's euch an, ihr tatet es gern! Das alte, ewige Rätsel vom Frauenherzen. Verratet es, tretet es, – – es liebt und verzeiht. Ich bin nicht besser, wie ihr alle!«

Kerlchen ging gern jeder Sache auf den Grund, und so stand es jetzt mit strenger Richtermiene vor der Säumigen.

»Warum kamen Sie jetzt erst?«

»Frag du und der Deubel!« war die nicht sehr höfliche Antwort, aber doch nicht grob genug, um ein Kerlchen einzuschüchtern, das von der Rechtmäßigkeit einer Frage überzeugt war.

»O, – der Erich hat so auf Nachricht gewartet, er hat doch gleich geschrieben, als die arme Inge starb, und Hans von Hartwig hat seine Abreise beschleunigt, er wollte Sie nicht sehen, weil Sie seine Inge nicht lieb hatten, aber er war fest überzeugt, daß Sie kommen würden.«

»War er? War er?« rief Fräulein Laura, und ein strahlendes Lächeln verschönte ihr derbes Gesicht. Recht hat er damit gehabt, dreimal recht! Nach dem eindringlichen Brief von seinem Freunde mußte ich kommen! Und bin ich nicht gleich gekommen? Gestern traf ich erst in Mölln ein, es muß mich der Leibhaftige geplagt haben, daß ich ein Vierteljahr auf Reisen war, wie ein Vagabund. Und dann hatte der superkluge Herr Leutnant Schlieden erst mal einfach »Mölln« auf den Brief geschrieben, und der ist in sämtlichen »Möllns« herumgefludert, mir dann nachgeschickt worden, hat mich nicht gefunden, item – was soll ich mich entschuldigen, gestern hab' ich ihn gefunden, – sperr' die Ohren auf, Gelbschnabel, – ich sagte gestern, und heute bin ich hier. Wie mir's nahe geht, daß es doch zu spät ist, weiß der Allmächtige, und es geht keinen was an, als ihn und mich.«

Kerlchen streckte ihr die Hand hin.

»Es ist gut, daß sich die Sache so verhält, und den Erich wird's freuen,« sagt es ernsthaft. »So? Wat büst du förn Klugsnacker?«

Fräulein Laura schaute Kerlchen forschend in das Gesicht.

»Wenn ich bloß wüßte, wo ich deine Augen schon gesehen hab' – –.«

Sie blieb eine Weile nachdenklich, dann rief sie: »Bringt mir jetzt was zu essen, und dann wollen wir in die Kinderstube gehen. Auf den nüchternen Magen kann ich mir die Würmer nicht ansehen, – na, und dann müssen wir besprechen, Pläne schmieden, handeln, – und ihr müßt mir haarklein alles erzählen, denkt, daß ich soviel wie nichts weiß, was in den letzten Jahren geschehen, trotzdem der Brief des Leutnants dick und gewichtig genug war.«

Kerlchen war schon hinausgelaufen, um in der Küche Bescheid zu geben, sie brachte kurze Zeit darauf die Meldung, daß im Eßzimmer das Frühstück bereit stehe.

Und nach der Stärkung ging man ins Kinderzimmer.

Die kleine Inge saß auf dem Arm von Mutter Scholz, krähte und lachte seelenvergnügt, froh, endlich aus dem dummen Vierteljahr heraus zu sein.

Fräulein von Hartwig beachtete das süße Geschöpfchen kaum.

»Säuglinge sind Kaulquappen,« sagte sie unwirsch zu Mutter Scholz, die sich tiefentrüstet mit ihrem Pflegling in eine Ecke zurückzog.

Felix baute an einem »Hüttchen«, er kam aber gehorsam sofort herbei und sah der fremden Name aufmerksam und ernsthaft ins Gesicht, nachdem er ihr mit ritterlicher Verneigung die Hand geküßt.

Auch Fräulein Laura unterzog den schönen Knaben einer eingehenden Musterung, ihre Lippen zuckten, dann wendete sie sich mit einem schweren Seufzer ab, Felix ließ erschrocken ihre Hand los und lief hinaus, die Wärterin folgte ihm mit Klein-Inge, um in der Küche voll Zorn zu erzählen, daß man ihr Kind eine Kaulquappe genannt hatte.

»Welch' ein Engel ist der Junge,« sagte Fräulein Laura mit seltener Weichheit, – »wirklich ein Engel – aber nicht einen einzigen Hartwigschen Zug hat er im Gesicht.«

»Hans von Hartwig war ja auch kein Engel,« fiel Kerlchen rasch ein, »aber Frau Inge war es, – Felix sieht aus wie sie.«

»Ja,« rief Gisela laut und fest. »Sie war engelschön und engelgut, ich sah sie ja nur im Tode, aber ich wußte in dem Augenblicke, daß Hartwig sie lieben mußte, daß er schuldlos war.«

»Larifari, Sentimentalitäten und kein Ende,« rief Fräulein Laura heftig, alle Weichheit war aus ihrer Stimme fortgewischt. »Da würde jedes hübsche Lärvchen ein Freibrief werden, auf den man frisch drauf los sündigen könnte, so oder so – hoffentlich hat die Mutter dem Jungen noch etwas Besseres vermacht als nur ihre Schönheit, – holt mir ihn wieder herein und auch sein Schwesterchen, ich will sie nicht aus der Kinderstube vertreiben.«

Mutter Scholz erschien wieder, etwas milder gestimmt, denn Tina und Heinrich hatten ihr inzwischen sehr viel Gutes von Fräulein von Hartwig erzählt, wobei bei der durchaus praktischen Mutter Scholz am meisten ins Gewicht fiel, daß »Tante Laura« eine Erbtante war, »Solchen Menschen kann man viel verzeihen,« sagte sie diplomatisch.

Klein-Inge war inzwischen müde und deshalb verdrießlich geworden, sie »knarrte« erst ein wenig und setzte dann mit großer Lungenkraft zu einem Solo ein.

»Bravo,« rief Tante Laura, »Du bist die rechte, echte Hartwig, genau so brüllte dein Vater von Jugend auf und – o Wonne, in deinem unentwickelten Pfropfen von Nase sehe ich bereits den Hartwigschen »Zinken« hervorwachsen, – Deern, weiß Gott, du machst mir Freude – ja schrei nur drauf los, das Hartwigsche Maul hast du auch mit der Devise: »Gut, daß die Ohren da sind, sonst ging's rundum.«

Mutter Scholz setzte alle Manieren eines gut geschulten Dienstboten, der bisher nur in »hochherrschaftlichen« Häusern »gewartet« hatte, außer Acht und drehte tiefbeleidigt der Sprecherin den Rücken zu, diese lachte weiter, und plötzlich fing Felix auch an zu lachen, laut und herzlich, anhaltend und ansteckend, und mit einem Jubelruf drehte sich Tante Laura um und riß ihn in ihre Arme, an ihr Herz. –

»Junge, mein Junge,« rief sie und lachte weiter, während ihr die heißen Tränen über die Wangen liefen, – Sohn meines Herzensjungen, dieses Lachen legitimiert dich – Gott Lob und Dank!«

Felix legte seine Ärmchen um ihren Hals.

»Bleib' bei uns, Mutter Laura,« bat er zärtlich.

Die alte Dame weinte fassungslos.

Es war, als ob alles Leid, das der Vater des Jungen in sieben Jahren ihr zugefügt, und das sie in grimmigem Zorn unterdrückt hatte, sich plötzlich Luft machen wollte.

Dann aber schämte sie sich ihrer Schwäche.

»Mein Lebtag war ich kein hysterischer Jammerlappen,« sagte sie unwirsch und wischte sich energisch die Tränen fort.

»Komm, mein Junge, jetzt bleiben wir zusammen, und heute wollen wir erst mal taufen, damit dein Fräulein Schwester aus dem heidnischen Zustand herauskommt.«

Gisela hatte leise das Zimmer verlassen, niemand achtete auf sie, außer Kerlchen; dem fielen die plötzliche, seltsame Blässe in Giselas Gesicht auf und die grenzenlos traurigen Augen, die ins Leere starrten, beinahe so wie in früheren schrecklichen Zeiten, Nach einer kleinen Weile ging Kerlchen ihr nach, Gisela saß in ihrem Zimmer in Zorn und Weh.

»Geben Sie acht, Kerlchen, – sie nimmt mir die Kinder, sie ist die einzige Verwandte, sie ist gesund, reich – – und ich kann sie nicht wieder hergeben, ich überleb' es nicht. O du, – den sie Herrgott nennen, laß mir diesen einzigen Sonnenstrahl in meinem armen, dunklen, verpfuschten Leben!«

Gisela war wie aus allen Fugen gerissen, und Kerlchen stand zitternd, aber nicht ratlos diesem Verzweiflungssturm gegenüber.

»Wir geben die Kinder einfach nicht,« entgegnete es trotzig-beruhigend, »Hab' ich das Kleinchen nicht beinahe selber »gekriegt«? Es hätt' verhungern können, wenn der liebe Gott und ich nicht da waren und aufpaßten. Nee, – ich geb's nicht her! Und Ihnen hat Herr von Hartwig die Kinder geschenkt, ach und so von ganzem Herzen gern! Ich hab's ja gesehn, ich war ja dabei, als Ihr Brief kam. Na hat Hans von Hartwig zum erstenmal geweint, und das hat ihn gesund gemacht!«

»Plauderkerlchen, Herzenstrost, – – wie bist du gut,« – geh jetzt hinüber – ich komme bald nach.« –

*

Im »Ahnensaal« war der Tauftisch aufgestellt, die Zeugen waren vollständig versammelt.

Es hatte vorher noch einen kleinen Aufschub gegeben, Gisela war etwas verspätet aus ihrem Zimmer gekommen und hatte mit stockender Stimme Fräulein von Hartwig gefragt, ob sie die Patenstelle übernehmen und dem Kinde ihren Namen geben wolle, aber Tante Laura hatte sie erstaunt angesehen und energisch erwidert: »Nein! Laura von Hartwig ist immer ein Stiefkind des Glücks gewesen, abgesehen vom elenden Mammon, der ja immer vorhanden war, aber von der törichten Welt viel zu hoch eingeschätzt wird. Warum wollen wir also den Namen noch einmal aufleben lassen? Gisela-Inge, da steckt der Wert zweier edlen Frauen darin, ihr habt recht gewählt!«

So hielt denn Gisela das Kind dem Pfarrer entgegen, fest hatte sie es ans Herz gedrückt, und zum zweitenmal stieg ihr Gebet in heißem Flehn empor: »Nimm mir das Kind nicht wieder, lieber Gott!«

Auch die Dienerschaft des Schlosses wohnte der heiligen Handlung bei, und mit fast ehrfürchtigen Blicken ruhten Heinrichs Augen auf seiner geliebten Herrin. Nach der Tauffeier schritten alle in die Nebengemächer zurück, nur Gisela ließ sich mit dem Kinde, das sie noch immer aus dem Arme trug, in einen Sessel nieder und sah lange in das kleine Gesichtchen.

Felix blieb auch bei ihr, er schmiegte sich eng an »Schwesterchen« an und umfaßte mit dem andern Arm Giselas Hals. Kerlchen stand stützend und bewachend neben der Gruppe.

Nach einem Weilchen wurde Tante Lauras Stimme im Nebenzimmer laut, und die Tür öffnete sich, »Wo steckt ihr denn,« fragte sie, »der Herr Pfarrer und ich verhungern, und das Kleinvolk soll ins Bett, um ein Mittagsschläfchen zu machen, Holla, ihr seht so ernsthaft aus, was gibt's?«

»Wollen Sie die Kinder fortnehmen aus Altenhof?« fragte Kerlchen an Giselas Stelle ohne weitere Umschweife.

Tante Laura sah sehr betreten aus, dann lachte sie in der ihr eigenen Art kurz auf.

»Ist das Kücken dein Vormund, Gisela?« fragte sie. »Aber einerlei, – das war's also?«

Sie strich mütterlich zärtlich über Giselas Haar.

»Meinst du, ich hätte die Veränderung in deinem Wesen nicht bemerkt? Und zerbrach mir den Kopf – – Darauf wäre ich nicht gekommen. Aber das besprechen wir drinnen beim Glase Wein, beim Taufessen. Kinder, ich bin aus der alten Schule – Essen und Trinken hält Leib und Seel' zusammen, kommt, kommt, kommt, ich bin sogar noch für die guten alten, ehrlichen Leichenschmäuse, und meine alte Marie soll euch was Ordentliches zusammenkochen, wenn ihr mich mal zu Grabe tragt.«

Damit zog sie die Widerstrebenden durch den Saal mit sich ins Eßzimmer.

Frau von Altenhof saß schon auf ihrem Platz, sie sah angegriffen und müde aus, und doch lag ein Schimmer stiller Freude auf ihrem Antlitz, besonders, als sich jetzt Felix von der Gruppe löste und auf sie zueilte.

Fräulein von Hartwig tat dasselbe und setzte sich dicht neben sie.

»Lisbet, Liebste, ich muß dir arg verwunderlich scheinen,« flüsterte Tante Laura, » – und ich kann dir auch sagen, nächstens bin ich zu Ende mit meiner Kraft. Wenn ich mich nicht durch lautes Sprechen und gewaltsamen Humor aufrecht halte, ist's um mich geschehn.«

Frau von Altenhof legte beruhigend ihre Hand auf die der Freundin.

»Ich verstehe dich,« antwortete sie gütig.

»Zu viel ist heut auf mich eingestürmt,« fuhr Fräulein von Hartwig fort, »denn trotz des ausführlichen Briefes vom Leutnant Schlieden überraschte mich doch alles aufs höchste. Sieben Jahre habe ich nichts von Hans gehört, sieben Jahre habe ich in bitterm Groll der Frau geflucht, die ihn umgarnt hatte, und nun ist sie tot, und auf Schritt und Tritt begegnet mir heute ihr Name, nicht nur hier, auch auf der Reise, beim Aufenthalt in Sandkrug – überall wurde er mit Liebe genannt, mit Achtung, mit Ehrfurcht – das hat mich furchtbar zusammengerüttelt. Und nun bin ich hier bei ihren Kindern, und selbst diese zu schützen habt ihr mir verwehrt.

»Laura – nein, nein – nicht so.«

»Laß, Lisbet, – ich weiß, ich kam zu spät, und wenn ich's jetzt noch gut machen will, so breche ich Gisela das Herz. Ich bin eine unnütze alte Person!«

Ihr Gesicht sah in diesem Augenblicke tief bekümmert aus, aber schon im nächsten rief sie mit gänzlich verändertem Ausdruck dem Pfarrer zu:

»Kommen Sie, Mann Gottes, setzen Sie sich neben mich, ich habe wichtige Sachen mit Ihnen zu verhandeln. Aber erst die Suppe und eine Château 1878 er Margaux. – Ik segg Se Herr Paster, disse Win, dat 'sn Kirl, en echten! Prost!«

Der Pfarrer tat lächelnd Bescheid.

Das alte Fräulein gefiel ihm, lhr frisches, geradeehrliches Wesen wirkte befreiend auf ihn, inmitten der düsteren Färbung des Schlosses.

Nach der Suppe räusperte sich Tante Laura stark, als wollte sie zu einer längeren Rede einsetzen, sie schluckte und schluckte, aber es wurde nichts daraus, bis sie plötzlich sehr laut und polternd rief:

»Ne ne, wat schall ik woll mit de Kinners anfangen? De könt ju man beholln. I wo doch, ik ward mi doch nich son Kropptüg upladen, – da kann ik ja noch in ander Lüd Mäuler kamen.«

Über Giselas Gesicht ging ein helles Freuen, ein seliges Leuchten flammte in ihren Augen, dagegen löffelte Fräulein von Hartwig nach ihrer Rede so rasch ihre Suppe aus, als hätte sie tagelang nichts gegessen, und als der Teller leer war, schlug sie auf den Tisch, als hätte sie eine Welt von Widersachern vor sich. –

»Aber tun will ich was, ich gehe nicht so fort von hier, ohne etwas getan zu haben für – für – für das Andenken von Frau Inge Hartwig. Ihr zwei Frauenzimmer seid reich, ich kann euch nichts anbieten zur Bestreitung der Erziehungskosten, aber es gibt manches noch außerdem zu regeln und bedenken. So denke ich, setze ich der Mutter Scholz, die das Kleine sehr zu lieben scheint, eine anständige Summe auch für die Zukunft aus, damit sie immer als alleinige Wärterin hier bleiben kann. Zweitens will ich den Platz um die Grabstelle herum kaufen, auf dem Frau Inge liegt, es soll Hartwigsches Erbbegräbnis werden, und drittens kaufe ich das kleine graue Haus, in dem Frau Inge geschaltet und gewaltet hat und der Sonnenschein meines Neffen Hans gewesen ist. Dieses Haus soll »Ingeheim« heißen und armen alleinstehenden Frauen Unterkunft und außerdem einen jährlichen Zuschuß gewähren. Ich höre, daß z. B. für die Landschullehrerwitwen hier herum schlecht gesorgt ist, – machen wir's fürs erste also zum Lehrerwitwenhaus, wenn es Ihnen so gut dünkt, Herr Pastor. So! – Ich habe vor Zeugen gesprochen, – bringen Sie alles in Richtigkeit!«

Sie lehnte sich erschöpft in ihren Stuhl zurück, niemand sprach, zu mächtig arbeitete es in Kopf und Herz der Zuhörer.

Aber lange konnte Kerlchen das nicht aushalten, es sah mit so leuchtenden Augen im Kreise umher, daß jeder, der es kannte, sich etwas von ihm vermuten konnte, aber jeder war mit sich selbst beschäftigt, bis es endlich sein Weinglas hochhob und mit so schmetternder, jubelnder Stimme »Hurra« rief, daß alle zum Tode erschrocken zusammenfuhren; es war wohl das erste »Hurra« überhaupt, das diese Wände zu hören bekamen.

Der Pfarrer neigte sich zu Fräulein von Hartwig.

»Das Kerlchen spricht nur in seiner urwüchsigen Art aus, was uns allen auf der Zunge liegt, Heil Ihnen, Fräulein von Hartwig, Gott segne Sie für Ihr edles Werk!«

Sein Glas klang an das von Tante Laura, und nun reichten alle ihre Gläser hin, Kerlchen aber sprang auf, lief zu Fräulein von Hartwig hin und küßte in überströmender Dankbarkeit ihre Hände.

»Herr Paster, nu kiken Se de Ogen von de Deern an,« lachte Tante Laura. »Oha min Lütten, ik heww Freud an di. Und daß du son famosen Bruder hast, der mich hierherjagte, wo ich Unrecht gut machen konnte. Und daß du auch noch »Schlieden« heißt!!!

Deern, Deern, ich hab in jungen Jahren einen Leutnant Schlieden gekannt, den kann ich all mein Lebtag nicht vergessen und bin um seinetwillen all den vielen Schliedens gut, die in der Welt herumlaufen. Der stand bei der Feldartillerie damals in meinem kleinen ostpreußischen Nest mit meinem Bruder zusammen, dem er der getreue Eckart war und den er einst vor Schimpf und Schande bewahrte. Meine Mutter und ich schauten wie zu einem Heiligen zu ihm auf, trotzdem auch ich bedeutend älter war als er, und wir verloren ihn eigentlich erst aus den Augen, als er sich verheiratete mit einem blonden Mädchen aus dem Hause Mühlenweg –«

»Meine Mutter,« stammelte Kerlchen und dann in ausbrechendem Jubel: »Und das war mein Väterchen, mein liebes, liebes!!!«

Fräulein von Hartwig sprang auf.

»Wat seggst du doo, du Undäg, du – du – du – wat?«

Sie schüttelte Kerlchen, während die hellen Tränen aus ihren Augen stürzten.

»Segg mi dat noch mol, dat du dat Kind von Ernst Schlieden büst.«

Und als Kerlchen glücklich nickte, da küßte sie es rundum ab.

»Die Welt ist rund, rund ist die Welt!« rief sie mit Stentorstimme. Geben Sie mir Braten, Heinrich, und nehmen Sie den kalten Fisch mit samt dem Teller fort, Donner und Hagel, verzeihen Sie Herr Paster, äwer – wat toveel is, is toveel!«

Wie das Taufessen zu Ende ging, wußte eigentlich niemand so recht zu sagen.

Es bildeten sich lauter Grüppchen.

Frau von Altenhof saß mit dem Pfarrer zusammen und sprach über Bubis Erziehung. Der Pfarrer wollte ihn täglich unterrichten im Verein mit einem hochbegabten Lehrer in Sandkrug und ihn bis zur Tertia eines Gymnasiums vorbereiten. Gisela plauderte mit Felix, der ihr heute neu geschenkt erschien, Mutter Scholz kam mit dem erwachten Kleinchen herein und hörte unter Lachen und Weinen von dem »anständigen Jahresgehalt für alle Zukunft«, das ihr Fräulein von Hartwig ausgesetzt, und fühlte beinahe körperlich die feurigen Kohlen brennen, die Tante Laura auf ihr Haupt gesammelt hatte, denn sie hatte eben erst noch tüchtig in der Küche geschimpft, wo die Vermutung ausgesprochen worden war, die alte Dame werde die Kinder fortnehmen.

Tante Laura aber war von Felicitas unzertrennlich. Nicht genug konnte ihr das Kerlchen erzählen, und soweit sein scharfes Gedächtnis zurückreichte, lag sein Lebenslauf und der des geliebten Vaters klar vor den Augen der gespannt Lauschenden.

Mit beinahe verklärten Blicken sah Fräulein von Hartwig auf die Plaudernde, denn Kerlchen war ja nun so recht in seinem Fahrwasser, die ganze sonnige Kinderzeit, das Walten der zarten, feingebildeten Mutter, die Freundschaft mit dem prächtigen, hochgemuten Prinzen Li, des sonnigen Erichs liebevolle Zärtlichkeit und dann die grenzenlose Liebe und Verehrung für den so früh dahingeschiedenen Vater, alles durchflutete heute mehr denn je sein Herz, das sich plötzlich auftun durfte vor einer verständnisinnigen Seele.

»Mien Lüttenlütten, mien Deern, mien Terle – Terle,« flüsterten zärtlich die Lippen der alten Dame.

»Oha, oha, wat bün ik froh, dat ik di hüt seggen kann, ik bün ne ole Jungfer blewen, wil dat ik den Ernst Schlieden ni harr kregen kunn, un es gew ok inne ganze Welt ni noch so eenen.«

Dann folgte Tante Laura dem Kerlchen in sein Zimmer, und hier stand sie lange vor dem Bilde von Keilchens Väterchen und ließ sich alle anderen Bilder zeigen, beaugenscheinigte auch das von Fritz von Rumohr, das im unscheinbarsten Winkel eines mächtigen Familienalbums versteckt war, mit allergrößtem Interesse und erzählte Kerlchen, daß sie eine gute Freundin seiner Großmutter, der alten Frau Heinke Tönningsen droben in der Marsch sei, und »dat de Fritz en ganzen Kirl, äwer ok en verdeuwelter, hochnäsiger Knopp wier, sunst hätt he dat Geld annehmen müßt, womit ik em de Schull'n vun sien Vadder betahlen wull.«

Dann ging Kerlchen wieder zu den andern zurück, und Fräulein von Hartwig blieb allein in Kerlchens Stübchen, »um sik de Ogen to warmen, un sik 'n beten inwenni to beseihn, danen – wat to veel is, is to veel.«

Als Tante Laura abends wieder bei ihnen erschien, da merkten alle, daß sie »'ne Id«« hätte, die in ihrem Kopfe heillos rumorte und keine Ruhe hatte, bis sie einen Ausweg fand. »Kinder,« rief sie, »nehmt mal erst alle eure Dankesbezeugungen von heute Mittag wieder zurück, die drücken mich stark, und ich kann so was nicht vertragen, denn – – mi is dat all weder leid worn.«

Nie Anwesenden sahen die alte Dame schier entsetzt an. Was sollte das heißen?

»Nee, nee, so ist das nicht gemeint,« beruhigte Tante Laura, die Kinder bleiben hier; und alles, was ich dem Herrn Pastor gesagt, hat seine Richtigkeit, aber ich will nicht für edel und gut und selbstlos gelten, wenn ich doch meine egoistischen Hintergedanken dabei habe. Und die hab' ich, da oben hab' ich sie gekriegt, in Kerlchens Stübchen.

»Gewt mi de Deern!« bat sie plötzlich in flehenden Lauten und streckte beide Hände nach Frau von Altenhof aus, »laßt mir das Kerlchen!« Und als die andern sie tief erschrocken ansahn, fuhr sie bittend fort:

»Ik bruk jo keen Stütz, davor is jo mien ol Marie dor, awer ik bruk son lütten Reiseunkel, denn ik bün trotz minen Öller, und trotz der veelen Reisen doch man 'n dämlichen Bruder, de nix wie Dummheiten macht un denn verturn ik mi mit de Schaffners un de Putschees un de Kutschers, nee, nee, ik wull de Deern hewwen!«

»Aber Laura – – –!«

»Nee, nee, swig man still, ich möt de Deern hewwen! Dor sitt ik so alleen in Mölln in dat Nest mang luter Philisters un mien einzigst Freud heww ik des Sünndags, denn gah ik to Kark un up 'n Rückweg, da lat ik mi vun Köster de ole Rüstung vun Till Uhlenspeigel wisen, denn dat 's 'n Ort Ideal vun mi, un dann gah ik to sin Graww. Äwer nu heww ik düssen lütten, nüdlichen lebennigen Till Uhlenspeigel kennen liehrt un will em beholen – na – warum antwortet ihr nicht, Donner und Hagel!«

Ganz totenstill war's im Zimmer.

Kerlchen sah die Altenhofer an, und diese wiederum das Kerlchen, die widerstreitendsten Gefühle bewegten sie.

Frau von Altenhof ging auf Kerlchen zu und umfaßte es innig.

»Kerlchen! Mir ist, als sollte ich »nein« sagen, als ginge der Sonnenschein dann fort aus Altenhof, den wir eben hierher gebannt haben, – – aber ich möchte nicht selbstsüchtig sein. Nun – und was sagt das Kerlchen?«

Felicitas machte ein ganz verängstigtes Gesicht.

»Ich weiß es nicht, o ich weiß es nicht,« sagte sie und trat vor Aufregung von einem Fuß auf den andern – – »o wenn doch jetzt mein Väterchen da wär' und mir sagte: »Das sollst du tun!!!«

»Na dat wüßt ik, wat de seggen würd!« fiel Fräulein von Hartwig mit großer Bestimmtheit ein.

»De würd seggen: »Gah du man mit de Olsch, mien Döchting, gah du man, dats ne ole verlatne Fru un wenn dat Schicksal ni anners besloten hett, denn haar ja dat ok den Moder warden kunn, sühst du, mien Döchting!«

Kerlchen lachte befreit auf und streckte ihr die Hand hin.

»Bestimmen Sie alle ganz über mich,« antwortete es einfach, »ich bin da am liebsten, wo ich am nötigsten bin.«

»Aber, aber –« fiel Frau von Altenhof ein und Gisela sekundierte:

»Wenn, wenn nun – – – –«

»Mit die »Abers« und Wenns« bliwwt mi von Liew,« fuhr Tante Laura auf. »Wenn, wenn, wenn, jawul, wenn min Großmudder veer Räder hätt und wenn ik se gel anstriken laten wull, denn wier se 'ne Postkutsch! Nee, da is nu blot noch een eenzigste Frag to erledigen: »Hest du 'n Schatz, Kerlchen?«

Nur einen Augenblick blitzten Kerlchens Augen zu Tante Laura hinüber, dann war es auch schon verschwunden, und nur der harte Klapp der zuschlagenden Tür gab den Zurückbleibenden eine unhöfliche Antwort.

»Wat het denn de Deern?« fragte Fräulein von Hartwig verblüfft.

Frau von Altenhof lachte.

»Mußtest du auch gerade das fragen, Laura! Unser Kerlchen ist scheu wie ein Eichhörnchen und ein liebes, reines Kind dazu, – ich glaub', sie ist ein unbeschriebenes Blatt.«

Tante Laura zuckte die Achseln.

»Unbeschriewene Bläder weern mi all mol, äwer wie licht kümmt son Kirl und kliert da wat up. Äwer – – wenn Ii nix markt hebbt – – denn stimmt dat ok, denn Falsch is an de Deern ok nich en Happen, ik bün Minschenkenner, Dunner un Hagel!«

Als Kerlchen nach einer halben Stunde wieder auf der Bildfläche erschien, da küßte Frau von Altenhof es herzlich.

»Kindchen, gehn Sie mit Gott zu unserer alten Freundin, wir haben es als das Beste eingesehen, aber Altenhof bleibt immer ein wenig Ihre Heimat, gelt? Was Sie uns waren in all der Zeit – – – –,« ihre Stimme brach in Weichheit.

»Jawoll,« polterte Tante Laura, »daran mötst du denken, wat du disse fremde Lüd wesen büst, un mi? Gornix, – ok ni en Happen.«

Sie tat ordentlich beleidigt.

»Un denn, eins möt ik di seggen. Dat »Türzuschlagen« dat mötst du di afgewöhnen, ni wohr, min Deern? Is 'ne dumme Mod. Un wenn alle Mätens de Dür tosmiten wulln, wenn man se nah ihren Schatz frög, denn gew dat en Klappen in de Welt, dat all de Kalk vun alle Hüs' vun den Bähn full. Und dann muß ich dir noch eins sagen, Kerlchen! Wenn, ich sage wenn mal einer kommen sollte, der – na, du, weißt schon, – dann komm' mit Vertrauen zu mir, mit rechtem schönen Vertrauen und sag mir alles, alles, – – – –, denn kann ik em jo immer noch de Knochens in Liew kaput slahn, dat he dat Wiederkommen vergeten deiht!«

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