Felicitas Rose
Kerlchen als Anstandsdame
Felicitas Rose

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Und nun No. 5 von dem allzu Besorgten selbst, der meine Sippe rebellisch gemacht:

Allerwertestes Fräulein Kerlchen!

Wenn ich nicht einen so tüchtigen Kompangschon hätte in meinem Herrn Neffen Bär, denselben Sie schon aus der Tanzstunde kennen, könnte ich natürlich nicht so über die Maßen Briefwechseln, als ich das in den letzten Tagen vermocht habe. Jetzt bin ich so in die Übung gekommen, daß ich mich reineweg als Schriftsteller fühle, nur mit dem Unterschied, daß meine Schriftstellerei Porto kostet und die andern von der Zunft dagegen haariges Geld verdienen.

Die Hauptsache war mich aber, Angst zu machen und das ist mich denn hoffentlich auch gelungen.

Keine ruhige Stunde habe ich noch nicht gehabt, seitdem daß Sie in dem gottverlassenen Schlosse Altenhof sitzen, wo das doch meiner Seel kein Aufenthalt für unser unschuldiges, herzerquickendes Kerlchen ist und ich habe gesammelte Urteilskraft darin, denn ich habe selber auch mal Jungvieh in das Schloß geliefert.

Mich überläuft's jetzt noch mit einer Gänsehaut, trotzdem ich mich nie in meinem Leben mit diesem Geflügel, sondern nur mit Ochsen abgegeben habe, wenn ich an die Zeit, an die paar elenden Tage denke, die ich in Altenhof verlebte.

So ganz be–a–be schlenderte ich damals im Parke umher, weil ich niemand zum Redestehen fand, und da saß in einer Feranda ein arg verkrüppeltes Mädchen oder Kind, das ich sanftmütig ansprach.

Aber da schrie sie greulich auf, kratzte mir beinahe die Augen aus und lief voll Entsetzen weg, als wenn ich die Kollern im Leibe hätte, dabei rief sie egal: »zu Hilfe, ein Mann, ein Mann!« Na, ich retirirte denn auch geschwind bis ans andere Ende des Parkes und da traf ich wieder eine Dame, schwarz vom Kopf bis zu den Füßen angezogen, die sah mich auch stumm und starr an, als wenn mein Dasein 'was Unerhörtes wäre, und wie ich mit ihr reden will, winkt sie mir streng ab und geht ohne Gruß an mich vorbei ins Schloß. Wie ich nun noch ganz verbast dastehe, kommt eine dritte Frauensperson, was wie 'ne Dienerin aussah, legt den Finger auf den Mund, was so viel hieß, daß ich's Maul halten sollte und führt mich stumm dahin, wo ich gekommen, nämlich ins Dorfwirtshaus, wo mein Vieh auf mich wartete und mich freudig begrüßte. Und hier wurde auch der Kauf perfekt gemacht, denn ins Schloß durfte ich nicht, weil da keine Mannsleute gelitten werden.

Nun bitt' ich Sie!

Aber das macht mir nicht die schwärzesten und trübsten Gedanken, wenn es mich auch furchtbar wurmt, daß Fräulein Kerlchen in Ihre schönsten Jahre keinen Mann sehen soll wo Sie doch so gut und lieb und brav sind, daß man Sie vom Fleck weg heiraten möchte, wenn man kein alter Mann und Freund und Schlächtermeister wäre.

Sondern die meiste Angst machte mich, daß alle, die ich damals nach die Verhältnisse von die beiden Namens fragte auf die Stirn tippten – – verrückt, – totalitter übergeschnappt!!! Na, ich fuhr denn schnell heime zu meine Frau und jetzt, – wie die Nachricht kommt, Fräulein Kerlchen sind als Stütze in Altenhof, herrjeh, ich denk' doch, mich laust, mit Respekt zu sagen, der Affe. Und nun bitt' ich um tausend Gottes willen Ihnen, mein liebes, gutes hochwohlgeborenes Fräulein Kerlchen, daß Sie sich mit Herz und Lunge und Magen und Leber und Nieren in Acht nehmen, vor allen aber mit's Gemüt, daß Ihnen da kein Schade nicht geschieht und zu aller Zeit und jeder Stunde steht Ihnen mein Haus offen (bloß zwischen 10 Uhr nachts und früh sieber, kommen jetzt keine Züge in Schwarzhausen an), und sollens nicht verschmähen, denn ich kann's nicht verantworten, wenn ich mal in der Ewigkeit vor Ihren Herrn Vater stehe und er fragt mir:

»Was ist mit meinem Kerlchen geschehen?«

Und ich hoffe, meine geehrten Schreiben haben auch alle Ihre Verwandten mobil gemacht, daß sie besser Acht geben auf das kostbare Perlchen in ihner Stammbaumkrone.

Leben Sie immer wohl und beruhigen Sie mir. Meine Frau und mein neveu grüßen Ihnen und ängstigen sich auch mit Hochachtung gleich wie

Ihr Freund Krone.

P. S. Morgen wird geschlachtet.

*

Das war eine Anstrengung, ehe ich alle meine Lieben wieder beruhigt hatte.

Nun war's wieder ganz gut, daß ich wenig hier zu tun habe; bei Käfermanns wäre es mir nicht möglich gewesen, so viel zu schreiben, und ich hätte gewärtig sein müssen, daß mir mein Schlächterfreund persönlich über den Hals kam. So ging der Sturm nochmals vorüber, und ich lebte mich immer mehr ein, besonders, da ich Wera zur Seite hatte. Täglich ritten wir aus, das war das Allerschönste. Ein Reitkleid besaß ich natürlich nicht, aber einen alten Turnanzug, kurzen Rock und darunter die Bux', und Wera bat und flehte so lange, bis Frau von Altenhof es wenigstens erlaubte, daß ich »einmal« in diesem »Aufzuge« Wera begleiten durfte. Es wurde aber sofort nach Buchenwalde geschrieben, damit meine Muusch mir ihr Reisekleid schickte.

Wera beteuerte, daß uns niemand auf dem Wege begegnen würde, außerdem ritt Heinrich auf einem alten, biederen Braunen in angemessener Entfernung stolz und steif hinter uns her, daß jedermann, der uns Mädels lachend und Tollheiten treibend gesehen hätte, ihn für die Anstandsdame gehalten hätte.

Fromm waren unsere beiden Gäule auch, die Baronin wäre gestorben, wenn sie uns auf »wilden« gewußt hätte.

Trotz Weras Schwur, daß uns niemand begegnen würde, lernte ich auf diesem Ausflug Weras Verlobten kennen.

Wir waren scharf zugetrabt, die klare Winterluft hatte uns heiße, rote Backen angeblasen, vergeblich suchte uns Heinrich schon ein paar Mal zum Umkehren zu bewegen, er hatte ja seine »gemessenen Befehle« von der Baronin, die aber immer wieder durch Weras: »Seien Sie kein Frosch, Heinrich, wir reiten weiter«, durchkreuzt wurden. Schließlich hatten wir uns elend verritten, Wera kannte das Gelände nicht mehr, behauptete aber kleinlaut, »dahinten irgendwo« müsse Groß-Rhoda liegen. Als ich sie scharf ansah, wurde sie rot und murmelte dann irgend etwas vor sich hin, das so klang wie:

»Unverlobte Menschenkinder hätten überhaupt kein Verständnis und könnten ruhig das Maul halten.«

Na, ich hielt es ja auch.

»Hinter jenem Berg muß unser Kirchturm liegen,« rief sie dann. (Wenn Wera von Groß-Rhoda redet, sagt sie immer » unser«, sie sieht sich schon ganz als Gutsherrin dort.)

»Tingsleben« liegt dort, gnädiges Fräulein, »es ist der Tingslebener Hügel,« rief Heinrich.

Die beiden stritten sich regelrecht, und ich sprang derweile ab. »Was wollen wir gleich haben,« entgegnete ich fröhlich, reichte Heinrich meine Zügel und fing an, kühn die Buche zu erklimmen, die in unserer nächsten Nähe weit und mächtig ihre starken Zweige reckte.

»Eichhörnchen,« schrie Wera begeistert, »du bist ein Teufelskerl!«

Hoch oben saß ich, weit über alle Berge konnte ich schauen, aber natürlich hatte Wera unrecht, nichts war vor uns zu sehen, was auch nur im entferntesten dem Kirchturm von Groß-Rhoda glich. Eben hatte ich ihnen das Ergebnis meiner Bemühungen heruntergeschrien, als ich Pferdegetrappel hörte und gleich drauf den überseligen Ruf:

»Ernst!« und

»Wera! Wo kommst du her?«

Hastig kletterte ich baumabwärts. Wera war mit Hilfe ihres Verlobten abgestiegen und schmiegte sich an ihn; ein jüngerer, bartloser Mann stand neben ihnen und sprach eifrig und laut mit heller Knabenstimme.

»Etwas vergaloppiert haben wir uns,« lachte Wera, und – – sie sah zärtlich zu ihrem Verlobten auf, – ich wollte wenigstens mal unsern Kirchturm sehen!«

Herr von Rhoda küßte sie mit einem Jubelruf.

»Ich schelte ja auch gar nicht mit dir, mein Werchen, – aber, aber, was würde Tante Aurelia sagen!«

»Garnichts kann sie sagen,« rief Wera eifrig, »ich bin ja mit meiner Anstandsdame hier!«

»O Himmel,« rief sie gleich drauf und besann sich augenscheinlich jetzt erst auf mich, während ihr Verlobter verblüfft fragte: »Deine Anstandsdame? Wo ist sie denn?«

»Hier hängt sie!« schrie ich vom Baum hinunter, wo ich rittlings auf einem Zweige saß, denn mein Rock hatte sich in ein spitzes Ästlein verheddert und ich mußte mit Geduld versuchen, ihn loszukriegen.

Mein Anblick muß von unten aus mehr als sonderbar gewesen sein, denn Wera lachte unbändig, der junge Mann auch, während Herr von Rhoda viel zu verblüfft dazu war und Heinrich mich direkt mißbilligend betrachtete.

Endlich siegte die Tugend, mein Rock ließ los, der Ast auch, und ich sprang in kühnem Bogen auf die Erde.

Das war eine lustige Vorstellung. Ich machte nochmals einen kläglichen Versuch, mein Gesicht in ernste Anstaltsfalten zu legen, aber Herr von Rhoda gab selbst das Zeichen zum fröhlichen Loslachen, und da genierte ich mich nicht länger.

»Erni, ich bitte dich bloß himmelhoch, erzähle Tante Aurelia nichts davon,« flehte Wera, »du mußt sie in dem süßen Wahne lassen, als hätte ich endlich eine waschechte Anstandsdame bekommen, wir haben da einen Plan, o verdirb' ihn uns nicht, sonst muß Kerlchen fort!«

»Kerlchen?«

»Ja, so heißt sie! Stimmt es nicht? Ist es nicht goldig?«

Herr von Rhoda schüttelte mir kräftig die Hand, und sein gutes, männliches Gesicht mit den hellen Augen und dem blonden, starken Bart nickte mir freundlich zu.

Der Fähnrich Heinz von Rhoda aber sah mich so strahlend an, daß ich ärgerlich und erschrocken fortguckte, besonders da Wera mir zuraunte: »Weeß Kneppchen, er hat schon Feuer gefangen.«

Nun ritten wir alle fröhlich zurück, Heinz und ich voraus, das Brautpaar hinter uns, und Heinrich machte den würdigen Beschluß. Das Brautpaar nahm sich Zeit, es sah sich viel in die Augen und plauderte unablässig. Heinz und ich ritten etwas schärfer vorwärts: »Sie reiten wie Diana selbst,« rief mir der Fähnrich schwärmerisch zu, aber ich meinte, etwas besser ging ich doch im Zeuge, als die Jagdgöttin, die ich reichlich unbekleidet aus den Bildergalerien kannte.

In übermütigster Laune langten wir alle schließlich in Altenhof an. Ich kannte schon den ganzen Lebenslauf von Heinz von Rhoda, ja ich kannte sogar seine »Flammen« sämtlich und auch sein flatterhaftes Gemüt; denn als wir abstiegen, flüsterte er mir beteuernd zu: »Es waren keine Flammen, es waren nur Ölfunzeln, denn jetzt erst durchglüht eine Flamme wahrhaft mein Inneres – o – Fräulein Felicitas!«

»Legen Sie es einstweilen dorthin,« entgegnete ich ihm und meinte natürlich Sattel und Zaumzeug damit, das er meinem Pferde abgenommen hatte. Ich merkte erst viel später am Frühstückstisch, daß ich ihn mit irgend etwas elend vor den Kopf gestoßen hatte.

Wir vier jungen Menschenkinder tafelten allein. Frau von Altenhof hatte Weras Verlobten nur gemessen freundlich begrüßt, sich auch zuerst bei uns niedergelassen, aber Weras ganz und gar übermütige Fröhlichkeit verscheuchte sie bald wieder. Ehe sie sich zurückzog, schlang Wera ihre Arme liebevoll um ihren Hals.

»Tanteli, ich bin so unsäglich froh, daß ich ihn endlich einmal wieder hab',« sagte sie innig, »aber wenn du willst, verhalte ich mich ganz sittsam, nur bleib' bei uns, Tanteli!«

Frau von Altenhof sah garnicht bös aus, ganz liebevoll guckte sie das Werchen an, aus dessen holdem Gesichtchen so viel Glück strahlte.

»Ich will zu Gisela,« sagte sie einfach und setzte beinahe schelmisch hinzu, wie man es noch nie an ihr gesehen hatte:

»Ihr habt ja jetzt Eure Anstandsdame!«

»Was hast du nur mit deiner Tante angefangen, Werchen?« fragte Herr von Rhoda erstaunt, »sie ist ja kaum wiederzuerkennen?«

»Da bin ich nicht dran schuld, das hat alles das Kerlchen gemacht,« rief Wera, und dann gab sie so eine begeisterte Schilderung meines Wirkens in Schloß Altenhof, daß ich ihr immer abwinken mußte, denn sie übertreibt im Guten noch viel toller, als im Schlechten.

»Item, ich hab das Kerlchen lieb!« schloß Wera.

»Das freut mich!« Herr von Rhoda reichte mir seine Hand herüber. »Mein Werchen ist trotz seiner Jugend ein unbewußter Menschenkenner, ich hab mich schon oft auf ihr Urteil verlassen können.«

»Na, da kannst du erst was an Kerlchen erleben,« triumphierte Wera, »das ist das reine Thermometerchen! Wenn dem ein unsympathischer Mensch entgegentritt, wird es eiskalt vom Kopf bis zur Zeh und kriegt 'ne Gänsehaut, als war' es wirklich 'ne – – – –«

»Stopp, Vera! Na und wie wurde Ihnen denn zu Mut, als ich Ihnen so wildfremd gegenüberstand,« fragte Herr von Rhoda lustig.

»Mörderlich heiß,« rief ich rasch, um ihm etwas recht Gutes zu sagen, aber das Brautpaar wollte sich totlachen über meinen Ausspruch.

Nur der Fähnrich Heinz, war »steinerner Gast«. Er zog und drehte an seinem mehr als mangelhaften Schnurrbart. Daß es überhaupt einer sein sollte, entnahm ich aus dem alten guten Ratschlag, den Wera für dieses Möbel erteilte: »Außen Honig und innen Taubenmist!«

Plötzlich fuhr Wera mit einem Schreckensruf unter den Tisch.

»Was hast du?« fragte ihr Verlobter erstaunt, während wir andern beiden aufsprangen.

»Heinz ist ein Barthaar heruntergefallen,« rief sie dumpf, »o Himmel, welche Lücke wird es reißen. Aber sei nur ruhig, Heinzelmännchen, ich such' es dir, ich such' es dir!«

Sie krabbelte noch eine Weile auf dem Fußboden umher und dann sah ihr Schelmengesicht bedauernd in das zornige des jungen Schwagers.

»Nix gefunden, Heinz, wenigstens jetzt nicht, aber ich schick' dir's noch per Fracht, armer Kerl, – so gleich die Hälfte des schönsten Schmuckes einbüßen zu müssen!«

Wenn Blicke töten könnten, hätten wir jetzt von Rechts wegen lang hinschlagen müssen, ich strich schnell ein appetitliches Kaviarbrötchen zurecht, legte ein Stückchen Zitrone drauf und reichte es Heinz, bereute es aber schon im nächsten Augenblicke, denn er schnappte gleich zu und sah mich selig an.

»Er frißt aus der Hand,« behauptete Wera, und dann hoben wir die Tafel auf.

*

Der Abend gehörte mir allein. Frau von Altenhof hatte am Nachmittag anspannen lassen und zum erstenmal selbst das Brautpaar nach Groß-Rhoda begleitet, um sich nach Tante Aureliens Befinden zu erkundigen. Diese wohnte immer ein Vierteljahr dort, während sie die übrigen drei Viertel des Jahres in ihrem Stift in G. zubrachte.

Sie sollte dreihundertundfünfundsechzig Krankheiten »in und am Leibe« haben, behauptete Wera, wenigstens hätte sie jeden Tag 'ne andere, und nun wollte Wera ihr von der Anstandsdame ein wenig »vorsohlen«.

Es war recht einsam für mich, als alle fortfuhren. Ich setzte mich zum Schreiben in mein Zimmer nieder und beschloß, frühzeitig ins Bett zu gehen.

Plötzlich öffnete sich lautlos die Tür, und die verkrüppelte Gestalt Giselas von Altenhof huschte zu mir herein. Ich erschrak heftig, aber sie nahm meine beiden Hände.

»Ich kann nicht schlafen,« jammerte sie. »Und ich bin so allein, ich möchte ein bißchen bei Ihnen bleiben, und Sie sollen mir etwas erzählen, ich mag Sie gern. Sie sind klug und denken vornehm, Sie sind nicht neugierig und schwatzhaft wie andere kleine Schulmädchen. Und Sie sollen mir die trüben Gedanken verscheuchen. Immer wenn der »Bräutigam« dagewesen ist, werde ich die Vorstellung nicht los, daß, die arme Wera bald ebenso unglücklich werden muß wie ich. Ach, hören Sie nicht auf mich, ich! schwatze törichtes Zeug. »Himmel, wie behaglich,« rief sie dann und schaute sich bei mir rings um. »Man kennt ja die alte Rumpelkammer garnicht wieder. Und da der alte Schreibtisch von Mama! Wie nett haben Sie den gestellt und so hübsch als Bücherschrank benutzt. Sind das Ihre Lieblinge? Schnell lassen Sie sehen. »Sage mir, was du liest, und ich will dir sagen, wer du bist.«

Gisela sah sich jedes Buch an und las laut die Namen darauf: »Schiller«, »Lessing«, »Uhland«, »Shakespeare«, »Reuter«, »Stifter«, »Körner«, »Scheffel«, »Quickborn von Klaus Groth«, »Das Heideprinzeßchen von Marlitt«, »Heidi von Spyri«, »Deutsche Jugend von Lohmeyer«, »Schiller-Palleske«, »Die Fernhäfen des Weltverkehrs«, »Zeitschriften für Turf und Sport«, »Das Pferd, seine Zucht und Pflege«.

»Eine anschauliche Sammlung,« lachte sie, »aber nun sagen Sie mir auch, was Sie am liebsten davon haben und was Sie am besten verstehen.«

»Die hab' ich alle am liebsten und verstehe auch alle.«

»So? Ich dachte, Shakespeare wäre reichlich derb für so ein noli me tangere, wie Sie es sind.«

»Das weiß ich nicht. Mein Väterchen sprach auch so ähnlich wie Shakespeare; da kamen auch manchmal Wörter vor, die nicht schön waren, und meine Muusch war immer außer sich, aber Papa sagte: »Das wäre ehrliches Deutsch.«

»Immer und immer dieses Väterchen!« sagte Gisela gereizt. »Ich kann es nicht hören, wenn Sie mit einem Manne solche Abgötterei treiben.«

»O sprechen Sie doch nicht so,« bat ich, »es tut mir weh!«

»So? Tut Ihnen das schon weh? Aber schmerzt es Sie nicht viel mehr, daß Sie unter fremden Menschen Ihr Brot verdienen müssen, was Sie nicht brauchten, wenn der Herr Oberst besser für Sie gesorgt hätte. O, ich kenne die Leichtfertigkeit, mit der die Offiziere – –«

»Schweigen Sie,« rief ich außer mir, »schweigen Sie, oder ich weise Sie aus meiner Stube hinaus, jawohl, das tue ich!« – – – –

»Ruhig, um Gotteswillen,« rief Gisela erschreckt aus, »wenn man Sie weinen hört, dann muß ich aus Ihrem Zimmer, ach und ich fürchte mich so vor der Einsamkeit.«

Sie sah so krank und traurig aus mit einem Male, daß ich mich sofort besann. Ja, ich schämte mich, weil ich vergessen hatte, daß es eine Kranke war, mit der ich sprach.

Gisela setzte sich auf die niedrige Ruhebank neben meinem Schreibtisch und zog mich neben sich nieder, dann streichelte sie meine eiskalten Hände.

»Wer wird so aus allen Fugen fahren – – so ein dummes, ein dummes! Gott im Himmel, sparen Sie Ihre Tränen für die Zukunft, wenn all das über Sie hereinbricht, was ich durchgemacht habe – – – Hören Sie, wie der Sturm um unser Schloß saust, – jetzt will ich Ihnen eine Geschichte erzählen, – gerade jetzt!«

Ja, ich hörte es, wie Eissplitter und Schnee an die Fenster schlugen, wie es im Kamin fauchte und auflohte, als wären alle bösen Geister der Nacht losgelassen.

Ich sah Gisela an, sah mit Angst und Trauer ihr blasses Gesicht, auf dem rote Flecke brannten, und ihre fiebernden Augen.

»Wollen wir nicht lieber schlafen gehen,« fragte ich und suchte meine Hand aus der ihrigen zu lösen, aber sie hielt mich wie in einem Schraubstock fest, und ich merkte wohl, daß sie gar nicht auf mich hörte.

So blieb ich still neben ihr sitzen, denn draußen ging der alte Diener auf und nieder, ich hörte seine Schritte, er trat wohl etwas fester auf, um mich zu beruhigen.

Gisela sah mich nicht an, sie schaute geradeaus, als spräche sie zu der Flamme, die im Kamin loderte.

»Ich bin in diesem Schlosse geboren,« erzählte sie, und die alte Nora saß an meiner Wiege und sang mir die Lieder, die sie dem Sturme abgelauscht hatte. Nie hat sich ein anderes Gesicht als das ihrige über mein kleines Bett gebeugt, denn meine Mutter trugen sie auf den Kirchhof, als ich kaum ein paar Tage geatmet hatte.

Unter dem rohen Regimente meines Bruders, dem der Krüppel überall im Wege war, habe ich meine eigentliche Jugend verbracht. Dann heiratete er Lisbet von Dornau, die Tochter unseres Gutsnachbarn, an der ich mit schwärmerischer Zärtlichkeit hing. Sie war klug, gut und schön; – erst viel später vertraute sie mir in qualvoller Stunde an, weshalb sie den häßlichen Menschen, meinen Bruder, geheiratet habe, er hatte sie bei einem Trinkgelage ihrem bankerotten Vater abgekauft. Der einzige, gebildete Mann, den wir zum Umgang hatten, war Dr. Gieseke aus Sandkrug, aber auch er betrog uns. Lisbets Sonnenschein, ihr heranblühendes Töchterchen, verunglückte auf einem Spazierritt, Dr. Gieseke, der gerufen wurde, kam angeheitert von einer Hochzeit, sah in seinem Zustand das Kind kaum an, und so starb es noch in derselben Nacht. Lisbet selbst hat es gar nicht mehr lebend gesehen, sie lag damals am Typhus schwer darnieder. So verging in Leid und Gram die Zeit, aber dann kam ein Tag, ein sonniger, goldiger Herbsttag, der mir mit einem Schlage meine Jugend wiedergab, meinen Frohsinn, alles wiedergab, was gut und schön war.

Er kam zum erstenmal in unser Haus, Hans von Hartwig.

Sechs Offiziere hatten eine Generalstabsreise unternommen, und mein Bruder bat die Herren, seine Gäste zu sein für die Zeit, da sie in unserm Gelände zu tun hatten.

Hartwig erschien mir wie ein Geschöpf aus einer andern Welt.

Hoch und groß gewachsen, mit einem idealschönen Kopf, glich er den Helden sämtlicher Bücher, die ich in meiner weltabgeschiedenen Einsamkeit verschlungen hatte, und sein Äußeres stach so sehr von dem seiner Begleiter, vor allen Dingen aber von der häßlichen Zwergengestalt meines Bruders ab, daß ich mich gar nicht verwunderte, als mir erzählt wurde, Hartwig sei auch von seinen Vorgesetzten zu hohen Dingen ausersehen, als der klügste Kopf, der beste Charakter unter all seinen Kameraden.

Andern Tags wurde eine große Jagd veranstaltet, von welcher mein Bruder uns tot ins Haus getragen wurde; wie es hieß, habe sich sein Gewehr beim Überspringen eines Grabens selbst entladen.

Für Lisbet und mich war sein Tod eine Erlösung, es war, als sollte nun ein neues Leben seinen Einzug in unser altes Schloß halten. Für mich begann auch ein neues Dasein, Hartwig war ja bei uns, er bot uns seine Dienste an bei den vielen geschäftlichen Angelegenheiten, die mit so einem Todesfall Hand in Hand gehen. – Als er wieder nach Berlin zurückkehrte, schrieben wir uns täglich, und seinen Urlaub verbrachte er wieder bei uns. Er verehrte »Mama Lisbet«, wie er meine Schwägerin nannte, und mich hatte er lieb, trotz meines verkrüppelten Körpers, trotz meines unschönen Gesichtes, er hatte meine Seele lieb und meinen klugen Kopf.

Hundertmal hat er mir das gesagt, als ich seine glückselige Braut war und mit ihm arbeitete, mit ihm las und schrieb, stunden-, tagelang, ohne zu ermüden.

Wir waren ein seltsames Brautpaar. Wie zwei gute Kameraden gingen wir nebeneinander her: ich zu scheu, um ihm zu zeigen, daß ich ihn vergötterte, und er ziemlich wortkarg, ernst und verschlossen, ganz aufgehend in Arbeit und Beruf. Aber wir hatten uns lieb, und ich dachte im Wachen und im Traum nur noch an die Zeit, wo ich ihm ganz gehören würde.

Dann wollte er Urlaub nehmen und weite Reisen mit mir machen, Studienreisen, ein Jahr lang, oder länger, und ich war glücklich, daß mein Reichtum uns unbedenklich alles erlauben würde. Mein Reichtum! Wie wenig hatte ich bisher davon gehabt und auf ihn geachtet! Ja, er war mir eher als etwas Häßliches erschienen, weil er an dem Unglück meiner Lisbet mit schuld war.

Mit Hartwig sprach ich niemals über die Geldfrage. Ich wußte, daß er mit Leih und Seele Soldat war und daß er kein armes Mädchen heiraten konnte, ich freute mich, daß ich doch auch noch etwas einsetzen konnte seinen großen innerlichen und äußerlichen Vorzügen gegenüber, und sei's auch nur den schnöden Mammon, der doch dem Geliebten so viel Schönes verschaffen würde.

So sorgte ich für meine Aussteuer, und die Hochzeit sollte nach einer längeren Dienstreise meines Verlobten ganz still hier in Schloß Altenhof stattfinden.

Ich schrieb ihm glückerfüllte Briefe nach dem kleinen Dörfchen, in dem er sich einquartiert hatte, um eine größere Arbeit zu vollenden und er schrieb mir ruhige, sachliche Episteln wieder, die aber doch auch manch' zärtliches Wort enthielten. Dann verzögerten sich seine Antwortschreiben, wie sich auch seine Heimreise ungebührlich verzögerte, sie blieben endlich ganz aus, bis jener furchtbare Brief kam, jener Schrei von ihm: »Gib mich frei!« Von ihm, dem ich so grenzenlos vertraute!

Ich bin keine stille, entsagungsvolle Natur: ich weinte und tobte und klammerte mich an ihn, an sein Wort, das er mir verpfändet, – ich hätte ihn nie freigegeben, nie, und würde heute vielleicht sein Weib sein. Aber ich wurde krank, und während meiner Fieberphantasien schrieb Lisbet an ihn: »Sie find frei!«

Tausendmal habe ich sie dafür geschmäht und ihn verflucht, daß er das Opfer annahm, ach und tausendmal habe ich mir den Tod gewünscht, aber der holt nicht die an Leib und Seele Verkrüppelten, der nimmt nur die Gesunden, Starken, Unentbehrlichen, um die Lücken recht grausam empfindlich zu machen.

Was aus Hartwig geworden ist, weiß ich nicht, ich habe in gesunden Tagen nie nach ihm geforscht, um nicht an ihn zu denken, wenn die geistige Nacht über mich hereinbrach, denn in diesem schrecklichen Zustande hatte ich immer das Gefühl, als dürfte ich nicht ruhen, bis er zu Grunde gerichtet wäre, wie ich selbst.

Er muß den Dienst quittiert haben, denn das Mädchen, das ihn mir abwendig gemacht, war bettelarm, eine Pfarrerswaise, die sich durch Stricken und Nähen ihr Brot in jenem Torf verdiente.

Wie er sie geliebt haben muß! Jedes Wort in seinem Briefe brach mir das Herz, – er kam wie ein Bettler zu mir, er, der stolze, hochgemute Mann bettelte bei mir um seine Freiheit. – – – – –

Gisela sank fröstelnd in sich zusammen. Die Lampe brannte dunkel und drohte auszugehen, ich war so todmüde und so abgespannt von all dem Schrecklichen, was ich gehört hatte.

Ganz wirr und taumlig, stand ich auf. »O, lassen Sie uns schlafen gehen!« bat ich Gisela wieder und wieder. Sie strich sich über die Stirn und sah mich an.

»Schlafen!« wiederholte sie. »Mir ist, als könnt' ich heute schlafen; ich hab' mir alles vom Herzen heruntergesprochen, was sonst so grenzenlos schwer drauf lastete. Kleines, dummes Mädchen, ich habe mein Leid mit Ihnen geteilt!«

Gisela stand auf und schritt langsam und müde an meinen Schreibtisch, wo sie noch einmal meine Bücher betrachtete.

»Daß sind die besten Freunde,« sagte sie und schlug aufs Geratewohl einen Band auf. »Jawohl,« lachte sie bitter; »das paßt auf Hartwigs kluge Braut: »Wer über gewisse Dinge den Verstand nicht verliert, der hat keinen zu verlieren«. O mein Kopf, mein armer Kopf!«

Ich umschlang Gisela sacht und führte sie sorgsam hinaus, brachte sie zu Bett und hielt ihre Hand, bis sie fest eingeschlafen war. Dann begab auch ich mich zur Ruhe, ich versuchte es wenigstens, zu schlafen, aber meine Gedanken wirbelten wie toll durcheinander, zu viel war heute auf mich eingestürmt. Ich faltete die Hände, um meinem besten Freunde alles zu vertrauen, aber die Müdigkeit übermannte mich, ich konnte nichts mehr denken als:

»Lieber Gott, mach' mich fromm,
Daß ich in den Himmel komm«.

Mein altes Kindergebet.

Und mit diesem schlief ich endlich ein.

*


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