Felicitas Rose
Kerlchen als Anstandsdame
Felicitas Rose

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Aus Kerlchens Tagebuch.

Vielleicht eine halbe Stunde von Altenhof entfernt liegt ein schöner Tannenwald, der ganz entzückend im Winterschnee aussieht, vom Schlosse führt ein schmaler Weg dorthin, den der Förster und seine Gehilfen gut gangbar gemacht haben. In diesem Wald, nahe der Lichtung, von welcher man Schloß und Gut Altenhof übersehen kann, liegt ein kleiner See, so malerisch, so versteckt, daß ich fest davon überzeugt bin, im Sommer tauchen sich die Nixen hinein.

Ich habe ihn deshalb »Elfenbad« genannt.

Auf der Karte steht nur: »Der Tümpel«, aber Landkarten sind ja immer unpoetisch. –

Dort hinaus wanderte ich jeden Morgen auf ein Stündchen oder zwei mit meinen Schlittschuhen; – man kann dort so herrlich das Bogenlaufen üben. Hei, da tummelte ich mich, schnitt »Achten« und meinen Namenszug in das Eis und war so recht in meinem Element. Auch gestern pilgerte ich hin. Wera war mit einem Bündel Aussteuersorgen nach Sandkrug gefahren und hatte mir heilig versprochen, sich musterhaft anständig zu benehmen, damit sie ihre »Dame« entbehren könne.

Ich war auf meinem Tümpel so recht in Gott vergnügt, und da mir das Bogenlaufen nicht genügte, um meine Vergnügtheit auszudrücken, fing ich ein Gespräch mit den umstehenden Bäumen an, desgleichen mit einer kleinen Blaumeise, die mir zuguckte.

Dann umarmte ich der Reihe nach die Tannen, die mich so freundlich beschützten, und drückte mein heißes Gesicht an ihren kühlen Stamm, der so köstlich nach »Weihnachten« roch. Und mit diesem Duft strömte eine solche Menge von Kindheitserinnerungen auf mich ein, daß ich hochaufatmen mußte und dann sang ich jubelnd hinaus in die klare Winterluft:

»O du fröhliche, o du selige Gnadenbringende Weihnachtszeit,
Welt war verloren,
Christ ist geboren,
Freue dich, freue dich, o Christenheit!«

»Das nenne ich aber eine stimmungsvolle Kirche!« sagte da eine Stimme neben mir.

Ich erschrak natürlich sehr und guckte den fremden Herrn nicht gerade freundlich an. Er stand auf der kleinen Anhöhe seitwärts und lehnte sich behaglich an einen Stamm, sein Gesicht kam mir recht spöttisch vor.

»Warum singen Sie denn an so ungewöhnlicher Stelle Ihre Weihnachtslieder, und was haben dir Bäume getan, daß sie eine so außerordentliche und beneidenswerte Belohnung bekommen?« fuhr der Fremde fort, und nun wäre es gewiß schicklicher gewesen, die Flucht zu ergreifen, wie es andere wohlerzogene Mädchen sicherlich getan hätten, aber ich fand seine Frage so grenzenlos dumm, daß ich mich gar nicht weiter besann, sondern ärgerlich antwortete: »Was fragen Sie noch? Ist es nicht ein himmlischer Morgen? Und riecht es nicht nach Weihnachten überall? Da muß doch jeder Mensch jubeln und singen und dankbar sein – –«

»Kerlchen!« rief er. »Es stimmt alles! Das wilde Lockenhaar, die trotzigen Augen, das Stumpfnäschen –«

»Meine Nase geht Sie gar nichts an,« begehrte ich auf, ohne weiter drauf zu achten, daß mich der Unbekannte mit meinem Namen angeredet hatte, denn ich war wirklich zornig, weil meine Nase sozusagen meine Achillesferse ist, sie guckt gar so fröhlich in die Luft, und mein Väterchen wollte mir schon immer einen Extraregenschirm dafür kaufen.

»Sie geht mich aber doch etwas an.« Mit zwei Sätzen war der Fremde bei mir, schwenkte mich auf dem glatten Eise herum, daß ich beinahe lang hinschlug und sagte:

»Guten Tag, Kerlchen! Sie sind meines lieben, jungen Freundes Erich Schlieden Schwesterchen.«

»Herr von Hartwig?« fragte ich zweifelnd, und er bestätigte:

»In Lebensgröße!«

Nun das war doch wirklich ein sonderbares Zusammentreffen. Wir fragten auch weiter gar nicht, wo wir herkämen, wir waren gleich mitten drin im Erzählen. Die Zeit verging im Fluge, ich war furchtbar erschrocken – als ich endlich nach der Uhr sah, schnallte rasch meine Schlittschuhe ab, wobei er mir ritterlich half, und schritt neben ihm durch den Tannenwald.

»Ich dachte es mir gleich, daß nur Sie es sein könnten,« sagte Herr von Hartwig, »und als Sie mir zuriefen, man müsse dankbar sein, da wurde es zur Gewißheit, denn Erichs drittes Wort war immer: »Kein dankbareres Seelchen auf Gottes Welt, als unser Kerlchen!« Aber nun lasse ich Sie auch nicht wieder los. Sie müssen sich auf irgend eine Weise Urlaub verschaffen und mit mir nach Sandkrug wandern, Sie müssen mein Heim kennen lernen, mein liebes Weib und meinen Jungen!«

Wie seine Augen leuchteten, als er das sagte. Aber ich schüttelte stumm den Kopf.

»Sie wollen nicht?« fragte er erstaunt. »Ja, aber warum denn nicht? Freuen Sie sich nicht, daß wir uns gefunden haben, hat Erich Ihnen nicht von meiner Inge geschrieben, die sich so auf Sie freut? Was ist Ihnen, haben Sie kein Vertrauen zu mir?«

Ich schüttelte den Kopf.

Ich hatte ja auch kein Vertrauen zu ihm. Er war ein Wortbrüchiger, der die arme, kranke Gisela betrogen und verlassen hatte.

Trotzig und abweisend sah ich ihn an.

Er wurde sehr blaß.

»Sie sind ein Kind,« stieß er rauh hervor, »was wissen Sie von – – –, aber gleichviel, Ihnen ist von mir erzählt worden und – – schnell fertig ist die Jugend mit dem Wort.«

»Ja!« fuhr ich auf, »ich bin auch fertig mit Ihnen – es war Fahnenflucht, das ist das Schlimmste für einen Offizier.«

»Echt Kerlchen,« entgegnete er. »Aber ich nehme den Handschuh nicht auf. Ich sehe aus allem, was Sie tun und sagen, nur das eine, daß Sie Gisela von Altenhof sehr lieb haben, – und das tut mir wohl. – Und nun werden Sie mir Ihre Hand geben und mir fest versprechen, ehe Sie endgültig über mich aburteilen, erst einmal zu uns zu kommen. Und wenn ich auch in Ihren Augen rabenschwarz bin, meine Inge hat Ihrem Erich-Bruder viel Gutes getan, hat ihn vor Verzweiflung bewahrt in den schwersten Tagen seines Lebens, – nicht wahr, das gibt für das »dankbare« Kerlchen den Ausschlag.

Ich reichte ihm, ohne zu zögern, meine Hand, er drückte sie kräftig, dann zog er tief den Hut und ging raschen Schrittes davon.

Ich kam sehr nachdenklich nach Hause. Auf dem Wirtschaftshofe stieß ich mit einem jungen Mädchen zusammen, das für die Schloßbewohner näht und oft von Sandkrug hereinkommt, um nach neuer Arbeit zu fragen. Sie sah mich spöttisch an, und als ich ihr freundlich guten Tag bot, erwiderte sie dies reichlich schnippisch.

Als ich in die Vorhalle trat, kam mir die alte Tina, wie es schien, recht aufgeregt, entgegen, nahm meine Hand und sagte eindringlich: »Ich hab' so viel auf Sie gehalten, Fräulein Felicitas, – ach Gott, – wir alle dachten, ein guter Engel wär' für uns vom lieben Gott geschickt worden. Liebes, liebes Kindchen, ach kommen Sie doch bloß nicht auf Abwege! Die Marthe hat Sie gesehen, mit einem fremden Mann im Walde, immerzu hat sie Sie beobachtet und ich glaube nicht, daß die Marthe lügt – – –«

»Wahrscheinlich lügt sie doch,« rief ich empört, »wenn sie irgend etwas Häßliches gesagt hat. Der Herr war ein alter Freund meines Bruders.«

»Warum kommt er denn nicht offen ins Schloß,« beharrte die alte Dienerin, »das ist doch sonst so Sitte bei den Vornehmen, und nur niederes Volk trifft sich heimlich im Walde.«

»Wir haben uns nicht heimlich getroffen,« rief ich außer mir. »Ich sah ihn heut' zum erstenmal!« Damit rannte ich zornbebend die Treppe hinauf.

»O Gott, o Gott, zum erstenmal! Ich denk', es ist ein alter Freund?« jammerte Tine hinter mir her, o jeh, o jeh, die Jugend will nun mal nicht hören!«

Nein, ich wollte ihr Gejammer auch nicht hören, ganz atemlos kam ich in meinem Stübchen an. Nein, so etwas! So ein dummer, blödsinniger Verdacht! Und mir, mir so etwas zuzutrauen!

Ich warf die Schlittschuhe in eine Ecke und mich selbst längelang auf das Ruhebett, das in allen Fugen krachte. Da lag ich in ohnmächtigem Zorn eine Weile, bis mir schreckhaft der Gedanke kam, daß Frau von Altenhof auf mich warte, um sich vorsingen und -spielen zu lassen. Das war auch eine neue »Errungenschaft«. Frau von Altenhof hatte eine »phänomenale« Altstimme an mir entdeckt und pflegte sie um so mehr, als sie selbst hochmusikalisch war, während Wera ebenso gern eine Tür »knaarzen«, wie eine Liszt'sche Rhapsodie hörte. Ich sprang schnell auf, fuhr mit dem Kamm durch meinen Ruschelkopf und zog alles gerade, was irgendwie schief hing. Dann stürmte ich zur Schloßherrin, aber kurz vor dem Eintritt in den Musiksaal hemmte ich etwas meine Riesenschritte und trat sehr sittsam und manierlich in das Gemach.

Frau von Altenhof hatte die Hand über das Gesicht gelegt und sah nicht auf, als ich eintrat. So überließ ich sie ihren Gedanken und ging gleich zum Flügel, um das alte Volksliedchen zu singen, welches mir meine Lehrerin aus ihrem Notenschatz ausgewählt hatte:

»Wer ist so verlassen, wie ich auf der Welt?
Nicht Vater nicht Mutter, kein Gut und kein Geld
Es weht durch die Lande der Winterwind,
Untreu ward der Liebste mir armem Kind,
Weil gülden kein Kettlein am Halse mir gleißt,
Ach, weiß es wohl Einer, – was Sehnsucht heißt?«

Leise, ganz leise war Frau von Altenhof hereingeschritten, und nun stand sie neben mir und faßte meine beiden Hände, daß das Notenblatt zur Erde fiel.

»Felicitas, haben Sie doch Vertrauen zu mir,« sagte sie beweglich, und ich sah sie erstaunt an mit klopfendem herzen, denn sie war so anders als die Tage vorher, und es tat mir weh, daß sie nicht »Kerlchen« zu mir sagte, wie sonst immer.

»Ich hab' großes Vertrauen zu Ihnen,« sagte ich einfach.

»Das ist ja nicht wahr, Kind, rief sie erregt, »o – soll ich denn immer wieder enttäuscht werden? Sind denn auch Sie nicht wahr mit Ihrem unschuldigen Kindergesicht? Warum singen Sie mit so ergreifendem Ausdruck dieses Lied von der Untreue des Geliebten?«

»Das weiß ich nicht. Es ist doch aber gewiß traurig, wenn ein Mann untreu und schlecht ist.«

Frau von Altenhof sah mich an, als wollte ihr Blick mir bis ins innerste Herz dringen.

»Kerlchen, Kerlchen!« rief sie. »Und wer ist der Herr, mit dem Sie sich im Walde trafen, der Ihre Hände hielt und nicht losließ, mit dem Sie ein erregtes Gespräch hatten und von dem Sie sich traurig trennten? Sehen Sie, wie Sie rot und blaß werden? O Kerlchen, Kerlchen!«

Nun, da sollte man nicht rot und blaß werden.

Lieber will ich gar nicht weiter erzählen, denn was nun kam, war gewiß nicht schön, und Frau von Altenhof sah, daß ich kein nettes, sanftes, gutes Mädchen war, sondern ein wildes, tobendes, abscheuliches Menschenkind, das sich wie rasend gebärdete und alles hervorsprudelte, was ich eigentlich mit Rücksicht auf Gisela still bei mir behalten wollte.

Aber vielleicht war's auch gut so.

Frau von Altenhof guckte mir nur ganz erschrocken zu, sie hatte wahrscheinlich noch nie so einen Sturmwind gesehen, und als sie dann den Arm um mich legte und ganz liebevoll und freundlich: »Ruhe im Lande!« sagte, da schämte ich mich grenzenlos.

Aber das Schlimme ist, daß ich in solchen Fällen nicht weinen kann, wie andere Mädchen, sondern mit heißen, trockenen Augen und steif wie ein Holzbock dastehe und wahrscheinlich nicht die Bohne zerknirscht aussehe.

»Kleines, dummes Geschöpf,« sagte Frau von Altenhof zärtlich und zog mich nahe zu sich heran. »Gottlob und Dank, daß ich mich nicht in Ihnen getäuscht habe. Über dieser Freude vergesse ich beinahe das Leid, daß jener Mann in unserer Nähe weilt, der so unsäglichen Jammer über Gisela gebracht hat. Sie darf natürlich von seiner Anwesenheit nichts erfahren, versprechen Sie mir das, Kerlchen, ja? Sie ist schon so lange so still und arbeitsam, daß ich meine, ihr Geist ist dauernd klar und scharf, aber er darf durch nichts aus dem Gleichgewicht gebracht werden. Nicht wahr, wir beide wollen sie vor neuem Leid bewahren?« Ich nickte eifrig, und dann fingen wir an zu singen und zu üben und vergaßen alles um uns, bis Heinrich zu Tisch rief.

Ich hatte einen gesegneten Hunger vom Schlittschuhlaufen mitgebracht und konnte ihn auch nach allen Richtungen stillen, denn Frau von Altenhof genoß heute nichts, sondern schaute traurig und sinnend ins Weite, sie überdachte wohl meine Begegnung mit Herrn von Hartwig, der Ihnen einst so nahe stand, und Gisela hatte sich entschuldigen lassen, – sie sei krank.

Am nächsten Tag, als ich mir auf der schönen Landstraße nach Sandkrug hin etwas die Füße vertreten wollte, überholte mich ein rasches Fuhrwerk. Der ältere Herr, welcher in Tücher und Pelze gewickelt drinnen saß, warf die Hüllen von sich ab, ließ halten und sprang aus dem Wagen.

»Dr. Gieseke,« stellte er sich vor.

Ich nickte kurz.

»Ich möchte Sie entführen,« begann er mit rauher Stimme, und als ich ihn erschrocken ansah, lachte er kurz auf.

»Nein, es ist nichts Romantisches dabei, aber ich habe einen Auftrag von Herrn von Hartwig, der mir mitteilte, er habe Sie gestern kennen gelernt. Der arme Mensch war so ziemlich kopflos, denn seine Frau, ein zartes, blasses Menschenkind hat einen Blutsturz bekommen, und nun ist niemand da, der dort ein wenig helfen kann. Pfarrers sind auch beide über Land zu einer Taufe, aber Hartwig schwört drauf, daß Sie Hilfe bringen könnten. Wollen Sie um Urlaub bitten? In einer halben Stunde bin ich wieder hier.«

Ich nickte ihm hastig zu und eilte ins Schloß. Zuerst traf ich nur Wera, der ich aufgeregt alles erzählte.

»Natürlich mußt du hin,« redete sie mir zu, das gebietet die einfache Menschlichkeit, und du kannst ja nichts dafür, was dieser Hartwig unserer Gisela angetan hat.«

Sie erschrak und legte den Finger auf den Mund. Die Tür zum Nebenzimmer stand offen, der leichte Schritt Giselas, welche unablässig auf und ab ging, war hörbar. Hatte sie alles vernommen? Still verließen Wera und ich das Zimmer und eilten zu Frau von Altenhof. Diese drückte mir stumm die Hand, als ich ihr das Vorgefallene erzählte und erteilte mir sofort Urlaub.

Eine halbe Stunde später saß ich bei Dr. Gieseke im Wagen. Ich sah ihn scheu von der Seite an; was ich von ihm gehört, war nicht gerade dazu angetan, ihm Vertrauen zu schenken.

Und doch, je länger ich mit ihm zusammen war, desto besser gefiel er mir, und desto mehr fiel mir der gramvolle Zug in seinem Gesicht auf.

»Warum betrachten Sie mich so angelegentlich,« fragte er mich plötzlich und schroff, und ich wurde glühend rot, sagte aber keinen Ton.

Hätte er nun weiter geforscht, wäre ich sicher mucksmäuschenstill geblieben, aber da er so ganz verschlossen dasaß, drückten mir verschiedene Fragen beinahe das Herz ab.

Endlich hielt ichs nicht länger aus, er sollte doch wissen, wie ich über ihn dachte.

»Frau von Altenhof ist furchtbar unglücklich,« stieß ich hervor.

Er lächelte wehmütig.

»Kleines Mädchen, Sie können sich ja so schlecht verstellen, ich weiß, ja längst, was in Ihnen vorgeht. Noch ehe Hartwig Sie kennen lernte, hat er mir, seinem alten Freund, von »Erich« und Ihnen erzählt. Wie oft hat uns das »Kerlchen«, sich selbst unbewußt, erheitert. Und nun hat man Ihnen eine Schauermär vom alten Gieseke erzählt, die immer noch an Düsterkeit zugenommen hat, je mehr Jahre darüber hingegangen sind, und Sie grübeln unablässig drüber nach: »Ist es wahr, oder nicht?« Hab' ich Recht?«

Ich nickte.

»Aber wie könnte ich nun verlangen, daß Sie mir glauben sollen, wenn ich, der Fremde, Ihnen sage: – »Es ist ein häßliches Spiel mit mir getrieben worden, und alles beruht auf Lüge und Verleumdung?«

Ich sah in sein gutes, sympathisches Gesicht und streckte ihm ohne Zögern die Hand hin.

»Ich glaube Ihnen,« sagte ich einfach.

»Sieh, sieh,« nickte er. »Also ganz das impulsive, kleine Kerlchen, als welches ich Sie schon kenne!«

»Aber was nützt das,« seufzte ich. »Alle im Schlosse denken häßlich von Ihnen!«

»Ich weiß, ich weiß!« Der traurige Zug in seinem Gesicht verschärfte sich. »Frau von Altenhof hat meine Briefe ungelesen zerrissen, ich hab' ihr verziehen um des Schmerzes willen, den sie als Mutter erlitt. Das Kind war längst tot, als man mich damals rufen ließ, der eigene Vater hatte dessen Tod verschuldet, und seiner schwerkranken Frau dann das andere Märchen aufgebürdet, zu dem ich ihm freilich die Handhabe bot, weil ich stark angeheitert von einer Hochzeitsfeierlichkeit kam. Ich hab's schwer gebüßt.«

Er versank in tiefes Schweigen, und ich war so im innersten Herzen empört über das Netz von Lüge, das man um ihn gezogen, daß auch ich kein einziges Wort fand.

Endlich rasselte der Wagen durch Sandkrug. Alle Köpfe fuhren an die Fenster, man schien mich gleich zu erkennen, und jemand aus Altenhof zu sehen, ist immer etwas Besonderes.

Man wird angestarrt und wenn irgend möglich ausgefragt, aber diesmal fuhren wir durch den Ort hindurch bis nach der Friedhofsallee, in der lauter kleine Häuser stehen, die der Besitzer der Nadelfabrik für seine Beamten und Arbeiter gebaut hat. Ich war nur selten hierhin gekommen, aber immer hatte ich mich an den lieben grauen Häuschen gefreut, die alle einzeln in hübschen Gärten lagen und so wohlgehalten und gepflegt aussahen.

Aber ich hatte nicht geahnt, daß in einem der Häuschen Erichs Freund wohnte.

Der Wagen hielt, Herr von Hartwig kam uns entgegengeeilt und drückte meine Hände, als wollte er sie gar nicht wieder loslassen.

»Dank, Dank,« rief er immer wieder. »So bald schon kommen Sie! Inge schläft, sie sieht viel, viel wohler aus,« wandte er sich dann zum Doktor.

»Das ist recht,« antwortete dieser, »und ich lasse Ihnen erst mal dieses kleine, liebe Samariterchen hier, damit es sieht, wo es helfen kann, und heute Abend hole ich es wieder ab.«

So kam ich in Hans von Hartwigs Haus. – Es war ganz ebenso gebaut wie die anderen Häuser, aber doch schien es mir vornehmer und größer zu sein, das machte wohl die eigenartige, wunderschöne Einrichtung, die, wenn man sie näher betrachtete, doch nur höchst einfach, aber mit ausgesuchtem Geschmack hergestellt war. Als ich ins Wohnzimmer trat, blieb ich überrascht auf der Schwelle stehen. So engelschön hatte ich mir »Bubi« doch nicht gedacht, trotzdem der Doktor mir unterwegs eine begeisterte Schilderung des Jungen entworfen hatte.

Wie ein Bild sah er aus in seinem schwarzen Samtkittel, über dessen Kragen hellblonde, seidenweiche Locken fielen, mit dem weiß und roten Gesichtchen, aus dem ein Paar wunderschöne, sprechende Blauaugen sahen.

»Dies ist Onkel Erichs ›Kerlchen-Schwester‹,« stellte mich Herr von Hartwig vor, und das kleine Bild streckte mir die Hand hin und sagte ruhig:

»Das ist schön, du darfst hier bleiben!«

»Er ist etwas selbstherrlich, unser Felix,« lachte Herr von Hartwig, »aber er ist durch und durch ritterlich; nicht wahr, Felix, du wirst deine Namensschwester nachher beschützen und unterhalten, wenn ich nach der Fabrik gehe?«

Der Sechsjährige nickte ernsthaft.

»Ich wollte es ja durchaus nicht leiden, daß Doktor Gieseke Sie holte,« wandte sich Hartwig an mich, »aber er tat es nicht anders, unsere Magd, ein eben der Schule entronnenes Mädel ist »horndumm«, wie man in Sandkrug sagt, und hat heute ganz den Kopf verloren, als meine Inge krank wurde.«

Ich nickte verständnisvoll, denn der Doktor hatte mich unterwegs schon instruiert, deshalb lief ich nun auch gleich in die Küche, um einen guten, soliden Kaffee zu kochen, der nach Ansicht aller vernünftigen und unvernünftigen Leute rasch einen verzagten Menschen ins Gleichgewicht bringt.

Die Magd saß an dem Küchentisch, hatte die Hände vor das Gesicht geschlagen und heulte, neben ihr lag ein Traumbuch.

»Guten Tag,« sagte ich.

»Ach Gott,« heulte sie.

»Sie müssen nicht mehr weinen,« beruhigte ich sie und guckte sie erstaunt an, denn sie war einen Kopf größer als ich und sehr breit, so daß sie gar nicht wie ein »eben der Schule entronnenes Mädel« aussah.

»Doch! Es ist zu traurig! So schön und jung und schon sterben müssen!«

Ich wußte zuerst nicht, ob sie sich selbst meinte, aber sie sah nicht nach Sterben aus, und von den beiden Eigenschaftswörtern paßte auch nur das eine.

»Wer soll denn sterben?« fragte ich.

Sie zeigte mit dem Daumen nach dem Nebenzimmer.

»Die Frau,« antwortete sie. »Meine Mutter hat von »Nähnadeln« geträumt, da kam heute der Blutsturz, und ich habe von »Stecknadeln« geträumt, nu muß sie sterben.«

»Reden Sie doch nicht solchen Unsinn,« rief ich ärgerlich, »und hören Sie auf mit Heulen, Es ist wohl kein Wunder, daß Sie so »spitzig« träumen, wenn Sie alle in der Nadelfabrik beschäftigt sind. Und nun räumen Sie drinnen ein bißchen auf, und ich koche Kaffee.«

Karline verschwand mit einem schweren Schluchzer, und ich holte die Kaffeemühle und maß von Zuntz seiner seligen Witwe eine gehörige Portion hinein, die ich dann, tief in Gedanken, zermahlte.

Daß ich in der Küche von Hans von Hartwig Kaffee kochte, war doch wirklich seltsam. Das Wasser brauste und sprudelte auf dem Herd, ich schöpfte es aus und trichterte einen wundervoll duftenden Trank zurecht.

Dann wurde die Tür vom Nebenzimmer leise geöffnet, und Herr von Hartwig erschien auf der Schwelle.

»Inge will Sie sehen, Fräulein Felicitas, – bitte!«

Ich schritt an ihm vorbei in das geöffnete Schlafzimmer, eine durchsichtig zarte, blasse Hand streckte sich mir entgegen.

»Willkommen, Kerlchen!« rief eine süße, weiche Stimme.

War es wirklich eine Frau, die Mutter eines sechsjährigen Kindes, die dort im weißen Kissen lag?

Überirdisch schön war Inge Hartwig. Eine Fülle blonder Löckchen krauste sich um ihre Stirn, auf dem Kissen lagen zwei schwere, blonde Zöpfe. Und die Augen! Gab es wirklich auf der Welt solch ein leuchtendes Blau? Ich war zu ihr hingeeilt und hatte, ohne ein Wort zu sagen, ihre Hand geküßt.

»Das ist also Kerlchen?« fragte sie und sah mich liebevoll an. »Da hat der Erich nicht zu viel gesagt, gelt Hansel?« Und gleich sind Sie zu uns gekommen? Das ist lieb von Ihnen. Wie das aus der Küche duftet, Sie sind wohl schon fleißig gewesen?«

»Ich will den Kaffee gleich holen,« erwiderte ich und lief wieder hinaus, denn ich fühlte, daß mir die Tränen in die Augen schossen, so rührend schön, lieblich und doch so krank sah das Gesichtchen von Frau Inge aus.

Ich hantierte lange draußen herum, nach einer Weile kam Hans von Hartwig wieder zu mir.

»Sie glauben doch nicht, daß Inge kränker ist, als sie sagt?« fragte er mich hastig.

Ich schüttelte den Kopf, sprechen konnte ich gar nicht, und er stützte sich schwer auf den Tisch.

»Sie war doch immer so gesund und sieht so rosig aus,« fuhr er fort, »der Blutsturz hat mich so sehr erschreckt, aber Doktor Gieseke hat mich ganz beruhigt; nicht wahr, eigentlich krank sieht Inge doch auch nicht aus, nur so zart, sehr zart!«

So viel Angst lag in seiner Stimme.

Ich streckte ihm beide Hände hin.

»Lieber Herr von Hartwig, ich hab' nie in meinem Leben solch einen Engel gesehen, wie Frau Inge, wir wollen sie schon gesund pflegen, gelt? Und jeden Tag komme ich, wenn ich darf, – ja – darf ich?«

»Ob Sie dürfen? Gutes Kerlchen! Tausendmal ja! Ich segne den Augenblick, als ich Sie Bäume umarmend im Walde fand, aber nun kommen Sie, Inge darf nicht ahnen, daß wir uns um sie sorgen.«

Nun deckten wir den Kaffeetisch vor Frau Inges Bett, und saßen später alle vier vergnügt beisammen, denn Felix war auch hereingekommen, und wie er sich an seine Mutter schmiegte, war es das entzückendste Madonnenbildchen.

Dann erschien Karline, die Kuchen vom Bäcker geholt hatte, und erzählte strahlend, daß sich alle, die ihr begegnet wären, nach der »Frau« erkundigt hätten; ja sogar eine blühende Hyazinthe brachte sie mit, die hätte ihr die »Frau Lehrer« aus dem Fenster gereicht.

»Wie sie dich lieben!« sagte Hartwig leise und strich zärtlich über das goldige Lockenhaar seiner Inge.

»Wie die Menschen gut sind!« flüsterte Frau Inge, und sah bewegt zu ihm auf. Er küßte ihre Hand, dann verabschiedete er sich auf einige Zeit von uns, um nach der Fabrik zu gehen und dem Direktor Bericht zu erstatten.

Als ich später den Tisch abräumte und das Geschirr in die Küche trug, saß Karline wieder über dem Traumbuch und studierte.

»'s kann auch sein, daß sie leben bleibt,« bemerkte sie weise und löste vorsichtig die aneinander klebenden Ecken, »ich hab' da von der Bäckerfrau ein anderes Traumbuch mitgebracht »nach Angaben eines morgenländischen Weisen«, (meins ist von der Lenormanden) da steht bei »Nadeln« nischt vom Sterben, sondern: »Guter Fortgang des Geschäfts, – nu, mir soll's recht sein.«

»Immer dieses dumme Traumbuch,« rief ich ärgerlich, »meinen Sie, der liebe Gott kümmert sich darum?«

»Nu, da muß ich aber doch sehr bitten,« begehrte die stämmige Person auf, – »das Traumbuch hat schon meine Großmutter selig gehabt, un is allemal eingetroffen, was sie geträumt hat.

»Das glaube ich nicht!«

»So? Na denn nicht! Aber ganz Sandkrug weiß ja auch, daß die Altenhofer nischt glauben, an kein Deubel und an kein Traumbuch und kein Gott!«

»Es ist ein Unrecht, diese drei Namen in einem Atem zu nennen,« rief ich zornig.

»Kümmern sich Fräulein man um sich selber, unsereins tut schon kein Unrecht. – Un die Martha, die fürs Schloß näht, hat von Scheren und Messern geträumt, das bedeutet »Zusammenbruch des Hauses« und soll uns gar nich wundern, wenn das alte Schloß mal zusammenstürzt, Fräulein sollten beizeiten auskneifen.«

Ich drehte der dummen Person den Rücken zu und begab mich ins Wohnzimmer, wo ich auch rasch Ordnung schaffte. Es lag noch alles so, wie es gelegen, als der Anfall die arme, zarte Frau Inge überraschte. Eine feine Stickerei lag auf der Erde, ich hob sie auf und legte sie in einen weißen Korb, der lauter entzückende Sachen enthielt: kleinwinzige Jäckchen, Hemdchen, Mützchen, weiße, weiche Tücher, gestrickte Schuhchen. Ganz sacht strich ich liebkosend über alles, dann eilte ich zu Frau Inge ans Bett, auf dessen Kante Bubi noch immer saß, und ganz ernsthaft mit Mütterchen plauderte. Ach, da hab' ich noch ein paar ganz traute Stündchen gesessen, und es war mir zum erstenmal, als hatte ich nun erst eine richtige Freundin gefunden, die mich verstand und der ich auch alles hätte sagen können, wie sie mir alles vertraute. –

In diesen Stunden wich auch die Empörung gegen Hans von Hartwig in mir einem andern Empfinden.

Er hatte ja schlimmes Unrecht getan, gewiß, – aber das hatte er wohl auch gebüßt durch jahrelange Bitternisse. Ich mußte an sein Haar denken, das an den Schlafen schon ganz ergraut war, das hatte wohl die immerwährende Angst und Sorge getan, die er um seine geliebte Inge trug.

Und sein Beruf! Daß er diesen hatte aufgeben müssen quälte auch Frau Inge, aber jeder hatte all die Jahre hindurch sein Leid vor dem andern verborgen, nur helle Augen hatten sie sich gezeigt, trotzdem die Arbeit in der Fabrik, das fortwährende Beisammensein mit einem ungebildeten Vorgesetzten Hartwig zur Qual wurde.

Auch nach Gisela fragte Frau Inge. Leise und stockend bat sie mich, von ihr zu erzählen, und ich tat es mit wehem Herzen, denn ich sah, wie immer Röte und Blasse auf Frau Inges Gesicht wechselten, sah, wie ihre blassen Hände unaufhörlich vor innerer Erregung über die Decke strichen, und hörte aus jeder Frage, daß sie von der früheren Verlobung ihres Gatten wisse, wenn sie auch erst nach ihrer Verheiratung gehört, daß er eine andere um ihretwillen aufgab.

Als der Wagen des Doktors abends vor dem Hause hielt, um mich abzuholen, da hatten wir ganz feste, feste Freundschaft geschlossen, und ich versprach mit Hand und Mund, täglich wiederzukommen.

Dr. Gieseke blieb bei Frau Inge, ich fuhr allein im geschlossenen Wagen durch die Winternacht nach Altenhof.

Wir hatten die Lichter von Sandkrug schon eine Weile hinter uns gelassen, als der Kutscher plötzlich mit raschem Ruck den Wagen anhielt, daß ich heftig erschrak.

Ich hörte ihn mit jemand sprechen, und dann wurde der Schlag aufgerissen.

»Ich bin's,« sagte Gisela, und die vermummte Gestalt setzte sich zu mir in den Wagen.

Ich sah, daß sie vor Frost schauerte.

»Aber Fräulein von Altenhof!« rief ich vorwurfsvoll, während unser Gefährt sich wieder in Bewegung setzte, »was tun Sie denn hier in Wind und Wetter so weit vom Schlosse entfernt? Sie können sich in den Tod erkälten!«

»Erkälten! Was liegt daran?«

Sie lehnte sich in die Polster zurück; schweigend fuhren wir nebeneinander dahin.

Plötzlich packte sie meine Hand, daß es mir weh tat.

»Erzählen Sie mir von Hans von Hartwig!«

Wie ein Schrei kam es von ihren Lippen.

Ich fuhr zurück, ich suchte meine Hand frei zu machen, doppelt groß war meine Angst, denn ich konnte im Dunkel des Wagens ihr Gesicht nicht erkennen.

Aber sie hielt mich fest wie in einem Schraubstock.

»Quälen Sie mich doch nicht so,« rief sie heiser, »ich habe Ihre Unterredung mit Wera belauscht, ich habe Übermenschliches bis heute Abend ertragen, jetzt sollen Sie mir alles erzählen!«

Ich sah, daß ich in ihrer Gewalt war, und so fügte ich mich. Ich sprach von Hartwigs Häuslichkeit, von seinem entzückenden Weib, von seinem lieblichen Knaben, und sie unterbrach mich mit keinem Wort, keinem Ausruf, nur wenn ich einen Augenblick inne hielt, drängte sie: »Weiter, weiter!«, mit einer Stimme, die klanglos vor Erregung war.

Endlich, endlich hielt der Wagen vor dem Schloßportal. Mir war's, als wären wir tagelang gefahren: ich hatte heftiges Herzklopfen, meine Locken klebten an der Stirn, und meine Handgelenke taten weh von Giselas schmerzhaftem Griff.

Auch jetzt sprach sie nicht, ohne ein Wort ging sie an mir und Heinrich, der uns empfing, vorbei in ihre Zimmer.

Frau von Altenhof teilte ich das Vorgefallene mit, und an dem Abend saßen wir beide bis in die tiefe Nacht und sorgten uns, machten Pläne für die Zukunft, die sich alle um unser Sorgenkind drehten, ach, und es war solch ein liebes Gefühl für mich, als Frau von Altenhof zu mir sagte: »Kerlchen, liebes Kerlchen, Sie sind nicht nur das Anstandsdämchen, das von uns belacht wird, Sie sind jetzt wahrhaft meine Stütze, was fing' ich wohl an ohne Kerlchen!«

Und in dieser stillen Nacht, da wir uns beinahe wie Mutter und Kind aneinander schlossen, erzählte ich ihr auch von dem alten Doktor Gieseke: erst zaghaft und scheu, voll Angst, die alten Wunden wieder aufzureißen, aber dann trieb mich mächtig das Gefühl, der Wahrheit zum Sieg zu verhelfen.

Frau von Altenhof wurde totenblaß.

»Pfui, welch' ein Gewebe von Lüge, o pfui! Und mich hineinzuziehen! Und dann darinnen zu bleiben durch eigene Schuld! Kerlchen, ich hab' unendlich viel wieder gut zu machen!«

Am andern Tag fuhr sie selbst nach Sandkrug. Wie mögen wohl die biederen Kleinstädter die Hälse gereckt haben, als ihr Gefährt stundenlang vor Doktor Giesekes Wohnung stand.

Ich kauerte derweilen in Veras Stube und packte deren Köfferchen, denn sie wollte noch an demselben Tage nach Groß-Rhoda.

»Kerlchen, ich werde mich trotz meines Schatzes halbtot nach dir sehnen,« behauptete sie, »aber mitnehmen kann ich dich ja nicht, Tante Rhoda würde mich sofort enterben, wenn sie die Anstandsdame plötzlich so verwandelt sähe, – das muß erst alles nach und nach kommen.«

»Hätten wir doch niemals Komödie gespielt!« sagte ich seufzend.

»Ach Himmel, jetzt nur keine Moralpauken! Aber du bist viel besser als ich. Du bleibst als barmherziger Samariter hier in lauter Trübsal, und ich fahre ins sonnige Glück hinein, O Kerlchen, aber ich komme bald wieder!«

So kam Weihnachten heran.

Ich hatte schon ein paarmal das Gespräch darauf gebracht, aber Frau von Altenhof war nie darauf eingegangen, und ich sah wohl, daß ihr Herz trotz der klärenden Aussprache mit dem alten Freunde im Banne der trüben Erinnerung blieb. So ging ich selbst zum Herrn Pfarrer, holte mir Arbeit für die Ärmsten des Dorfes und saß Abend für Abend mit Tina und der »ollen Müllern« strickend auf der großen Vordiele. Die Unterhaltung riß dabei nicht ab. Die »olle Müllern« erzählte, daß sie früher das schönste Mädchen Thüringens gewesen sei. Und wenn sie dabei so strahlend griente und ihren einzigen gelben Zahn zeigte, riß sie mich zu fröhlichem, ungläubigem Lachen hin.

Das nahm sie mir aber gewaltig übel und setzte als Trumpf auf ihre Mitteilungen den Bericht, daß noch gestern der neue Briefträger zu ihr gesagt habe: »Schöne Frau, sind Sie nicht die »olle Müllern?«

Unter solchen »anregenden« Gesprächen vergingen die Stunden im Fluge, aber jeden Tag holte mich außerdem der Doktorwagen ab, und ich durfte ein paar Stündchen bei Hartwigs bleiben, die mich immer mit grenzenlosem Jubel empfingen und ganz als zu sich gehörig betrachteten.

Frau Inge hatte gleich am Tage nach dem Blutsturz das Bett wieder verlassen können, sie behauptete auch, gar zu notwendig in dem kleinen Haushalte zu sein, der unter Karlinens »Traumbuchregiment« gar zu sehr »drunter und drüber« ging. Inge von Hartwig hatte mich vollständig bezaubert. Es ist gar nicht zu schildern, wie entzückend sie aussah, wenn sie im Hause umherschaltete, oder wenn sie neben ihrem Manne saß und ihm erzählte, oder Bubi lehrte oder sang mit ihrem Harfenstimmchen.

Das ganze Häuschen war wie durchleuchtet von Glück, und wenn ich abends in das düstere Altenhofer Schloß kam, war mir's, als hingen noch Sonnenfädchen an mir, die als seine Strahlen in alle dunkeln Ecken leuchteten.

Und jeden Abend berichtete ich treulich die Erlebnisse an Frau von Altenhof und sah, daß sich der dunkle Vorhang zum Nebenzimmer bewegte, und hörte später leise die Tür ins Schloß fallen, – zu mir in den Wagen war Gisela nie mehr gekommen.

*

Der vierundzwanzigste Dezember trat mit recht häßlichem Wetter an.

Der Sturm wütete schon früh am Morgen, ein dichtes Flockengewimmel führte draußen seinen Tanz auf, und im Schlosse mußte tagsüber das Gas angezündet bleiben, damit man die Gegenstände im Zimmer erkennen konnte. Der Landbriefträger war volle drei Stunden später gekommen als sonst, dafür brachte er mir aber auch eine Menge Pakete, die er an einem Strick um den Hals gereiht hatte. Es waren Liebesgaben von Bümi, Luttewete, Erich und Fritz von Rumohr, aber auch drei große Kisten schleppte der brave Stephansbote mit sich, von Munle, von Muusch und – vom Schlächter Krone.

Hochgeborenes und ergebenstes Fräulein Kerlchen!

Niemals fällt der Mensch so rasch vom Fleisch, als wenn er nichts ißt. Junge vornehme Damen denken insbesondere lieber an Blumen und Schmetterlinge, und doch ist Wurscht sonne Hauptsache.

Anbei zehn Pfund, die ich zum heiligen Weihnachtsfeste mit ebensolchem Wohlwollen zu verzehren bitte wie Ihren

ewigen, achtungsvollen Freund
Krone, Schlachtermeister.

Aber auch ein wunderschönes, großes Bild des Brautpaares Wera und Ernst war heimlich in mein Zimmer gelegt worden, und die lieben Gesichter schauten mich fröhlich an. Ein kostbares Album lag daneben und trug auf goldenem Schild die seine Gravierung: »Meiner geliebten Anstandsdame«. Das liebe, runde Tannenbäumchen, vom Förster besorgt, hatte ich mit Äpfeln und Nüssen geschmückt, gelbe Wachslichtchen daran befestigt und auf meinen Schreibtisch unter Väterchens Bild gestellt, da sollte es am Abend dem Geliebtesten gerade in das schöne, gute Antlitz leuchten. Auf dem weißgedeckten Tische hatte ich alle Geschenke ausgebreitet, und wieder war das schönste, ach, das allerschönste von Fritz von Rumohr gekommen, ein großes Bild, Haus Buchenwalde in Kreide gezeichnet, und rings herum die Bilder meiner Lieben, auch nicht einen hatte er vergessen, – Fritz – lieber Fritz! Nun waren sie alle um mich versammelt, Kerlchen brauchte am heiligen Abend nicht allein in der Fremde zu sein. – Frau von Altenhof hatte niemand beschenkt und auch keine Geschenke erhalten.

Eine Decke, deren Muster ihr gefallen, als ich einmal eine alte Truhe auskramte, und die sehr mühsam zu arbeiten war, hatte ich ihr auf einen Tisch im Wohnzimmer hingebreitet, dort lag sie unbeachtet, wie es schien.

Der Weihnachtstag verging wie alle anderen gewöhnlichen Tage, es herrschte kein Trubel, es war nicht gebacken worden, die Leute in Schloß Altenhof machten auch keine weihnächtlichen Gesichter, sie waren das nicht mehr gewohnt.

Hohen Lohn bekam ja ein jeder das ganze Jahr hindurch, da konnten sie sich alles kaufen, was sie sich wünschten, aber ach – Feststimmung und heimliches Freuen und Raten und frohglänzende Augen gab es nicht in Altenhof.

Um 6 Uhr zündete ich mein Bäumchen an.

Ein zarter Tannenduft, vermischt mit dem Geruch von braunen holsteinischen Kuchen und einem »Erfurter Schittchen«, das Schlachter Krone beigelegt hatte, durchzog mein kleines Heim.

Väterchens Bild war hell erleuchtet, und wie sein gutes, treues Gesicht so lieb auf sein einsames Kerlchen niedersah, da faltete ich fest meine Hände und befahl mich in stiller Weihenacht dem Schutze des lieben Gottes. Leise hallten die Glocken vom fernen Kirchlein.

Nach meiner stillen Andacht setzte ich mich ans Fenster und blickte hinaus in das Toben des Schneesturmes.

Die Glocken hatten zu läuten aufgehört, und ich dachte, daß sie wohl heute überhaupt vergeblich zur Kirche riefen, nur die ganz Nahewohnenden konnten bei diesem Unwetter das Gotteshaus aufsuchen.

Ehe noch meine kleinen Wachslichtchen heruntergebrannt waren, kamen Heinrich und Tine leise hereingeschritten, sie blieben bescheiden an der Türe stehen, und auf ihren Gesichtern lag ein andächtiger Ausdruck; wie lange hatten sie wohl kein Weihnachtsbäumchen gesehen: Ich bat sie, näher zu treten, und sie bewunderten meine Geschenke, aber immer kehrte ihr Blick wieder auf die kleine Tanne, deren Lichtchen einen unbeschreiblichen Zauber über mein Stübchen ausgossen.

Das Kerlchen und die beiden alten grauen Leute hielten sich fest an den Händen, – so feierlich war mir's zu Sinn, ich fühlte im tiefinnersten Herzen das Segenswort: »Wo zwei oder drei versammelt sind in meinem Namen, da bin ich mitten unter ihnen«. So standen und schauten wir, bis auch das letzte Lichtchen knisternd erlosch.

*

Frau von Altenhof und Gisela warteten bereits im Eßzimmer, als wir hinüber kamen; Gisela stand an dem hohen Fenster, und ihre Augen suchten das Dunkel zu durchdringen.

Die große Laterne vor dem Schloßportal war angezündet worden, aber der Sturm hatte dem Gehäuse längst eine Schneehülle gegeben, durch welche die windgepeitschte Flamme nur ab und zu schwach aufleuchtete.

»Ein unheimliches Wetter,« sagte Gisela und schauerte in sich zusammen.

»Es ist doch Weihnachtswetter,« wagte ich zu bemerken, »und der Sturm ist vielleicht schon vom Frühling ausgeschickt, – darf ich nachher Weihnachts- und Frühlingslieder singen?« –

»Das Kerlchen ist ein kleiner König Midas,« meinte Frau von Altenhof lächelnd, »was es anfaßt, wird zu Gold, solchen Menschenkindern kann Schnee und Sturm so leicht nichts anhaben – –«

Ein lautes Peitschenknallen ließ mich erschreckt ans Fenster laufen.

Heinrich erschien eben, gefolgt von Tine mit dampfenden Schüsseln, um uns das Abendbrot zu reichen, aber wir achteten nicht auf ihn, wir schauten angestrengt durch das Dunkel draußen, denn wir erkannten im unsicheren Lichte der Laterne, daß ein Gefährt auf der Landstraße hielt, und eine Person sich Weg bahnte durch den tiefen Schnee. Frau von Altenhof schickte Heinrich hinaus, um nachzusehen, wer da käme, und mir schlug plötzlich das Herz in unerträglicher Angst.

Dann hörten wir auf der großen Diele Stampfen und Klopfen, hörten lautes, ungestümes Fragen und Heinrichs gedämpftes Antworten, dann kam's die Stufen herauf, die Tür flog auf, – ich schrie auf – war das wirklich Hans von Hartwig, der da plötzlich vor uns stand?

Sein Haar hing ihm wild in die Stirn, er war ohne Hut und Mantel, sein Gesicht heiß und rot, wie nach schwerer, körperlicher Anstrengung.

Nur einzelne Worte stieß er hervor, heiser und tonlos:

»Mitkommen – mitkommen – meine Inge – schwerkrank – wußte niemand – mitkommen!« –

Er hielt sich an der Tür fest, der starke Mann schwankte hin und her, und ich stürzte auf den Tisch zu, wo der schwere Wein stand, den Frau von Altenhof manchmal genoß, goß ein Weinglas voll und hielt es Hartwig hin. Er trank es auf einen Zug leer.

Nun kann ich unmöglich so rasch schildern, wie alles vor sich ging. Ich konnte nicht in Giselas Gesicht schauen, denn sie war ohne einen Laut hinausgeeilt und draußen stand sie nach wenigen Minuten dicht verschleiert und fest gerüstet zu der winterlichen Fahrt. Frau von Altenhof saß zitternd in ihrem Sessel, die Augen voll Schrecken und auch voll Mitleid auf Hartwig gerichtet; wie furchtbar mochte sie ihn wohl verändert finden! Sie faßte meine Hand:

»Gehen Sie mit, Felicitas, – behüten Sie Gisela, – o Kerlchen, wie wird das enden!«

Hartwig war zu ihr getreten, mechanisch bewegten sich seine Lippen aber er sagte nichts, er beugte sich tief über Frau von Altenhofs Hände und küßte sie.

Dann schritt er hinaus, zog Giselas Arm durch den seinen und führte sie sogleich die Steinstufen hinab, ich folgte, nachdem ich meinen alten Pelzmantel umgeworfen und die Pelzmütze über die Ohren gezogen hatte. Heinrich leuchtete mit einem Windlicht, dabei sah ich, wie ihm die hellen Tränen über die Backen liefen.

Mit großer Mühe kämpften wir uns bis zu dem Gefährt durch, es war der wohlbekannte Doktorwagen, aber ganz mit Schnee bedeckt, Der Kutscher hatte schon wieder gewendet.

»Drei Personen?« rief er, mit lauter Stimme gegen den Sturm ankämpfend, »wenn wir da man durchkommen, Herr.«

Hans von Hartwig antwortete nicht, er hob Gisela in den Wagen, ich setzte mich neben sie, und Hartwig schwang sich zum Kutscher auf den Bock.

Das war eine Fahrt! Die Räder ächzten und stöhnten, manchmal neigte sich der Wagen ganz auf die Seite, als wollte er umfallen, und der Sturm warf immer wieder die Fenster herunter und eine Wolke von Schnee zu uns herein.

Ab und zu hielt das Gefährt, dann stiegen die beiden Männer ab, hoben die Räder und schoben uns aus irgend einer Schneewehe heraus, nach einer Weile unerträglichen Wartens ging es dann weiter. Ich war bereits trotz meines dicken Pelzmantels zum Eiszapfen geworden, aber das machte mir weiter keine Sorge, – und merkwürdig – ich hatte in dem Augenblick auch keine Gedanken für oder Hartwig, ich dachte nur an Gisela.

»O sprechen Sie doch ein Wort,« bat ich sie.

Gisela streichelte meine Hand.

»Kerlchen, wie ist er elend geworden!« sagte sie und brach in bitterliches Weinen aus.

Ich umschlang sie, und es kümmerte mich nicht, daß mein Mantel dabei von den Schultern fiel.

»Wie gut sind Sie!« rief ich. Ich glaube nicht, daß ich mitgegangen wäre!«

»Doch, doch!« meinte sie hastig, »unser Kerlchen wäre schon mitgegangen. Weiß ich denn selbst, wie mir geschah? Ich hatte nur das eine Gefühl, »du darfst nicht klein sein.«

Nein, sie zeigte sich wahrhaft groß, die kleine verkrüppelte Gisela; in diesen angstvollen Stunden in dem dunklen Wagen lernte ich ein wundersam gutes Herz kennen.

Als wir endlich vor dem kleinen, grauen Hause hielten, saßen wir noch ein Weilchen still im Wagen, denn niemand öffnete ihn, und meine erstarrten Hände versuchten vergeblich die vereisten und verschneiten Fenster herunterzulassen.

Nach einer geraumen Weile erschien der Kutscher.

»Na, da muß ich Sie ja woll erlösen,« brummte er, »Herr von Hartwig hat ja rein vergessen, daß Sie hier im Eiskeller sitzen, O Herr Jesus, was vor'n Weihnachtsfest!«

Wir gingen durch das schmale Vorgärtchen, Gisela klammerte sich an mich an und zeigte auf die zwei kleinen Fenster zu ebener Erde, wo das Schlafzimmer lag, – ich hatte ihr ja so genau alles geschildert.

»Kerlchen – o mein Gott, Kerlchen!«

Nie beiden Fenster standen offen, der starke Wind hatte die weißen Vorhänge erfaßt und sie hinausgetrieben, dort blähten sie sich und flogen geisterhaft auf und nieder.

Im Hausflur kam uns Doktor Gieseke entgegen.

»Gott Lob und Dank, daß Sie da sind,« raunte er uns zu, und ich sah, daß der sonst so Ruhige ganz und gar erschüttert war.

Ich wollte ins Schlafzimmer treten, um meine Inge zu begrüßen, aber der Doktor nahm sacht meine Hand vom Türgriff.

»Morgen,« sagte er, »morgen.« Die Tränen liefen ihm über das Gesicht. »Wir wollen den unglücklichen Mann da drinnen mit ihr allein lassen. Kommen Sie!«

Er öffnete das Wohnzimmer. Die kleine Studierlampe mit dem grünen Schirm davor, beleuchtete ein friedliches Bild. Felix' Bettchen war ins Stübchen hineingestellt worden, Bubi schlief und hielt eine Fahne fest in der Hand, vor ihm auf der Bettdecke lagen Bleisoldaten und ein Bilderbuch.

Die junge Magd, die am Tisch saß, hatte den Kopf auf die Arme gelegt und schlief gleichfalls.

»Wir wollen sie ruhen lassen,« sagte der Arzt, »sie hat heute wacker ihre Pflicht getan.«

Ich hörte kaum, was er sprach, ich stand und starrte auf einen kleinen Wäschekorb, der da auf zwei Stühlen ruhte und mit einem blauen Schleier verhüllt war.

Doktor Gieseke trat zu mir:

»Frau Inges Vermächtnis!«

Mit so tiefem, erschütterndem Ernst sprach er das aus, daß ich sofort alles begriff.

Frau Inge war tot, – das große, wonnige Glück in dem Häuschen jäh zerstört. O wie tat mir das Herz weh!

Gisela sah mit einem unbeschreiblichen Gesichtsausdruck auf die beiden mutterlosen Kinder, Ob sie daran dachte, wie oft sie in den vergangenen Jahren das Schicksal um Strafe für den Schuldigen angefleht hatte, und wie grenzenlos hart die Vergeltung nun ausgefallen war? Wie in unerträglichem körperlichen Schmerz wand sie ihre Hände ineinander, dann trat sie an das Bettchen des Knaben und schaute lange und forschend in sein holdes Gesicht.

Er schlief ruhig und fest, aber unter den eindringlichen Blicken schien er unruhig zu weiden; plötzlich warf er sich herum:

»Mutti!« rief er sehnsüchtig.

Gisela strich liebkosend über sein Köpfchen, dann richtete sie sich wie in einem plötzlichen Entschluß straff aus und schritt, ohne das Wort an uns zu richten, aus der Tür.

Wir hörten sie sacht das Sterbezimmer öffnen und schließen und hatten beide nicht den Mut, sie zurückzuhalten.

Es war eine furchtbare Nacht.

Draußen tobte noch immer der Sturm, als wollte er ganz Sandkrug forttragen; ich fror bis ins innerste Mark, denn der eiserne Ofen war ausgebrannt, und die Magd schlief fest.

»Armes Kerlchen!« tröstete der Doktor mitleidig, »Sie müssen unbedingt die Karoline wecken, damit sie hier frisch Feuer einlegt und Ihnen außerdem etwas Warmes braut. Ich selbst muß jetzt fort, trotz Schnee und Sturm, ich hab' da in der Nähe noch ein armes Weib, das mit Schmerzen auf den Arzt wartet. Ich komme aber mit dem Morgengrauen noch einmal her und bringe die Wärterin mit. Tapfer, Kerlchen!«

Er ging hinaus, fauchend riß ihm der Sturm die Haustüre aus der Hand, krachend flog sie ins Schloß.

Karline fuhr jäh aus dem Schlummer, auch Felix und das Kleinchen regten sich.

Die Magd war nach blödem Umherstarren sofort wieder in Schlaf gefallen, Felix desgleichen, nur das Wimmern des Kleinchens dauerte fort und machte mich hell und wach und tapfer.

Ich lief in die Küche, holte Heizmaterial, schleppte alles in die Stube, entfernte die Asche aus dem Ofen, und bald prasselte wieder ein helles Feuer darin. Dann ging's wieder zurück in die Küche, wo ich schöne Milch im sauberen Steintopf fand, und ich besann mich ein Weilchen, daß so ein winzig Ding wohl verdünnte Milch bekommen müsse. Ich goß also eine Mischung in ein Emailtöpfchen und setzte es drinnen zum Wärmen auf die Ofenplatte. Bei dieser Gelegenheit sah ich auch das kleine Schächtelchen aus Frau Inges Korb auf dem Nähtischchen hervorgucken, das sie mit süßem, strahlendem Lachen gezeigt, und in welchem doch weiter nichts Schönes als – fünf schwarze »Gummischnuller« lagen. Ich nahm einen solchen heraus, reinigte ihn in der Küche, holte aus der Speisekammer eine leere Bierflasche, die ich unermüdlich ausschwenkte und kam gerade wieder in das Zimmer, als die Milch aus dem Töpfchen steigen wollte. Dieses Unglück verhütete ich noch eben, aber nun galt es erst wieder, durch fortdauerndes Umgießen in einen kalten Topf der kochenden Milch die richtige Temperatur zu geben, was mir auch endlich gelang.

Dann füllte ich das Getränk in die Bierflasche, zog den Gummistöpsel über und begab mich triumpierend zu dem Wäschekorb, aus dem jetzt kein Wimmern mehr, sondern ganz energisches Schreien tönte.

Sobald ich aber das schwarze Ungetüm in dem winzigen Mäulchen untergebracht hatte, war Kleinchen still und sog tapfer darauf los, aber nach kaum einer Viertelminute fing das Geschrei wieder an.

Mir brach der Angstschweiß aus, ich hob die Bierflasche schließlich senkrecht in die Höhe, aber es half alles nichts, wie ich denn das auch reumütig einsah: ich hatte sowohl Kleinchen als auch der Flasche zuviel zugemutet, – es war kein Loch im »Schnuller«.

Nun nahm ich eine Stecknadel, stach vorsichtig in das Gummi, und reichte es aufs neue hin, aber ohne Erfolg.

Wieder ein Minütchen des Besinnens, währenddem Kleinchen die Welt jämmerlich zu finden schien, dann nahm ich eine Stricknadel aus dem Nahkorb, hielt sie lange über die Lampe und – brannte mir selbst ein abscheuliches Loch in die Hand, denn ich hatte die Stricknadel am verkehrten Ende angefaßt, während ich den Schnuller suchte, den ich inzwischen verlegt hatte.

Er war, wahrscheinlich um der Quälerei des Brennens zu entgehen, unter den Tisch gehüpft und von dort weiter unter Sofa oder Schrank, denn trotzdem ich mich platt auf die Erde legte und alles ableuchtete, konnte ich nichts entdecken.

So holte ich mir den zweiten Pfropfen aus dem Kästchen. Wieder glühte die Stricknadel – und eine Riesenöffnung im Gummi verbreitete eine wahre Wolke von abscheulichem Duft. Ich nahm sofort an, daß Kleinchen sich weigern würde, an diesem Ungetüm zu saugen, deshalb stürzte ich wieder in die Küche, wusch beide Brandwunden sauber aus, wobei ich beinahe schrie, während der Schnuller sich ruhig verhielt, und tauchte letzteren auch noch in Puderzucker, um Kleinchen liebevoll zu täuschen.

Dieses war inzwischen wieder eingedämmert, aber ich glaubte ihm doch nun Nahrung schuldig zu sein und schob die Flasche in das kleine Mündchen.

Herr des Himmels, Kleinchen schluckte und schluckte, und die Milch ergoß sich in Strömen aus dem Riesenloch ins Mäulchen und sofort wieder aus dem Mäulchen über die ganze Wäsche in das Bettchen hinein.

Das nahm nun Kleinchen sehr übel und sein Gesichtchen spielte in allen Farben, was mir eine wahnsinnige Angst einjagte. Ich hob seinen kleinen Rücken etwas hoch, schob meinen Arm darunter und versetzte das Persönchen in schaukelnde Bewegung, was zur Folge hatte, daß Kleinchen Luft kriegte und zur natürlichen Hautfärbung zurückkehrte.

Wieder entnahm ich dem Kästchen einen neuen Schnuller, aber jetzt war ich auch schon gescheiter geworden und warf die Stricknadel verächtlich zu ihren Schwestern, holte mir eine sehr vernünftige Stopfnadel, und deren angeglühte Spitze brannte ein tadelloses Löchlein in den Saugpfropfen.

Inzwischen war die Milch kalt geworden und mußte wieder in die Ofenröhre wandern, aber Kampf führt zum Sieg!

Noch ehe Kleinchen sich zum völligen Skeptiker auswachsen konnte, hatte es ein vernünftiges warmes Fläschchen im Arm, über das nasse Kissen war eine weiche Serviette gebreitet, und die nasse Leibwäsche hatte ich, so gut es gehen wollte, durch trockene Taschentücher unter- und überlegt.

Kleinchen schlief.

Auch mir wollten die Augen zufallen, aber der Gedanke an das Zimmer »da drüben«, in welchem zwei unglückliche Menschen die Totenwacht hielten, ließ mich nicht zur Ruhe kommen. Ein seltsames Grauen beschlich mich, das den Schlaf von mir scheuchte, und da ich wußte, daß vor den Gedanken, die in solchen Stunden über uns herfallen, nur Arbeit schützt, so suchte ich mir Arbeit.

Ich füllte einen Kessel mit Wasser, setzte ihn auf die glühende Platte des eisernen Öfchens und fing an, Kaffee zu mahlen.

Niemand kümmerte sich um mich, Hartwig und Gisela hatten wohl überhaupt meine Anwesenheit vergessen, und Karline war durch kein Geräusch aus ihrer Übermüdung aufzurütteln. Die Kirchenuhr von Sandkrug schlug vier Uhr, als die Hausglocke klang und Doktor Gieseke mit einer älteren Frau zurückkehrte.

Sie liefen beide auf den warmen Ofen zu, gänzlich erstarrt schienen sie zu sein, aber der Doktor sah doch erstaunt auf die noch immer schlafende Karoline, auf den gedeckten Kaffeetisch, auf die Kanne, der ein aromatischer Duft entstieg, auf das rosige Gesichtchen der Kleinsten, in deren Ärmchen die Bierflasche mit dem schwarzen Stöpsel ruhte, und er sah mich scharf an und fragte kopfschüttelnd:

»Haben Sie sich das alles allein ausgedacht?«

Ich nickte.

»Kerlchen, Kerlchen, man sollte Sie nehmen und gleich als Oberin in eine Kleinkinderbewahranstalt tragen, – das ist ja alles mit einer Umsicht angeordnet – – –«

Er besah sich die Bierflasche und das kunstreiche Loch im Stöpsel. Seine Augen strahlten.

»Nein, nein, ich kann mir doch noch etwas Besseres für Sie denken, als den Diakonissenberuf, – Ihnen schenkt gewiß unser Herrgott noch mal den besten Mann und – –

»Vierundzwanzig Kinder,« ergänzte ich ganz ernst, und der Doktor lachte auch nicht, nachdem er mich eine Weile ordentlich angeschaut, sondern sagte nur: »Kleines Mutterchen!«

»Aber nun wollen wir auch dem Kaffee alle Ehre antun, Mutter Schulz,« rief er der alten, netten Frau zu, »wir haben beide eine Stärkung verdient, und am heutigen Tage tritt noch viel Aufregendes an uns heran. Hat sich noch niemand von da drüben blicken lassen?«

Ich schüttelte traurig den Kopf.

»Herrgott, was soll aus dem Manne werden!« rief der Doktor schmerzlich. »Es ist gerade, als ob seine ganze Kraft in den zarten Händen gelegen hätte, die jetzt im Tode erstarrt sind. Kindchen, Kindchen, ich hab' schon viel Elend gesehen, aber ich fürchte mich buchstäblich, Hans von Hartwig ins Auge zu schauen. Er weiß, wie ich mich gemüht habe, dem Tode diese Beute abzujagen, ich bin seit vorgestern nicht aus den Kleidern gekommen. Aber hier war Menschenmacht umsonst – – wären wir doch nur erst über die nächsten Tage hinweg!«

Er schaute bekümmert in seine Kaffeetasse, die ich ihm inzwischen vollgeschenkt hatte und in den Trank, den ich »aus Liebe« gebraut, und Mutter Scholzen schlürfte behaglich und laut, verschmähte auch die Butterbrote nicht, von denen ich einige neben die dickbäuchige Kanne gelegt.

»Essen und Trinken hält Leib und Seel' zusammen, das is en Satz!« bemerkte sie philosophisch.

Ich beeilte mich, ihr wieder einzuschenken.

Sie streichelte meine Hand.

»Lange Haare, kurzer Verstand, das is en Satz!« fuhr sie fort. Aber hier heißt's: »Kurze Haare, langer Verstand!« Is auch en Satz! Nu, nu, mir kann's recht sein!«

Karline hatte während unserer Unterhaltung schon lange unartikulierte Laute ausgestoßen, sie räkelte sich auf dem unbequemen Stuhl herum und bei der Bemerkung von Mutter Scholz über lange Haare und kurzen Verstand fielen ihre beiden prächtigen, schwarzen Zöpfe herunter, daß sie bis auf den Fußboden hingen und eine treffende Illustration zu den Worten bildeten. Sie riß ihre Augen unglaublich weit auf und suchte die Situation zu erfassen und als sie besonders den Doktor und die beiden Kinderbetten genügend angestiert hatte, brach sie plötzlich in ein so ohrbetäubendes Geheul aus, daß ihr der Arzt erschreckt den Mund zuhielt.

»Was fällt dir ein,« herrschte er sie an. »Geh' ins Bett und schlaf noch ein paar Stunden, deine Kräfte werden noch gebraucht. Zeig', daß du ein vernünftiges Mädchen bist,« fuhr er begütigend fort. Hast eine gute Herrin verloren, jetzt kannst du dich dankbar erweisen.«

»Ich kann nicht in meine Kammer gehen,« wimmerte Karline. Die Frau »wandelt« heute noch überall herum und sieht nach dem Rechten, ich fürchte mich zu Tode.«

»Aberglauben und kein Ende,« rief Doktor Gieseke zornig mit kaum beherrschter Stimme, »wollte Gott, sie könnte hier noch nach dem Rechten sehn!«

»Ich will mit ihr gehn,« warf ich ein, nahm das zitternde Geschöpf am Arm und verließ mit ihr das Zimmer.

Wie ein kleines Kind mußte ich sie ins Bett bringen, und als sie endlich lag, dauerte es auch nicht lange, bis der Schlaf sie wieder übermannte. Ich huschte die Treppe hinunter, aber unten hätte ich auch beinahe einen lauten Schrei ausgestoßen, denn im fahlen Lichte eines trüben Lämpchens kauerte eine Gestalt, über die ich um ein Haar gefallen wäre

Es war Gisela.

»Ich möchte heim, Kerlchen,« sagte sie leise und müde, »es braucht mich niemand hier.«

»Kommen Sie mit herein,« bat ich, »Sie sind eiskalt und halb erstarrt, woher wußten Sie, daß ich nach oben gegangen war?«

»Ich bin seit ein paar Stunden hier,« entgegnete sie frostbebend, »ich konnte nicht in jenem Zimmer bleiben, konnte nicht mit ansehen – – – und er merkte es auch gar nicht, daß ich gleich wieder ging.«

»Und so lange haben Sie hier in Kälte und Zugwind gelauert?« fragte ich vorwurfsvoll

Sie ließ sich willig von mir ins warme Zimmer führen. Hier hatte sich inzwischen das Bild etwas verändert. Mutter Scholz war mit Kleinchen beschäftigt und tat ihm alle möglichen Guttaten mit reiner Wäsche an, Doktor Gieseke saß an Bubis Bettchen, strich mit zitternder Hand über das Lockenköpfchen, zu bewegt, um antworten zu können auf die unermüdliche, sehnsüchtige Frage: »Wo ist Mutti?«

Als der Doktor Gisela erblickte, sprang er auf, die Weichmütigkeit auf seinem Antlitz war mit einem Schlage fortgewischt.

»Sie werden sich jetzt sofort hier aufs Sofa legen,« gebot er.

»Ich will fort,« antwortete sie und dabei hing sie schwer und müde zum Umfallen an meinem Arm.

»Davon ist gar keine Rede,« erwiderte der Arzt.

»Ich habe meinen Wagen nach Hause geschickt, Kutscher und Pferde ruhen nach diesem anstrengenden Tage den sie beinahe nur im Schneesturm verbracht haben. Wir betten Sie jetzt so gut es gehen will, und Sie schlafen noch ein paar Stunden, verstanden?«

Wir legten Gisela auf das breite, bequeme Schlafsofa, Doktor Giseke schenkte ihr selbst von dem Kaffee ein, nachdem er vorher ein kleines, weißes Pulver in der Tasse verrührt hatte, ohne daß Gisela etwas davon gewahrte.

»So, und nun trinken Sie!«

Sie schlürfte gehorsam den heißen Trank und streckte fröstelnd die matten Glieder aus.

»Weshalb er nur die Gisela geholt hat,« raunte mir der Doktor flüsternd zu, – »sie hätte ja doch nichts helfen können, bei ihrem schwachen Körper.«

»Hartwig war ganz verzweifelt,« bemerkte ich. Vielleicht wußte er gar nicht, was er tat, aber es war doch gut, daß ich mit herkam.«

»Freilich, sehr gut war's. Aber was beginnen wir jetzo mit dem Weiblein, womit ich das Kerlchen meine. Am liebsten steckte ich es auch für ein paar Stunden fort, aber das Fremdenzimmer liegt oben im Giebel, ist wohl gar nicht zurecht gemacht – – –«

»Und ich gehe auch nicht, ich bin nicht müde.«

Dr. Giseke lächelte mild über diese Lüge, denn meine Augenlider waren schwer wie Bleideckel, aber ich blinzelte tapfer unter ihnen hervor.

»Jugend braucht Schlaf, das is en Satz,« ließ sich Mutter Scholz hören, »setzen Sie sich man in diesen Schaukelstuhl und besehn Sie sich inwendig, Fräulein, ich übernehme hier 's Regiment, falls der Herr Doktor auch schlafen wollen.«

»Nein, nein, Mutter Scholzen, ich wache mit Ihnen,« entgegnete der Doktor, – wer weiß, ob nicht Herr von Hartwig doch nach mir verlangt. Legen Sie noch ein Scheit Holz in den Ofen, wir haben's verdient und dann lassen Sie uns den Rest dieser schaurigen Nacht verschwatzen. Ins Gerede werden wir zwei alten Krümper ja wohl nicht mehr kommen.«

»Die Welt is schlecht von Anbeginn, das is en Satz!« nickte Mutter Scholz, und dann warf sie ein Scheit in den Ofen, daß die Funken hell aufsprühten.

Noch manches sagte sie außerdem, und der Doktor pflichtete ihr bei, immer leiser und undeutlicher wurden ihre Stimmen, immer nebelhafter die Gegenstände im Zimmer, – o, es war süß, die Augen zu schließen nach den Anstrengungen des Tages, des Abends –, der Nacht. Christnacht! Niemand von uns hatte mehr daran gedacht, daß es Weihnachtsabend sei, und doch lag dort auch ein Christkindchen in der Wiege – – – ich faltete meine Hände. – – – – –


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