Felicitas Rose
Kerlchen als Anstandsdame
Felicitas Rose

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

 

Mich weckte ein eiskalter Luftzug und hastig fuhr ich empor. Verwirrt sah ich um mich. Es war heller Tag. Man hatte den Schaukelstuhl mit mir zusammen in eine Ecke geschoben, ohne daß ich auch nur das Geringste gemerkt hatte. Das Zimmer war sauber aufgeräumt, Felix' Bett war leer, ebenso das Sofa, auf dem Gisela geruht; neben der Korbwiege, die mit einer Rollschutzwand umgeben war, stand eine kleine Badewanne, die wohl schon ihre Dienste getan hatte, denn Kleinchen war wieder eifrig mit Trinken beschäftigt, und beide Fensterflügel standen offen, um die frische Winterluft hereinzulassen.

Mit dem Rücken nach mir zu saß der Doktor, eine Menge Briefschaften lagen neben ihm, und eben studierte er ein Telegrammformular. Dann stand er auf, um die Fenster zu schließen, und ich wollte ihm gerade den Gutenmorgengruß leise zurufen, als Hartwig eintrat.

War es Hartwig? Oder nicht vielmehr ein alter, gebeugter, grauhaariger Mann, dessen geisterhaft blasse, gramverzerrte Züge das grelle Tageslicht unbarmherzig beleuchtete?

Der Doktor ging auf ihn zu und rüttelte ihn.

»Herr des Himmels, Mann, Herr von Hartwig, wie sehen Sie aus? Sie wüten ja gegen sich selbst, Sie müssen daran denken, daß Sie noch Pflichten haben – gegen andere – gegen Ihre Kinder – –«

Hartwig regte sich nicht, er starrte geradeaus, und seine Augen waren schreckhaft weit geöffnet, als sähen sie durch die Wand hindurch – in etwas Furchtbares hinein.

»Hier ist Ihr Kind,« fuhr der Doktor fort und zog ihn mit energischem Griff zu dem Bettchen hin. »Frau Inges heiliges Vermächtnis für Sie! Schauen Sie das liebe Ding doch wenigstens an, an, versündigen Sie sich nicht, es kann noch ein Segen für Sie werden.«

Ein qualvolles Aufstöhnen war die Antwort.

»Du lieber Gott, ja wohl, ich weiß, es ist ein schwacher Ersatz, und ich bin auch nicht der Mensch dazu, Ihnen heute schon zu sagen: »Der Herr hat's gegeben, der Herr hat's genommen, der Name des Herrn sei gelobt,« aber Sie sollen sich ermannen und die Zukunft ins Auge fassen, dieser Zustand darf nicht andauern, er untergräbt Ihre Gesundheit, – er macht Sie tot!«

»Wär ich's !!!«

»Schämen Sie sich! Und was wird aus den Kindern? Herr von Hartwig, Sie wissen ja garnicht, was für einen Schatz Ihnen Frau Inge hinterlassen hat; soll ich alter Junggeselle es Ihnen sagen? Und nun hören Sie zu. Hier ist das Telegramm an Ihren Freund, es soll gleich fort, dann kann er heute Abend noch hier sein. Haben Sie keine Verwandten zu benachrichtigen?«

»Nein.«

»Auch von Frau Inges Seite nicht?«

»Nein.«

Der Doktor legte ihm die Hand auf den Arm und schaute tief bekümmert in das schmerzversteinte Gesicht

»Ihren lieben Jungen hat sich die Frau Pfarrerin vorhin geholt, er soll bei ihr bleiben, bis – bis Sie einen festen Entschluß gefaßt haben, Besuch lassen wir nicht herein, ich habe strenge Weisung gegeben, ist's Ihnen recht so?«

Keine Antwort.

»Der Pfarrer war auch vorhin da, er fragte an, ob es Ihnen recht sei, wenn die Kleine morgen getauft wird, ehe – ehe – – –«

Keine Antwort.

Der Doktor wandte sich ab.

»So will ich denn jetzt gehen. Die Wärterin ist draußen, sie wird Ihre Kleine vorläufig pflegen, bis wir eine zuverlässige Wirtschafterin ermittelt haben. Und dann – ist auch noch das Kerlchen da.«

»Jawohl, ich bin noch da,« beeilte ich mich hinzuzufügen und sprang von dem Schaukelstuhl auf.

Hartwig sah mich an, aber es war garnicht, als ob er mich erkannte, ich hätte laut aufweinen mögen, – nie hatte ich solches Leid auf einem Menschenantlitz gesehen.

Ich begleitete den Doktor zur Tür.

»Kerlchen, Kerlchen,« ermahnte er, »jetzt kommt wieder einmal eine Mission für Sie. Setzen Sie alles daran, damit diese stumme Verzweiflung aufhört, sorgen Sie auch dafür, daß er irgend etwas zu sich nimmt, und wenn es geht, lassen Sie ihn vorläufig nicht wieder ins Sterbezimmer, – ich habe Angst um ihn. Bald bin ich wieder da, es ist so unendlich viel anzuordnen, Hartwigs Zustand versagt mir jede Hilfe, Gott befohlen, Kerlchen!«

Damit ging der Doktor und ließ mich allein mit der schweren Aufgabe.

Hartwig war zum Tisch getreten und ließ sich schwer auf den daneben stehenden Stuhl fallen.

Ich holte aus der Ofenröhre den Kaffee, der ganz frisch von Mutter Scholz zubereitet schien, und schenkte uns beiden ein, dann strich ich ein Buttersemmelchen und schob es ihm hin.

Er achtete gar nicht darauf.

Ich streichelte seine eiskalte Hand, die zur Faust geballt auf dem Tische lag.

»O, ich weiß wohl, wie es Ihnen zu Mute ist,« sagte ich, »ich hab es selbst durchgemacht, als mein Väterchen starb. Damals war mir's auch gerade so, als wäre mein Herz herausgerissen, und ich durfte mich doch nicht zu ihm legen ins Grab, ich mußte gleich fort und arbeiten und was verdienen und ich bin doch nur – ein Kerlchen.«

Über Hartwigs Gesicht flog ein Zucken, als hätte ich ihm tüchtig weh getan, aber er sprach kein Wort. Eine Weile waren wir ganz still, dann fing Kleinchen leise an zu weinen.

Hartwig erhob sich hastig und schritt der Tür zu, ohne auch nur einen Blick auf den Korb zu werfen, aus dem die wehmütigen Tönchen drangen.

Mich befiel eine heftige Angst.

Wenn er sich jetzt wieder in das Zimmer einschloß, in dem die Tote lag, dann war gewiß alles verloren, und der alte Doktor würde mir nie mehr eine Aufgabe anvertrauen.

Ich vertrat Hartwig den Weg.

»Sie dürfen jetzt nicht hinausgehen,« bemerkte ich fest, »Sie müssen mir helfen.« Ich sprang zum Korb, nahm hastig das kleine Bündel heraus, und ehe sich der Vater noch besinnen konnte, hatte ich ihm das hilflose Geschöpfchen in die Arme gelegt, er mußte schon zugreifen, wenn es nicht auf die Erde fallen sollte.

Ich wagte nicht in sein Gesicht zu sehen, sondern nahm schnell die erkaltete Milchflasche an mich und lief damit in die Küche.

Mit einem frischen Fläschchen bewaffnet, kam ich dann wieder herein, scheu streifte mein Blick den Vater und sein Kind.

Er hatte sich wieder am Tisch niedergelassen, hatte nicht, wie ich fürchtete, das Kleinchen in sein Bettchen zurückgelegt, sondern hielt es umfaßt, und seine Augen waren auf das winzige Gesichtchen geheftet, als wolle er etwas herauslesen.

Kleinchen weinte nicht mehr, es war wieder eingeschlafen.

Ich ordnete sorgsam das Bettchen, dann trat ich wieder zu den beiden.

»Nicht wahr, es ist ganz goldig süß?« fragte ich und beugte mich zärtlich zu der Kleinen. »Sie müssen gar nie daran denken, daß Sie nun auch sterben möchten, denn die Kinderchen haben doch niemand auf der Welt, als Sie und mich und den Erich, aber der kann diese nicht zu sich nehmen, wenn Sie tot sind, und wenn ich sie nehme, weiß ich gar nicht, ob ich genug für uns alle verdienen kann – – –«

Hartwig preßte heftig meine Hand, während ich über mich selbst erschrocken war, daß ich ihm so die Leviten las.

Da ging die Tür auf, und die Magd brachte einen Brief herein.

»Aus Altenhof,« sagte sie und ging gleich wieder hinaus.

Ich nahm Kleinchen aus Hartwigs Armen, bettete es sanft in den Korb, während Hartwig den Brief öffnete und las.

Eine Weile hielt er ihn in der zitternden Hand, dann flog das Papier zur Erde, beide Hände schlug Hartwig vor das Gesicht, und nun endlich kamen die erlösenden Tränen.

Ich wäre so gern hinausgegangen, aber ich wagte es nicht, mich vom Platze zu rühren.

Nach einer geraumen Zeit bückte sich Hartwig und reichte mir den Brief hin. Er atmete schwer, es war, als ginge ein Sturm über ihn hin.

Ich erkannte Giselas große, eckige Handschrift und las:

»Gib mir Deine Kinder, Hans von Hartwig, vertraue sie mir an, ich will sie behüten, will sie hegen, wie sie die Heimgegangene gehegt hätte. Du darfst nicht hier bleiben nach dem größten Schmerz Deines Lebens, hier in dem engbegrenzten, Dir so unsympathischen Wirkungskreis.

Du würdest es jetzt nicht ertragen ohne sie. – Aber Deine zarten Kinder dürfen und können nicht mit Dir ins Ungewisse hinaus, deshalb gib sie mir!

Wenn Du glaubst, einst gegen mich gefehlt zu haben, jetzt kannst Du es wieder gut machen, durch Dein Vertrauen. Gott schütze Dich!

Gisela von Altenhof.

Ich küßte den Brief.

»O, wie sie gut ist, die Gisela? Nun ist schon alles viel heller, nicht wahr,« fragte ich unruhig, »nicht wahr, Sie tun alles, was Gisela sagt?«

»Alles!« entgegnete er mit halb erstickter Stimme; ich bringe die Kinder ihr selbst hin – – o Kerlchen – – – – – – –

Aber dazu kam es nicht. Der gute Doktor erschien wieder, er nahm die ganze Sache in die Hand, und schon am Nachmittag saß ich mit Mutter Scholz und Karoline und beiden Kindern im Wagen und fuhr gen Altenhof.

Ganz väterlich zärtlich hatte mich der gute Doktor gestreichelt, als er sah, wie Hans von Hartwig seine Kinderchen in die Arme nahm und küßte, er dachte wohl Wunder, was ich getan hätte, und ich hatte doch nur den Verzagten tüchtig ausgescholten. –

Nach all dem grenzenlos Traurigen kam doch immer wieder ein heller Lichtblick, und der hellste traf mich am dunklen Abend des ersten Weihnachtsfeiertages, als ich meinen Erich-Bruder im Arme hielt.

Niemand hatte mir davon gesagt, der Doktor, welcher das Telegramm an Erich abschickte, hatte nur an »Hartwigs Freund«, aber nicht an »Kerlchens Bruder« gedacht, ich war ganz und gar überrascht, ach und so grenzenlos froh, daß ich – – – bitterlich zu weinen anfing.

So bin ich nun, der richtige Till Eulenspiegel, ein erzdummes Kerlchen!

Ich fand den Erich so sehr ernst geworden, so tief die Falte zwischen den dunklen Brauen, und sein Mund unter dem starken, blonden Schnurrbart sah aus, als hätte er das Lachen ganz und gar verlernt.

Wie zärtlich er zu mir war!

»Mein Terle – Terle! Liebling! Fee! Gottlob, du bist ein ganzer Kerl geworden! Wenn dich Väterchen sehen könnte!«

Ach, die liebe Stimme mal wieder zu hören! Es tat so wohl, und ich trocknete meine Tränen, die ja auch halb Freudentränen und halb – alles Mögliche waren.

Hans von Hartwig war auch mitgekommen, aber ich sprach ihn nicht mehr, er war eine halbe Stunde mit Gisela und seinem Bubi zusammen wohl in schwerer, ernster Unterredung, und während dieser Zeit saßen Frau von Altenhof, Erich und ich und bewachten Kleinchens Schlaf, und die Schloßherrin erzählte so gute, liebe Sachen von mir, natürlich viel, viel zu sehr von ihrer Herzensgute beeinflußt.

Dann fuhren die beiden Freunde wieder nach Sandkrug, einen stummen Händedruck wechselte ich mit Hartwig – ob ich ihn wohl je wiedersehen werde?

Am andern Tage betteten sie unsere liebe Frau Inge in die tiefverschneite Erde, nur ganz wenige Menschen gaben ihr das letzte Geleit, so hatte es Hartwig gewollt. Aber beinahe jeder der Beamten und Arbeiter der großen Fabrik hatte eine kleine Blumenspende geschickt, und sei es auch nur eine selbstgezogene Blume aus dem Zimmer oder einen Stechpalmenkranz aus dem nahen Walde, sie trauerten alle in ihrer Art um das holde Geschöpf, das wie ein lichter Sonnenstrahl über die Erde gehuscht war. – Am fünften März, da ist ihr Geburtstag, da wollen wir ihr einen schlichten Thüringer »Findlingstein« auf das Grab setzen, darauf soll nichts stehen als ihr Name und die schlichten Worte:

»Du kamst, Du gingst, ein kurzer Gast
In diesem armen Erdenland,
Woher, wohin, – wir wissen nur,
Aus Gotteshand, in Gotteshand.«

Gleich nach der Beerdigung reiste Erich mit Hartwig nach Berlin. Erichs Oberst ist ein großer Gönner von Hartwig, er hatte ihn auch nach seiner Heirat niemals ganz aus den Augen gelassen, aber Hartwig vermied jede Beziehung zu seinen früheren Kreisen.

Nach kaum acht Tagen war das kleine, graue Häuschen ganz verlassen und verwaist, durch die tiefen Furchen des Weges von Sandkrug nach Altenhof ächzte ein Möbelwagen und brachte die liebe, trauliche Einrichtung von Hans und Inge in das Altenhofer Schloß. Dort sollte sie stehen bleiben für Bubi und Kleinchen, oder bis Hartwig wiederkehrte.

Er hatte eine Stelle auf der Farm eines großen Handlungshauses in Rio Grande de Sul angenommen, dem ein Schwager des Obersten K. vorstand. »Vielleicht gesundet er dort,« schrieb mir Erich, der ihm bis aufs Schiff das Geleit gegeben hatte. »Die Menschen werden dort anders bewertet, als hier, er findet ganz andere Verhältnisse, findet heiße Arbeit, aber auch, will's Gott, volle Befriedigung.«

Und wählend nun der einsame Mann sein Leid hinaustrug in die Ferne, Heimat und Glück hinter sich lassend, blühte in Schloß Altenhof ein neues, nie gekanntes Leben auf. Bubis sehnsüchtige Fragen nach Mutti verstummten allmählich, denn ich hatte ihm gesagt, daß »Mutti« im Himmel sei und von dort auf ihren kleinen Felix herniederschaue.

Nun saß er stundenlang am Fenster, sah hinauf in den grauen, düstern Himmel und rief mir jedesmal glückselig zu, wenn sich die dunklen Wolken einmal teilten:

»Mutti schaut!«

»Mutti« war für ihn nur die eine, aber »Mutter« nannte er alle, die es gut mit ihm meinten, und wer hätte es nicht gut mit ihm gemeint! Da war »Mutter Lisbet«, »Mutter Gisela«, »Mutter Scholz«, »Mutter Tine« und sogar »Mutter Karline«, aber er war nicht zu bewegen, zu mir »Mutter Felicitas« zu sagen, trotzdem wir zwei Unzertrennliche waren, er nannte mich unentwegt und mit klingender Stimme: »Das Kerlchen!« Auch wenn er von mir sprach, sprach er nur von »das Kerlchen«, – weshalb – dahinter sind wir nicht gekommen. Und wahrhaftig, – es war, als hätten Mutter Lisbet und Mutter Gisela mit dem neuen Titel auch ganz neue Menschen angezogen, sie waren nicht mehr krank, nicht mehr scheu, nicht mehr menschenverachtend, – sie hatten keine Zeit mehr dazu, glaub' ich. Felix und Kleinchen hielten uns aber auch den ganzen Tag in Atem.

Erst wenn sie abends endgültig zur Ruhe gebracht waren, kamen wir andern zu einer ordentlichen Unterhaltung über die Ereignisse des Tages, zur Besprechung von Zukunftsplänen. Vorher sprach Felix immer noch sein Abendgebetchen, sang süße, kleine, fromme Lieder, die ihn »Mutti« gelehrt, und nur ich durfte ihm die Händchen falten und an seinem Bettchen sitzen, Frau von Altenhof und Gisela blieben abseits stehen, aber ich sah doch, wie tiefbewegt beide waren von den schlichten Worten des kleinen Beters.

Ich hauste schon längst nicht mehr allein in den »Rumpelkammern«.

Das ganze Schloß ist umgesiedelt.

»Kinder brauchen Licht, Luft und Sonne!«

Diese Parole gab Doktor Gieseke aus, und bald wurde es auch das Feldgeschrei.

Jetzt stehen in Mutter Lisbets früherem Salon und im Wohn- und Speisezimmer die alten Bücherscharteken, und wir alle wohnen in den sonnigen Rumpelkammern, aus deren großen Fenstern man so weit, so weit hinausschaut ins Thüringer Land.

*


 << zurück weiter >>