Felicitas Rose
Das Haus mit den grünen Fensterläden
Felicitas Rose

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11.

B. im Juli 19..

Mein geliebtes Großje! Ich schreibe Dir heute an meinem Geburtstage, an dem ich mündig wurde. Daß wir den Tag nicht zusammen verleben durften, war traurig. Und ich hatte auch sonst nicht viel zu lachen. Onkel Denso war betrübt, mißmutig, dedrückt, ach, es war kein schöner Tag. Und man müßte doch mit einundzwanzig Jahren noch tüchtig lachen können und dürfen. Tante Denso zürnte ihrem Mann, weil er mir die Familiendiamanten übergeben hatte, die Du ihm nach meines Vaters Tode zur Aufbewahrung übergabst. Und ich war so bockbeinig, sie an meinem Geburtstage zu tragen. Natürlich nur den Ring und die wunderliche eigenartige Halskette, die mir nun einmal ans Herz gewachsen ist, seit ich als lüttjes Gör sie zum erstenmal an meines Mütterchens schlankem Hälschen sah. – Ach Großje liebes, – wie kann man doch so einsam sein in einem reichen, schönen Hause! Oheim Denso und ich hatten es uns lieb ausgedacht an diesem meinem einundzwanzigsten Geburtstage recht unterzutauchen in Stille und Heimeligkeit. Tante Denso hatte Wochenendgedanken mit ihren Freunden, und wir beiden wollten uns vom braven Schofför Valentin mit vierzig Kilometer Langsamkeit an ein stilles, schönes Fleckchen fahren lassen, um dort Schach zu spielen und einen Mokka zu trinken. Aber da »hett'n Uhl setten«, was Tante anbetraf. Und sie besann sich um, und lud wildfremde Menschen zur Feier meines Geburtstages ein, das heißt, einer davon sollte mir auf ihren Wunsch gar nicht fremd sein, sondern sehr nahe treten. Aber nicht wahr, Großje – solch Vogelscheuche und arm Stackel ist doch Dein Muthchen nicht, daß es sich verheuern lassen müsse an einen Baron, der schon das sechzigste Jahr erreicht hat. Für Tante Denso ist Rang, Name, Geld ein Dalai Lama, vor dem sie auf dem Boden kraucht. Wie häßlich spreche ich. Ach, sei mir gut, Großje! Versteh mich. Du weißt, Frau Sanftmut hat nicht gerade in Person bei mir Pate gestanden, und wenn solch ein herrlicher Plan so öde Gestalt annimmt, dann werde ich immer Frontsoldat.

Denk recht drüber nach, Großje. Auf der einen Seite als Feierort ein Dörflein in der B....schen Heide, dazu Mokka und Schach mit dem ritterlichsten, gütigsten Oheim von der Welt. Auf der anderen Seite ein zweistündiges Diner mit einem Tischnachbar, dem Tante Denso mich durchaus aufhalsen will. Wie könnte mir der Ärmste leid tun, wenn er und ich »ja« sagten. Er ist vierzig Jahre älter, als ich. Aber er ist Baron von Twieler. Für Tante Denso also genug des Glückes.

Wie waren dagegen die Tage in Berlin schön! Mein einziges, geliebtes Berlin! Mein trautes Haus mit den grünen Fensterläden! Und Du darinnen. Und Deine nette mütterliche Wirtschafterin, die uns Drei so köstlich verwöhnte!

Dich und mich und den ernsten, treuen Freund Schmiedemeister. – Weißt Du, ich habe tüchtig Heimweh nach Euch beiden. Daß Bernd im Ausland war und noch ist, und noch Jahre bleibt, war eigentlich auch ganz schön, denn ich weiß gar nicht mehr, wie er eigentlich aussieht. Daß er in seinen jungen Jahren, neunundzwanzig ist er ja wohl, schon so'n berühmter Baufritze ist, der alle Preise kriegt, das ist ihm und seinem lieben Vater wohl zu gönnen. Doch wir zwei beide hätten uns sicherlich beim ersten Wiedersehn sofort gezankt. Wir waren ja immer sozusagen die besten Feinde.

Und doch, mein Großje, von all den jungen und alten Burschen, die ich so im Laufe meiner einundzwanzig Lenze kennen lernte, war ...

So, jetzt bin ich im Begriff Unsinn zu reden und deshalb fange ich lieber an, Dich abzuküssen, Du einziges Großje mein!

Deine gehorsame Enkelin Erdmuthe.

Die Jahre waren an dem Schmiedemeister eher verjüngend, als zerstörend vorübergegangen. Seine stattliche Gestalt hatte sich wieder gestrafft, man sah ihm kaum den Sturm an, der vor zehn Jahren über ihn hinweggebraust war. Und das schneeweiße, volle Haar, das ihm das herbe Leid hinterlassen, stand gut zu seinem rassigen Gesicht mit den dunklen Brauen. Manch älteres Mädchen und manch junge Witfrau sah nach ihm hin, wenn er neben dem braven »Altmaxe«, den beiden jüngeren Gesellen und den drei Lehrbuben am Amboß stand und den Hammer niedersausen ließ, daß die Funken stoben. Frau von Denso liebte trotz ihrer geruhigen Achtzig dieses laute Kling-Klang der Schmiede, das mit seinem scharfen Rhythmus die ganze Straße beherrschte. »Nachbar Hartmann, warum heiraten Sie nich?« fragte wohl jeder Freund und Bekannte aus alter und neuer Zeit. »Allein sein is nich jut. Un wenn Ihr vornehmer Bernhard heimkommt, dann nimmt der sich was Junges, un Sie sitzen wieder uff'n Proppen. Machen Se zu, eh's zu spät ist.« Dann bekam der wohlwollend Ratende so einen abschließenden Blick aus den dunklen, ernsten Augen als Antwort, daß er »Leine zog«.– – Die Blumenfrau, Ecke Stromstraße, war sicher kein heurig Häslein mehr, aber sie war inzwischen Witfrau geworden, hatte tüchtig gespart und fühlte sich trotzdem einsam und kalt. »Denn Jeld wärmt nich«, sagte sie zu Frau von Denso, die sie manchmal heimsuchte, niemals ohne ihr einen schönen Blumenstrauß mitzubringen. »Mein Mann, was mein Mann war, der war sehr uffs Feld. Na, nu muß er die schweren Koffer von de neu Ankommenden im Himmel for umsonst schleppen. Ik denke mir det wenigstens, denn ik lege mir jetzt stark uff de Filo Sophie.

Diese »Filo Sophie« führte sie in Gedanken sanft zu ihrem stattlichen, ernsten Nachbar hin, der so ganz das Gegenteil von ihrem seligen Dienstmann war. Durch das viele Umgehen mit Blumen hatte sie sich auch Poesie angewöhnt, und aus Romanen war manch zarter Ausdruck an ihr hängen geblieben. Aber auf diesem Ohr schien der Schmied schwerhörig zu sein, und als sie ihm einmal eine Rose auf den Amboß legte und sanft kopfschüttelnd sprach: »Daß Sie nich heiraten, Herr Schmiedemeister, wird mich ewig ein schönes Rätsel bleiben.« – Da hatte er nur trocken gemeint: »Das soll 'n Wort sein!«

Und hatte die Rose seinem Altgeselln übergeben mit der Weisung, sie auf das Grab von Frau Ernstine zu legen. Ja, es gab wirklich noch Mannsleute, die ihrer Seligen die Treue hielten. Aber wärmen tat solche Treue »ebend ooch nich«.

Von seinem Bernhard bekam der einsame Vater mit großer Regelmäßigkeit schöne, gute, warme Briefe. Er war ein ganzer Mann geworden, und die ernstfrohen Studentenjahre hatten Vater und Sohn noch näher zusammengebracht. Der Abschiedsgruß der verewigten Frau Ernstine war schon schier auseinandergefallen, denn Bernhard hatte ihn in einem Ledertäschchen auf seiner heißen Jünglingsbrust getragen, und er tat es wohl jetzt noch als treuer Hüter eines Talismans. Daß der Bernhard schon so »jungerweis«, wie Frau von Denso sagte, etwas geworden war, das lag wohl zumeist an diesem treuen Mutterbrief. –

Die feinen Baupläne seines hochgeachteten Sohnes kannte Peter Hartmann sämtlich. Ja sogar alle Bauten selbst, sofern sie in deutscher Heimat ausgeführt waren. Und nun hatte man ihn ins Ausland gerufen. Den Bernhard Hartmann, den seine ehemaligen Schulfreunde und Kommilitonen immer noch Jumbo nannten. Und jetzt mit immer größerem Recht. Der sollte ja nun wohl gar schon Professor werden, wie man munkelte. Und der Altgeselle munkelte es täglich. – Wie fesselnd Bernhards Briefe waren! Und wie umfassend er die fremden Sprachen beherrschte, in denen er schreiben und reden mußte mit all den hochmögenden Herren des Auslandes. Aber der Schmied Peter Hartmann verwies sich selbst seinen unbändigen Stolz, denn all das Große, das Gute, das Künstlerische, das hatte der Jumbo nicht von seinem leiblichen Vater, einem Hartmann, bekommen, sondern von seiner seltenen Mutter. Von Peters Ernstine, die im Herzen des einsamen Mannes lichter und größer dastand als je zuvor. – Nur von Erdmuthe von Denso, von des Schmiedemeisters Augapfel und Herzenstrost schrieb Bernhard nie. Ging auch nicht auf gelegentliche Schilderungen über sie ein. Er war doch noch der alte Dickschädel. Und mit dem hatten ihn sowohl die Hartmanns, als auch die Hansohms erblich belastet. Die Alten in Birkbuschen hatten sich schon vor drei Jahren ganz still verzogen. Und zwar mitten hinein in den Schoß der rotbraunen Heide, die ein gutes, warmes Bett abgab für den müden Leib. An ein und demselben Tag waren »Philemon und Baucis« heimgegangen, wie es Tradition bei den Hansohms war, und der Schmiedemeister hatte ihnen noch einmal gedankt, daß sie seiner prächtigen Ernstine das Leben gegeben. Dann waren die müden Augen zugefallen, und Peter Hartmann hatte das schöne, stattliche Erbe für Jung-Bernhard in Empfang genommen und einen tüchtigen Pächter darauf gesetzt. –

Wie alles werden würde? Ob die tiefgeheimen Pläne in Peter Hartmanns Brust Leben gewinnen würden? »Eure Gedanken sind nicht meine Gedanken«, stand irgendwo in der Bibel. –

B., den 26. August 19..

Guter, lieber Freund Schmiedemeister! Ich bitte Sie inständig – kommen Sie gleich zu Ihrem armen Muthchen. Oheim Denso hat einen Schlaganfall erlitten. Niemand habe ich als Sie – – –

Erdmuthe.

Das Schmiedehämmern verstummte. Altgesell Maxe wußte gar nicht, wie ihm geschah. Der Schmiedemeister warf ihm einfach das schwere Schurzfell auf die Schulter. »Versieh meine Stelle, Maxe, ich muß gleich verreisen. Ich telegraphiere, wann ich wiederkomme. Gesellen und Jungs, haltet euch brav.«

Dann stürmte er hinüber zu Frau von Denso, nachdem er sich vorher gesäubert und einen Rock übergezogen hatte. Und hier war er auch nicht wild und ungestüm, hier verwandelte er sich stracks in einen behutsamen, zartfühlenden Mann. Die alte Frau war ahnungslos, das sah er, und sie mußte heftig über die Nachricht erschrecken. Als er ihr den Inhalt des Briefes ganz sacht erzählte, stützte er sorgsam die zarte Gestalt. Frau von Denso weinte bitterlich. »Wie mag es dort stehen!? Peter Hartmann, da geht wieder ein ganz Aufrechter aus dieser Welt! And ich muß sie alle hergeben! Wie schwer ist das, wie schwer!«

»Ich kenne die gnädige Frau nicht so verzagt. Und es muß ja nicht gleich gestorben sein. Mit dem nächsten Zug fahre ich. Gott befohlen. Ich weiß nicht, wieviel Zeit mir noch zur Abfahrt bleibt.« Er strich ihr unendlich liebevoll über den weißen Scheitel.

»Treuer, lieber Freund! Grüßen Sie Erdmuthe. Tapfer soll sie sein. Tapferer als ich. Sagen Sie ihr, daß ich alt bin, – uralt.«

»Ei, und was nicht noch alles! Ich werd' ihr vom schönen, aufrechten Großje erzählen, das eben nur ein bißchen die Kuntenanxe verloren haben. Die kommt wieder, gnädige Frau...« Er küßte abschiednehmend die feine Hand. Das hatte er sich nun schon angewöhnt, und es tat ihm ordentlich wohl, daß er wenigstens auf diese Art etwas zärtlich mit dem Großje sein konnte. Altgesell Maxe freilich, der es einmal gesehen, schämte sich etwas für seinen Meister, sagte aber entschuldigend zu sich selbst: »Die Adligten färben verflucht ab, un wenn man ville mit ihnen verkehrt, dann wird man ebend uff de Dauer 'n janz feiner Hund.«

Auf dem Bahnhof in B. war niemand Bekanntes zu sehen, als der Zug einlief. Der Schmiedemeister nahm sich ein Auto und fuhr nach dem schönen, vornehmen Villenviertel in der Nähe des Museums. Das Haus lag still in dem verträumten Garten, wie ein Märchen. – Auch an den Fenstern zeigte sich niemand. Da schellte der Ankömmling behutsam. Das öffnende Hausmädchen bedeutete ihm, daß niemand zu sprechen sei.

»Fräulein von Denso erwartet mich.«

»Das ist etwas anderes, ich werde Sie hinführen.«

Zuerst meinte der Schmiedemeister, es sei gar nicht sein frohes, junges, quecksilbriges Muthchen, das sich aus einem der tiefen Sessel erhob, wo es, wie es schien, tatenlos gesessen hatte. –

Aber an dem temperamentvollen Aufschrei erkannte er sie. Und es geschah das Wunder, daß eine vornehme junge Dame, die herb und abwehrend durchs Leben ging, ihm, dem schlichten Manne aus dem Volke, einfach um den Hals fiel. Und mehr noch, sie küßte ihn mitten auf den Mund und weinte sich ordentlich satt an seinem schwarzen Bratenrock, den er schon seit fünfzehn Fahren zu jeder Beerdigung trug. Heute hatte er ihn als Reiseanzug gewählt, weil er in das hochadlige Haus gerufen war.

»Sie sind krank, Muthchen, und zittern«, sagte er zärtlich.

Sie schauerte zusammen. »Ja, es ist so kalt geworden bei uns. So rasch kam alles. Kaum war mein Brief fort, da taten sich schon seine lieben Augen zu. Ich konnte nur noch ein Telegramm nachjagen.«

»Tot ist er, der gute Oheim? Ich bin ja gleich abgereist... Das arme Großje, – ich meine die gnädige Frau Oberst, – nun muß sie das so allein tragen...«

»Oh, bei euch in Berlin ist alles warm, da wird jeder dem Großje tragen helfen«, sagte Erdmuthe bitter. »Hier bei Tante Denso ist es anders. Ach, sie hat ihn gleich fortschaffen lassen, den lieben, lieben Toten ... Und oben die Zimmer liegen voll moderner Trauerkleider für die Beisetzung, – aber heute wollt ich alles tun, was Oheim Denso geliebt hat, und deshalb hab' ich Weiß angezogen, – so sah er mich am liebsten.«

Sie schmiegte sich wieder an den alten Freund, und er sah voll Rührung auf das feine Köpfchen an seiner Brust.

»Nicht wahr, mein lieber Beschützer, ich darf nach der Beerdigung mit Ihnen nach Berlin fahren? Ich kann nun Großje endlich eine Stütze sein. Hab' auch 'ne Menge gelernt, kann Klavierstunden geben, kann kochen und 'ne Menge Sprachen, ich brauche nur eine Reinmachefrau...«

»Muthchen, bremsen Sie! Jetzt sind Sie viel zu aufgeregt und blaßschnäbelig. Man muß Ihnen übel mitgespielt haben, Gottseindonner, mit Respekt zu sagen. Ohne Visitenkarte glaubt's Ihnen niemand, daß Sie das Muthchen sind.« »Ich bin's auch gar nicht. Ich fürchte mich den ganzen Tag.«

»Vor was denn, Muthchen? Mit einundzwanzig Jahren?«

»Ach wer sagt das. Ich bin so müde wie eine alte Frau.«

In diesem Augenblick tönte schrill eine Klingel. »Das ist Tante Denso, – ich muß zu ihr.« Da war sie auch schon hinaus und die Treppe hinaufgeeilt. Frau Präsident von Denso wühlte in schwarzem Krepp und Spitzen.

»Ich habe schon mehrfach geklingelt«, rief sie böse. »Und wie siehst du aus? Was soll die Maskerade? Zieh dich sofort um. Lindemann und Suhling haben ein Kleid geschickt, du mußt endlich anprobieren, die Direktrice kommt in einer halben Stunde... Und was höre ich von der Jungfer? Der Wirt des obskuren Hauses in Berlin, in dem deine Großmutter Unterschlupf fand, sitzt hier in deinem Zimmer? Verweise ihn sofort in die Dienstbotenstube und laß Johann für eine Herberge sorgen, falls der Mann Absicht hat zu übernachten.«

Erdmuthe wuchs förmlich unter diesen Worten: »Ich habe schon im ›Hotel zum Deutschen Hause‹ für ihn ein Zimmer bestellt, Tante Sidonie.«

»Im ersten Hotel?«

»Ja, er pflegt so zu reisen.«

»Es ist die Möglichkeit! Das Volk wird immer dreister. Was will er hier eigentlich?«

»Er will mein Schutz sein, und will Oheim Denso die letzte Ehre erweisen.«

»Ich weiß nicht, worin diese ›Ehre‹ bestehen soll... Gleichviel, du machst schon bedenklich flackernde Augen, und steigerst dich leicht in den Densoschen Jähzorn hinein... ich gebe dir also Urlaub ...«

Erdmuthe war schon draußen. Ein Weilchen mußte sie sich noch beruhigen, ehe sie in ihr Stübchen zurückkehrte.

»Hier bin ich, mein lieber, lieber Beschützer. Und jetzt ziehe ich mich um. Habe mir ein ganz schlichtes, schwarzes Kostümchen schon im vorigen Jahr arbeiten lassen, um das Abendmahl zu nehmen mit einer kranken Freundin... Gleich bin ich wieder da.«

Sie war auch darin keine moderne Erscheinung, – sie kam so rasch zurück, daß der Schmiedemeister sich eben gerade die fein gewählten Bilder betrachten konnte, welche die Wände traulich schmückten. –

»Jetzt gehen oder fahren wir ins Deutsche Haus, mein lieber Beschützer, ist es Ihnen recht? Im fremden Hotel werde ich mich heimatlicher fühlen. Sie sind bei mir.« Sie streckte ihm beide Hände hin.

»Ja, und ich bin nicht aus Dummsdorf«, lächelte er etwas kläglich. – »Ich merk's, die Gnädige oben hat Lunte gerochen, und der Handwerksmeister ist ihr nicht recht...« Er straffte sich in seiner ganzen Höhe. »Gleichviel! Da ist doch ein vernünftig Reislein am alten Stamm, das macht einen sonne Nadelstiche vergessen... nich wahr, Mutheken?«

Sie umfing ihn wieder mit beiden Armen. »Wie herrlich ist das! Dies langentbehrte goldige Berlinern!«

»Wonnig nennst de det?«

»Oh, Meister Hartmann, die ganze Heimat bringen Sie mir wieder!« Im »Hotel zum Deutschen Hause« war das schöne, schlanke Fräulein von Denso wohlbekannt. Man hatte immer gern den Herrn Präsidenten bedient, und das liebenswürdige Töchterchen an seiner Seite hatte für jeden ein freundliches Wort gehabt. Und nun war der in jeder Beziehung adlige Mann so plötzlich gestorben, stand noch über der Erde, und die großen gelb-weißen und schwarz-weiß-roten Bänder mit den Goldinschriften hingen in den Blumenläden zur morgigen Beisetzung. Und doch wollte das gnädige Fräulein schon im Hotel Abendbrot essen und erschien in einem ziemlich dürftigen, schwarzen Kleidchen. Wie wert mußte ihr der breitschultrige Riese sein in dem etwas abgetragenen Rock von dörflichem Zuschnitt, daß sie so herzlich ihn ansehen, so lieb anlachen konnte in ihrer tiefen Trauer. Der Wirt vom Deutschen Hause konnte sich gar kein' Vers draus machen. Denn lachen hatte man das gnädige Fräulein überhaupt noch nicht gesehen. Freilich war immer die gestrenge Frau Tante dabei gewesen. Die stolzeste, verschwenderischste und eleganteste Frau der ganzen Stadt. Wie mochte wohl ihre Zukunft sein, nun die zwei Augen sich geschlossen, die allzu nachsichtig über ihr gewacht hatten? – Es war trotz aller Herzenstrauer ein ganz wunderschöner Abend, den die beiden ungleichen Freunde zusammen verlebten und Erdmuthe trug die Erinnerung daran jahrelang in ihrem Herzen. Glückliche, sorglose Kindheit und erste Jugend fanden mit diesem Tage ihr Ende. Als Schmiedemeister Hartmann sein Muthchen wohlbehütet vor der Gartenpforte des schönen Hauses absetzte, reichte das Mädchen ihm noch einmal beide Hände: »Wir wollen uns so oft wie möglich sehen, solange Sie hier sind«, bat sie herzbeweglich. »Morgen kommt erst mal der schwerste Tag...«

»Muthchen, liebes ...«

»Ja, und da müssen Sie mir ganz nahe sein, lieber, lieber Meister!«

Noch ein herzlicher Wink und sie verschwand in der Haustür, und dem Mann schien es, als sei alles Licht plötzlich verloschen.

Das junge Hausmädchen war aufgeblieben, um Erdmuthe zu erwarten.

»Das war kein schöner Abend, gnädiges Fräulein. Die Frau Präsident wollten immer ins Deutsche Haus schicken, aber der Herr Doktor litt es nicht. Der war stundenlang bei der Gnädigen, die ihre Nervenkrämpfe bekam. Furchtbar, ach furchtbar. Aber jetzt schläft sie, und eine Schwester wacht bei ihr. Morphium hat die Gnädige bekommen.«

»Ob ich einmal nach ihr sehe, Lina?«

»Nein, – auch das wollte der Herr Doktor nicht. Und drinnen auf dem Schreibtisch vom gnädigen Fräulein liegt ein großer Brief. Der Herr Justizrat Fabricius war hier, und es tat ihm sehr leid, daß gnädig Fräulein nicht anwesend waren. Dann ging er zur Gnädigen rauf, – und dann hörten wir laut schreien und mußten zum Arzt schicken. Ja, und der hat dann alles bestimmt für die Nacht.« –

Erdmuthe ging ratlos in ihr Zimmer und sie fand den großen Brief, und sah, daß er die Handschrift des hingeschiedenen Oheims Denso trug. Die Besuchskarte des Rechtsbeistands lag darauf und war mit dem Briefbeschwerer festgehalten. Heiß stiegen dem einsamen Mädchen die Tränen in die Augen, während sie das Wappensiegel löste. –

B. im November 19..

Meine tapfere Erdmuthe! Mir bleibt nicht viel Zeit mehr. Mein alter Freund und Sachwalter Fabricius hält meine Hand, damit sie die Feder führen kann. Liebes, Du mußt mir das Opfer bringen, bei meiner armen Frau zu bleiben, wenn ich tot bin. Ich weiß, was ich von Dir verlange. Maßlos schwer wird es für Dich sein. Aber Du und ich sind durch die Liebe zu Deinem toten Vater, meinem herrlichen Vetter und Freund so fest zusammengeschmiedet, daß Du mir beistehen wirst. Meine Frau hat mich durch ihre Verschwendungssucht ruiniert. Ihr werdet von ihrer Witwenpension leben müssen, alle beide. Den kargen Zuschuß, den das Vermögen Deines Vaters gestattete, habe ich für Dein Großje retten können. Die Familiendiamanten aus Eurer Familie sind Dein alleiniges Eigentum und für jeden anderen unantastbar. Gib sie in den Verwahrsam meines Sachwalters Fabricius; es ist bitter für mich, daß ich Dir das anempfehlen muß. Du selbst wirft kein Verlangen tragen, Dir das Diadem ins Haar zu tun, meine stolz-bescheidene Erdmuthe. Aber auch die Kette würde ich forttun, es ist besser. Den lieben Familienring laß nie vom Finger. – Deine Tante Sidonie ist so krank, daß sie über kurz oder lang in eine Anstalt kommen muß. Wie ich Dich lenne, Du hochgemutes Geschöpf, wirst Du nicht einmal den Zeitpunkt herbeisehnen, sondern nur immer tapfer Deine Pflicht tun. Aber ohne Dich ist meine Frau verloren, jedem Einfluß preisgegeben. Du bist die einzige von ihren Freundinnen, die sie nicht verlassen wird, nun ihr Schifflein sinkt. Wenn ich allen Gläubigern gerecht werden will, werdet ihr Euch wohl nicht einmal ein Dienstmädchen halten können. Aber Du trägst den Namen Denso und verstehst, weshalb ich keinen Makel auf ihm lassen möchte. Sei stark, Erdmuthe, mein geliebtes Pflegekind! Verlasse Sidonie nicht! Es ist der letzte Wunsch Deines Oheim

von Denso.

Lange saß Erdmuthe wie betäubt. Dann las sie noch einmal, Wort für Wort den unglückseligen Brief durch. Und nicht sekundenlang kam ihr der Gedanke, dem Heimgegangenen die Bitte zu versagen. Aber das Weh brannte, nicht die alte Heimat bei Großje aufsuchen zu können. Jetzt war sie festverankert bei der harten Verwandten, die ihr jeden Stein in den Weg warf, dessen sie habhaft werden konnte. Hatte Oheim nie daran gedacht? Daß Großje sterben könne, ohne daß sie ihr Muthchen wiedersähe? Wie gern hätte sie in Berlin eine Stelle angenommen, die arbeitsreichste, die es gab, nur um der hohen Freude willen, abends am Herzen der edlen, selbstlosen Frau zu ruhen. Nie würde Erdmuthe einen Zuschuß von Fremden angenommen haben, und sei es selbst der hochgemute Freund Schmiedemeister. Niemals. Aber in seiner Nähe hätte sie bleiben mögen, seinen Rat einholen, seine gute, feste, sonore Stimme hören... Vorbei! Sie würde immer und immer, jahrelang das schrille, überreizte Organ der kranken, verbitterten Frau über sich ergehen lassen müssen.

Todmüde und zerschlagen legte sich Erdmuthe an diesem Abend nieder. Sie wachte ebenso müde am andern Tage, dem Begräbnistage, auf. Und mußte daran denken, wie ihre kleinen Schulfreundinnen immer so gern mit ihren Puppen »Begräbnis« gespielt hatten, während sie selbst immer nur für »Hochzeiten« gewesen war. Jeden Tag hielt ihre Puppe Emmy ohne Kopf Hochzeit mit den verschiedensten Puppenjungen, die alle Prinzen waren. Und immer war Großje der Pfarrer gewesen, der die Neuvermählten zur Eintracht und Treue ermahnte. Bis Puppe Emmy ohne Kopf vollends alt und kümmerlich wurde, und zwar nicht in Staub und Asche, aber in Sägespäne zerfiel, die bis auf das kleinste Stäubchen aufgekehrt und im Gärtchen des Hauses mit den grünen Fensterläden beerdigt wurden. –

Selige Kindheit unter Großjes treuen, blauen Heidjeraugen! –

Jetzt war keine Zeit, solchen lieben Erinnerungen nachzuhängen. Erdmuthe stieg zu den oberen Räumen der Villa hinauf. Aber sie durfte nicht zu der Kranken. Die pflegende Schwester litt es nicht; sie verwies freundlich aber bestimmt auf die Anordnungen des Arztes. Schon um neun Uhr früh ließ sich der Schmiedemeister bei Erdmuthe melden, und wurde von ihr mit seltsam starren Mienen empfangen.

»Was ist nun wieder über mein liebes Kind gekommen?« fragte die gute Stimme.

»Ein Wetter.«

»Konnte es denn noch böser werden, als der Tod vom guten Oheim?«

»Ach, viel, viel härter! Lieber Beschützer, ich darf nicht mit Ihnen kommen, kann nicht zu Großje...« Sie erzählte dem teilnahmsvollsten Zuhörer, den sich ihr armes Herz wünschen konnte.

»Ja, ja«, nickte der Schmiedemeister. »Da werden wir wohl den Herrgott sprechen lassen müssen.« Aber man sah es ihm an, wie schwer ihn die Nachricht traf. Er las den Brief des Verewigten. »Sie geben mir ein ehrendes Zutrauen, Kind. Würde Herr von Denso es billigen?«

»Das weiß ich gewiß! Und weiß auch, Sie würden ihm Freund gewesen sein, und er Ihnen.« – In diesem Augenblicke wurde Justizrat Doktor Fabricius gemeldet. Er trat gleich hinter dem Hausmädchen ein, und stutzte, als er den Fremden sah. –

Erdmuthe trat mit Peter Hartmann vor ihn hin.

»Herr Doktor, dies ist mein allerbester Freund, Schmiedemeister Hartmann, er fürchtet zu stören, und ich habe ihn doch gerufen. Er ist ...«

»Er ist der gütige Wirt von Frau Kordula von Denso und wohnt im Hause mit den grünen Fensterläden«, fiel Doktor Fabricius ein. Soll ich noch sagen, daß Sie auch mein Freund sind, Herr Schmiedemeister?«

»Nein, das glaub' ich Ihnen auch so. Wir haben beide das Muthchen lieb, stimmt's, Herr Justizrat?«

»Das scheint mir ja dann an der Nase geschrieben zu stehen. – Also die Vorstellung wäre erledigt. Ich habe nun mit Ihnen zu reden, Erdmuthchen. Soll unser Freund zuhören?«

»Das soll er. Denn er muß Großje bis ins Kleinste berichten.«

»Dies Paradoxon mache ihm mal einer nach, Großje ins Kleinste berichten.«

»Zur Sache. – Ich nehme Sie beide nachher gleich in meinem Auto mit nach dem Friedhof. Wir können also lange zusammenbleiben. Ihre Tante hat strengen Stubenarrest vom Arzt. Nach der Beisetzung essen wir bei Inger und Citas einen guten Happen. Sie geben mir die Ehre, Herr Schmiedemeister? Bitte, setzen Sie sich. Du auch, Muthchen.«

Dr. Fabricius selbst lief mit langen Schritten durch das Zimmer, stieß etliche Stühle an und leichtere Sachen um, und setzte sich dann auch.

»Erdmuthe, es ist eine Gemeinheit, Sie an die kranke Tante zu binden, aber ich habe meinem Freund Denso versprochen, Ihnen gut zuzureden. Sie hat nur Sie, wie Ihnen Ihr Oheim schrieb. Aber er hat auf mein dringendes Vorhalten doch eine Klausel gelassen. Wenn Sie nach acht Wochen spüren, daß dies Zusammenleben Sie zermürbt, entbindet er Sie von Ihrem Versprechen.« – – Erdmuthe straffte ihre schlanke Gestalt. »Davon kann nur höhere Gewalt mich entbinden. Ich übernehme die Pflicht. Daß sie mich zermürben wird, weiß ich heute schon. Aber ich will immer daran denken, was Oheim Denso gelitten hat. – Er war allezeit so lieb zu mir. Nun kann ich ihm endlich recht danken.«

»So was gibt es also noch«, sagte Doktor Fabricius trocken. »Kind, es ist ein schöner Beruf, seiner Umwelt den Glauben an die Menschen wiederzugeben. Du hast dir ein gut Teil erwählt. Ich will dir bei deiner Mission immer zur Seite stehen, brave Deern. Und nicht wahr, Herr Hartmann, Ihre Schmiede wirft's nicht um, wenn Sie alle paar Wochen hier mal nach dem Rechten sehen.« »Meine alte Schmiede kann's nicht umwerfen, denn die steht nicht mehr. Aber in die neue will ich meine Treue zu unserm Mutheken mit hineinbauen.«

Peter Hartmann faßte mit starkem Griff die beiden Hände, die sich ihm entgegenstreckten.

»Alle Wetter«, lachte der Doktor kläglich. »Muthchen, haben Sie noch 'ne Hand? Ich nicht. Meine bammelt nur noch so locker am Gelenk. Ich möcht' nicht im Bösen mit Ihnen anbinden, Schmied.«

Der Hüne machte sein erstauntes Gesicht. »Ich denke mir immer nichts dabei«, meinte er entschuldigend.

Das Stubenmädchen klopfte und brachte ein Tablett mit Gläsern, Sandwiches und einer Flasche Wein. Sie deckte geschwind und zierlich den runden Tisch. »Ich habe mir diese kleine Extrafreude erlaubt«, sagte der Justizrat behaglich. Mein Schofför bereitet diese leckeren Dinger aus dem ff. Er hat sie gleich im Frühstückskorb mitgebracht. And das Weinchen ist ein Geschenk aus Bacharach. Da habe ich mal einem Weingutsbesitzer zu seinem ehrlichen Recht und Namen verholfen. S' war ein feines Playdoyerchen.«

Er schänkte ein. »Heil!!! Dem Ruhenden unter dem Rasen sei fröhlich der Becher gebracht, singt der alte Wandsbecker Bote. Denso, ich grüße dich.«

Am Spätabend dieses Tages stand Erdmuthe noch lange am Fenster ihres Stübchens und schaute fröstelnd in den dunklen Park. Der Sturm bog die Bäume schier bis zur Erde. Aber ihr schien es wie ein tröstliches Grüßen und Winken ihrer beiden alten Freunde, die heute gleichzeitig wieder fortgefahren waren, ihrem Berufe nach. Doktor Fabricius würde bald wiederkommen, und der Schmiedemeister fuhr zu Großje, um ihr über alles Bericht zu geben, und »abertausend« Grüße von der vereinsamten Enkelin mitzunehmen. Diese lebendige Verbindung war so tröstlich. Die »Abertausend« schienen aber Peter Hartmann etwas zu reichlich für das kleine Großje, das sie sicherlich gar nicht alle mit den schmalen, zarten Händen fassen konnte. Deshalb beschloß er, mindestens fünfhundert davon ins Ausland zu schicken zum »Feinde des Kindes Erdmuthe«. Daß dieser darbte und danach verlangte, nahm er ohne weiteres an. »Liebet eure Feinde«, sagt schon die Bibel. – Die Beerdigung war sehr schlicht in ihrer ganzen Anordnung. So hatte es der Tote bestimmt. Nur die Riesenzahl der kostbaren Kränze hatte er nicht verhindern können. Es roch streng in der ganzen Wohnung nach Tuberosen und Zypressen. Erdmuthe hatte fast allein gestanden unter all den Herren der großen Trauerversammlung. Denn nur zwei weibliche Wesen waren zur letzten Ehrenbezeigung erschienen. Die resolute Gräfin Müdingen, welche zeigen wollte, daß nicht alle Damen so herzlos seien, der süßen, kleinen Erdmuthe nachzutragen, was Frau von Denso verschuldet. Und die brave Waschfrau, die fünfzehn Jahre »die Familie gewaschen und geplättet hatte.«

Gräfin Müdingen hatte Erdmuthe einen großen, köstlich duftenden Veilchenstrauß in die Hand gedrückt. »Den sollen Sie, mein tapferes Kindchen, dem hochgemuten Manne ins Grab werfen, anstatt der harten Erdschollen, und sollen sagen: ›Schönsten Dank und Gruß für die Ewigkeit von der alten Müdingen‹.«

Und die Waschfrau hatte ihren Blumentopf geplündert und warf zwei Begonienzweige den Veilchen nach. »Der Herr Präsidente war immer so zufrieden mit seine Kragens«, flüsterte sie vertraulich zur Gräfin.

Auch zwei Männeraugen sahen ganz besonders gütig und liebevoll auf das trauernde Mädchen in dem fast dürftigen, schwarzen Gewande.

Nach der Beisetzung hatte Baron Twieler Erdmuthens Hand eine Weile länger in der seinen behalten. »Darf ich Sie in meinem Wagen mitnehmen, gnädiges Fräulein? Sie sehen erschreckend blaß aus, ich würde Sie noch etwas ins Freie fahren, in die Heide hinein ...«

Aber sie hatte müde abgewehrt: »Unser Sachwalter, Doktor Fabricius betreut mich. Auch ist mein bester Freund aus Berlin hier.«

Baron Twieler kannte Doktor Fabricius gut, denn er war auch sein Berater. Aber den »besten Freund aus Berlin« betrachtete er sich gründlich, da er ihn unschwer aus der Menge heraus erkannte. Stattlich und ragend war ja der Mann und sah doch »ganz unmöglich« aus in seinem Bratenrock. Aber wie vertraut Erdmuthe mit dieser obskuren Bekanntschaft war! Wie sie sich anschmiegte! Nun, das würde hoffentlich bald ein Ende haben ...

All dies ahnte Erdmuthe und überdachte alles. Wie traut und behaglich war noch das kleine, feine Essen bei Inger und Citas gewesen in dem künstlerisch, schönen Zimmer, in welchem für sie und ihre Freunde allein gedeckt war. Solch ein lieb ausgedachter Abschluß des ganzen Beisammenseins. Und dann der kalte Bahnhof, die hastenden Leute, der letzte Blick in treue Augen ...

Der nächste Tag brachte die harte Pflicht. Sie sah Tante Sidonie. Fahl, mit verstörten Zügen lag sie in den spitzenbesetzten Kissen.

»Ist das Gräßliche wirklich wahr?« raunte sie heiser. »Ich hoffte wirklich noch: Ein garstiger Traum. Ist es Wahrheit?«

»Ja, arme Tante Denso. Der liebe Oheim ist tot.«

»Das meine ich nicht.« Die Kranke warf den Kopf ungeduldig hin und her. »Sind wir arm? Ist der abscheuliche Brief wahr, den mir mein Mann schrieb?«

»Oheim Denso hat auch mir geschrieben. Ja, – wir sind verarmt. Aber ich werde bei dir bleiben und ich hoffe so sehr, daß ich dir das Schwere erleichtern kann.«

»Du willst bei mir bleiben?« fragte die Kranke mißtrauisch. »Was willst du noch? Die Diamanten hast du ja schon.«

Die hereintretende Krankenschwester hatte die letzten Worte gehört. Sie legte den Finger auf den Mund. »Nicht aufregen!« bat sie leise und gütig.

Erdmuthe nahm sich fest an die Kandare. »Wir werden schon fertig werden, Tante Sidonie«, sagte sie ganz ruhig. »Jetzt schlafe du dich erst gesund.«

Frau von Denso wurde etwas anders gebettet, das nervöse Zucken der Hände und Füße wurde geringer. Sie schien einzuschlafen. Die Schwester trat mit Erdmuthe ans Fenster. »Nicht wahr, Sie helfen mir?« bat sie. »Gestern glaubte ich, ich müsse einen Wärter rufen, so schlimm war es. Aber wenn wir jede Aufregung fernhalten, erholt sich wohl die gnädige Frau.«

»Das kann man nicht, Aufregung von ihr fernhalten. Was haben Oheim Denso und ich uns für Mühe gegeben!«

»Wir wollen's jedenfalls versuchen. Und ehe die Kranke Sie wünscht, kommen Sie lieber nicht zu ihr. Sorgen Sie für die äußere Ruhe. Die Köchin scheint gern mit den Türen zu werfen, das darf nicht sein. Das Drittmädchen hat Löcher zwischen den Fingern. Was sie anfaßt, fällt.«

»Darüber werden Sie sich bald nicht mehr zu beklagen haben«, meinte Erdmuthe mit einem leisen Anflug ihres alten Humors. »Unser Personal geht schon in wenigen Tagen.«

Erschrockene Augen sahen sie an. »Und was dann?« Schwester Lotte wußte um das Gespenst im Hause Denso. Die Kranke hatte ihr trotz ihres Sträubens den Brief des Gatten vorgelesen. Was für ein Aufrechter mußte der Verstorbene gewesen sein! Wie elend das Fräulein Erdmuthe aussah! Sie hatte wohl am meisten an ihm verloren. –

»Was dann?« fragen Sie. »Ich werde das Schifflein steuern. Es wird gehen mit Treue und großer Sparsamkeit. Aber Sie, Schwester?«

»Der Herr Präsident hat mir auf zwei Monate hinaus Gehalt und Kostgeld gegeben ... Ich lege es gern in Ihre Wirtschaftskasse, gnädiges Fräulein«, setzte die Schwester bescheiden hinzu. »Wenn Sie mich verköstigen wollen ... ich kann selbst gut kochen, sagt man, dann würden wir beide ganz billig fortkommen.«

»Ich nehme das an«, sagte Erdmuthe hochaufatmend. »Sie sind ein guter Mensch, Schwester Lotte, – und ich weiß mir auch vorläufig keinen Rat. Zwar möchte ich Stunden geben, wenn es sich mit meiner Zeit vereinigen läßt, – aber ich muß erst nach Schülern suchen. Die Bezahlung wird auch zum Gotterbarmen sein, denn die Eltern halten den schlechtesten Musikunterricht für die Anfänger gut genug. Das ist ein böser Irrtum.«

»Ich weiß, o ich weiß. Und trotz der gesetzlichen Regelung unterbieten sich die Lehrenden, wie ist das traurig!«

Die Kranke rief, – greinend wie ein kleines Kind. Erdmuthe schlich sacht hinaus, ein klein wenig zuversichtlicher durch das Finden der Schwesterseele. – Das freundliche Hausmädchen winkte ihr nach dem Empfangszimmer: »Herr Baron von Twieler bittet um die Ehre.«

Da stand er. Rassig, mittelgroß, vornehm in Gestalt und Kleidung. Man sah ihm seine einundsechzig Jahre durchaus nicht an, und das feine Zittern seiner aristokratischen Hände, das Erdmuthe von ihrer jungen Kraft aus urteilend, schon einmal an ihm launig gerügt hatte, als sie an Großje schrieb, das war wohl der Erregung zuzuschreiben, die ihn jedesmal neben dem schönen Mädchen überfiel.

»Gnädiges Fräulein, ich komme heute mit einer ehrlichen Frage zu Ihnen: Ich weiß, daß sie ungewöhnlich ist. Denn ich bin seit zwanzig Fahren Witwer und bin vierzig Jahre älter als Sie. Aber Sie, verehrte Erdmuthe Denso sind auch ein außergewöhnliches, seltenes Geschöpfchen. Es tut mir weh, zu wissen, daß Sie schweren, trüben Zeiten entgegengehen. Frau von Denso muß aus diesem schönen Hause hinaus, das den Gläubigern gehört. Sie werden in kleinen Räumen hausen, ohne Hilfe für den Haushalt. Sie sind nicht zur Dienstmagd geschaffen, kleine, stolze Erdmuthe, sondern Ihr feines Köpfchen könnte eine Krone tragen. Wollen Sie mir erlauben, wenigstens ein bescheidenes Freiherrnkrönlein darauf zu setzen? Erdmuthe!!!«

Sie stand still und blaß vor ihm. Jeder Zoll an ihr war Abwehr. Sie zitterte vor Bangigkeit. Dann mit einemmal war es ihr klar geworden: Wenn der Bernd Hartmann das gefragt hätte! Ohne Besinnen wäre sie ihm gefolgt. Ja, sie war ein sonderbares Geschöpf. Sie kannte Bernhard Hartmann ja ebensowenig, wie den Baron Twieler. Wußte nur, daß er sich zum angesehenen Künstler in seinem Fach emporgearbeitet hatte. Aber gesehen hatte sie ihn nicht, zehn Jahre lang. Und auch keinen Brief wieder mit ihm gewechselt. Völlig auseinandergelebt hatten sie sich. Und doch! Und doch! Sie hatte den ungeschickten, mürrischen Jungbursch in ihrem Kinderherzen bewahrt. Sie hatten eine liebe, gemeinsame Heimat, das war Berlin, das unvergeßliche Berlin. In dem das einzig liebe Haus mit den grünen Fensterläden stand. Glühende Röte überflutete ihr Gesicht. »O Gott, ich habe den Bernd lieb«, dachte sie gequält und beglückt zugleich.

»Erdmuthe, Sie schweigen lange. Es gibt mir die Hoffnung, daß Sie meine Frage ernstlich erwägen und überlegen.« –

Sie streckte abwehrend die Hände aus, ja sie spreizte ängstlich alle zehn Finger nach alter, dummer Kinderart.

»Nein, nein, Baron Twieler, – ich kann es nicht. Ich kann nicht Ihre Frau werden. Ach, seien Sie nicht böse, ich bitte Sie so herzlich ...« »Nun bitten Sie mich nur nicht, daß wir eine edle Freundschaft anfangen wollen, wie es immer so schön in Romanen steht. So weit bin ich nämlich noch nicht. Aber ich sage etwas anderes. Sie sind jetzt verstört von allem Erlebten, und Sie sind ein Kind, das sich selbst nicht kennt. Ich habe Sie zu früh mit meiner Frage überfallen. Ein anderer trat nicht in Ihren Lebensweg, darüber hatte ich schon Ihren Oheim befragt,– – also will ich Ihnen Bedenkzeit geben, volle Freiheit zum Überlegen. Erdmuthe, – ich würde Sie auf Händen tragen. Ich würde auch Ihrer Tante ein sorgenfreies Leben verschaffen, Sie könnten sie sogar mit in mein Haus bringen, besser noch auf mein großes Gut, das ihr Stille und herrliche Natur verschaffen würde. Von Ihrem verehrungswürdigen Großje spreche ich erst gar nicht; es ist selbstverständlich, daß ich wie ein Sohn für sie sorge.«

»Ich kann nicht«, sagte Erdmuthe still. »Es ist vielleicht bitter unrecht, was ich tue, aber, – nein, o nein!«

»Das ist deutlich!« Er wandte sich schroff zum Gehen.

»Oh, nicht so, Baron Twieler, nicht so zornig! Sie meinen es so gut mit mir, – es tut mir so sehr, sehr leid...«

»Nein, bitte«, wehrte er schroff, »Ihr Mitleid sparen Sie sich. Es ist beschämend genug für mich, so als enttäuschter, alter Tor abzuziehen...«

Sie sah ihn gut und lindlich bittend an. Da wandte er sich noch einmal um, und sie sah ehrlichen Schmerz in seinen Augen: »Erdmuthe, wollen Sie mich rufen, wenn Sie mich brauchen? Sie kennen die feinen Nadelstiche der Armut nicht, – und Sie kennen auch keine Mannesliebe...«

»Ich werde Sie rufen, Baron, und ich danke Ihnen.«

Er neigte kurz den Kopf und ging.

Ein kleines Weilchen stand das Mädchen sinnend. Dann stieß sie plötzlich einen singenden Schrei aus, wie ein junger Vogel, der zum erstenmal fliegt.

»Bernhard Hartmann! So ein dummer, dummer Jung !!! – Ich gehör' ihm, ich gehör' ihm!...« –

Nun begann der Dornenweg für Erdmuthe Denso, und sie gestand es sich ehrlich, daß sie ihn sich nicht so schwer vorgestellt hatte. Nicht, daß ihr der Abschied von der prunkvollen Villa hart ankam, denn sie hatten mit Hilfe des Justizrats ein kleines, bescheidenes und billiges Häuschen draußen vor den Toren gefunden, das mitten in einem verwilderten Gärtchen lag. Jelängerjelieber und Rosen umrankten es. Thymian wuchs wild in den Wegen. Kleine Heidestrecken blühten rot am Zaun entlang, und ein großer, alter Wacholder zeigte, daß sich hier früher einmal die weite Heide gebreitet hatte. Nach dem Feilschen und Handeln um die alten, schönen Möbel, rechten Urväterhausrat in Birken- und Mahagoniholz; nach dem Herzweh, als die alte, englische Kastenuhr hinausgetragen wurde, die farbensatten, schweren, echten Teppiche, die kostbaren Bilder mit hochwerten Namen, kam der Umzug. Man ließ die Kranke in dem Zimmer, dessen Möbel mit in die neue Behausung wandern sollten. Und dann wurde der klägliche Rest der einst so stattlichen, hochherrschaftlichen Ausstattung auf einen Möbelwagen kleinsten Umfanges geladen. Zwei magere Pferde, die der Kohlenmann aus Anhänglichkeit an den Präsidenten gestellt hatte, an dem er seinen besten Kunden verlor, – zogen das anspruchslose Vehikel. – An ihm vorbei fuhr die kranke, unglückliche Frau im geschlossenen Wagen in das Haus des langjährigen Arztes, der sie bis zum beendeten Umzug in seine Hut nehmen wollte. Erdmuthe schaffte rüstig, und unermüdlich half ihr die alte Waschfrau, die es sich zur Ehre rechnete, dem gütigen, braven Präsidenten von Denso und dem tapferen Kinde Erdmuthe zu helfen.


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