Felicitas Rose
Das Haus mit den grünen Fensterläden
Felicitas Rose

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8.

Berlin im Haus mit den grünen Fensterläden. Alt-Moabit, gleich links, wo die Sonne so schön scheint.

Lieber Herr Schmiedemeister und seine Frau Ernstine!

Großje wollte eigentlich gern an Sie schreiben, aber sie verbittet es sich. Nun sagt sie aber, ich hätte mich verschrieben, und es hieße »es verbietet sich«. Ich werde wohl nie Deutsch lernen. – Nun soll ich Sie fragen, ob ich meine Ferien in Birkbuschen verleben darf. Es sind die Michaelisferien und notwendig. Der Droschkenkutscher Nr. 126 hat es Großje befohlen und die Blumenfrau, und der Altgesell Maxe. Und auch der Dottor. Bessere Luft soll ich atmen. Aber wenn die Großeltern Hansohm noch einen Zorn auf mich haben wegen meiner Abreise damals, dann ist die Luft ja auch nicht gut bei ihnen. Dann will ich nicht stören. – Ein richtiger Onkel besuchte uns und will mich die ganze Strecke bis Munsterlager mitnehmen. Die letzte Strecke soll ich auf dem rechten Puffer von der Lokomotive reiten, sagt Onkel Denso, der viel Spatz macht. Er ist ein Vetter von meinem Papa. Er sagt, er wäre ein Regierungspräsident aus prähistorischer Zeit, als es noch schön auf der Welt war. Das ist zwanzig Jahre her. Beinahe hätte er mich ganz zu sich genommen, aber Großje machte traurige Augen. Er hat auch eine Frau mit Nerven, die sie ohne mich noch in Ruhe genießen möchte. Bitte schreiben Sie Großje, ob ich kommen darf. Onkel Denso reist über-übermorgen ab. Euer Junge Bernhard ochst. Die Brusche an der Stirn von Ihnen tut mir leid. Ich will sie pflegen. Frau Peters von nebenan macht manches besser, als Frau Ernstine, z. B. Kartoffelpuffer, und manches schlecht, z. B. meine Zöpfe. Womit ich dankend verbleibe

Ihre Erdmuthe von Denso.

Da stand das Kind nun auf dem freundlichen Bahnhof von Birkbuschen, und Frau Ernstine nahm sie in Empfang. Schmal war das Kindergesicht geworden, seit man sich nicht gesehen, und in die Höhe geschossen war das Mädel. »Die Densos schießen alle«, sagte sie wie entschuldigend. »Aber ich glaube, es kommt von der Luft in Berlin. Ich werde hier schon rote Backen kriegen.«

Mutter Hansohm war überglücklich über ihr Michaelis-Pflegekind. »Ganz allein bin ich hierhergefahren. Nur mit sieben anderen im Abteil. Und immer mußte ich umsteigen. Da kann man bald Erste in Geographie werden.«

»Es ist unterhaltlich mit ihr«, meinte Vadder Hansohm. »Es schnackt einmal nüdlich, das Lüttje, un is ganz das Alte geblieben. Wenn se nich den vornehmen Namen hätt, un dat fine Benehmte, man dächt, 's wär unsereens.«

Erdmuthe hatte ihn ganz ernst begrüßt. »Wenn Sie noch böse sind, Vadder Hansohm, dann kann ich wieder fortgehen, oder wenigstens nichts essen und trinken bei Ihnen – nur atmen. Ich soll hier rote Backen bekommen.«

»Ne, ne, dat maken wi nich. Blot vun Atmen wird man nich rot, du Katteiker. Roggenbrot mit Botter und Dickmilch mit Sahne möt ok dorbi sün. An minen Zorn heww ik begraben.« Da konnte man nun freilich fröhlich sein, und nebenbei den Herrn Schmiedemeister pflegen, der sich aber sehr ungeduldig gebärdete. Wenn sein Gesicht nicht so sehr entstellt gewesen wäre durch die böse Geschwulst, wäre er wohl längst heimgefahren. So aber wollte er das Abschwellen der häßlichen Wunde abwarten. –

»Du mußt dem Detleffsen sehr lieb gewesen sein, Ernstine«, sagte Peter Hartmann. »Noch kurz vor seinem Tode nahm er es wahr, mich dafür zu strafen, wie ich dich behandelte.«

»Sprich doch nicht so. Und sprich überhaupt gar nicht wieder davon. Mich kümmert nur deine Wunde.«

Aber es kamen ihr doch Tag und Nacht schwere, trübe, atembeklemmende Gedanken an den Toten. An sein erschütterndes Sterben. Feder Heidjer weiß, wie jammervoll der Moortod ist. Seinen jungen Kindern erzählt man es, und warnt sie streng. Jede Heidjermutter tut's herzbeweglich, weil gar so wunderschöne, lockende Blumen am Moorrand wachsen ... Und schwören nicht alte Ur- und Großmütter, daß sie noch selbst die Moorfrau haben singen hören? Wer sich nicht gleich nach dem ersten Ton die Ohren verstopft, den zieht sie hinab. Ganz besonders, »so eine Jungfrau verliebt ist«, auf die hat es die Moorfrau abgesehen. Denn sie vermutet in jedem Jungbursch den Liebsten, der sie selbst einst schnöde verließ. Deshalb lief sie ja in ihrem Schmerz auf die »tück'sche Wiese, und versank alsobald«. Hundertfach gehen die Sagen im Lande umher. Sie sind nicht gedruckt. Urlebendig wandern sie von Mund zu Mund. –

Wenn das Ehepaar beinander saß und die junge Erdmuthe nichts zu pflegen hatte, dann lief sie hinaus in die Heide. Suchte nach Mensch und Tier, oder nach beiden, um »lieber Gott« spielen zu können. Und war so »bei klein« auch in das baufällige Haus der Heidehexe gekommen. Sie hatte drinnen singen hören, lauter fröhliche, übermütige Weisen, und wußte doch, daß der armen Frau der einzige Sohn gestorben war.

Erst als Erdmuthe sehr laut: »Guten Tag, Frau Detleffsen« rief, sah die Alte von ihrem abgerissenen Liederbuch auf, das sie verkehrt in der Hand hielt.

»Wollen wir nicht lieber Choräle singen?«, fragte das Kind freundlich, und da sie das Lied »Trink, Brüderlein trink« für den verstorbenen Schmied Hartmann auf dessen eigenen Wunsch aufgehoben hatte, so schien ihr »Nun danket alle Gott« passend, denn sie hatte von den Dorfleuten gehört, der Tetje Detleffsen sei ein böser Mensch gewesen, der sich nie um seine alte Mutter gekümmert habe. Und man solle froh sein, daß er tot sei. Sie hatte ja selbst in Berlin einige schreckhafte Begegnungen mit ihm gehabt, wenn er auf ihrem Schulweg so hin- und hergetorkelt war, und fürchterlich geschimpft hatte auf die johlenden Buben, die ihn umtobten. – Erdmuthe sang schallend und das gefiel der Alten. Schon in die zweite Strophe fiel sie ein, aber die dritte ersetzte sie durch »Freut euch des Lebens«. Weshalb das Kind: »Aus tiefster Not schrei ich zu Dir«, folgen ließ, denn sie fand es richtiger, einen kleinen Trauergottesdienst zu halten, wenn der Tote auch »ein schlechter Kerl« gewesen war.

Die alte, wirre Mutter Detleffsen und das junge, feine, hellwache Kind wurden gute Freunde bei diesem Zwiegesang. Als sie zu Ende waren, faltete die alte Frau die Hände und sagte: »Amen. – Da hätt sich mein Tetje über freut. Musik, Musik, dat wier sin Lust. Dat kam so. As ik ihm unnern Herzen trog, da hebb' ik de Moorfru singen hüren – die singt den schieren Dag, äwer hüren, hihi, hüren dhon se blot Sünndagskinner ...«

»Gute Nacht, Frau Detleffsen, ich muß nun heimrennen.« –

»Lüttje Deern, wenn du'n Breifdräger sühst, frog em, ob he 'n Breif hat vun mien Söten, vun mien Tetje ... Süh, Lüttjes, ik kann jo ni starwen, ehdenn he kümmt, or schrifft ...«

Sie wendete sich wimmernd zu ihrer armseligen Lagerstatt. Die war einmal weich und sauber und vollständig gewesen, wie es sich für eine wohlhabende Bauerntochter schickt, aber dann, schon bei Lebzeiten ihres braven, ehrenhaften Mannes, war vieles von dem guten Hausrat verkauft, verschleudert worden. Und nach dem raschen Tode Vater Detleffsens hatte der Sohn den Rest vertrunken und verspielt. Das verlotterte Häuschen wollte niemand kaufen, so blieb es ihr als Armenteil. Aber die Hansohms hatten ihr manchmal geholfen, und ihre Knechte geschickt, damit sie zusammennagelten, was nicht mehr halten wollte in dem armen Gewese. –

An diesem Tage sagte Erdmuthe den Alten und den Jüngeren bald Gute Nacht.

»Willst noch arbeiten? Is ja noch heller Dag!« fragte Vadder Hansohm.

»Ja – ich muß noch schreiben«, bang und kleinlaut klang ihre Stimme.

»Is nich recht vun de Stadt un de Lehrers, son lüttjes Ding abschluts to 'n Professor to maken«, kopfschüttelte der Alte, und paffte den ganzen Abend mißvergnügt seinen Knaster, denn er hörte dem Dirning gern zu, wenn es seine närrischen Weisheiten vortrug. –

Erdmuthe aber schrieb und malte große Buchstaben, damit sie auch von alten, müden und getrübten Augen gelesen werden konnten. – Ihr junges Herz war unbeschwert. Man mußte Menschen froh und glücklich machen, das war heiliges Gebot, hatte Großje immer gesagt.

Und vollends solch eine arme, kranke Großmutter, die keine Freude auf der Welt gehabt hatte, als ihren Jungen. Den konnte Erdmuthe freilich nicht lebendig machen – oder doch? Aber nur, wenn sie wieder ein bißchen »lieber Gott« spielte. Noch um zehn Uhr abends leuchtete ihr kleines Lämpchen hinaus in die stille Dorfstraße. Der Nachtwächter schüttelte den Kopf ob dieses ungewohnten Anblicks. Denn der Heidjer geht früh schlafen, müde vom harten Tagwerk. So blies Nachtwächter Mingsen ganz erschrecklich in sein Tuthorn: »Hört ihr Leut, und laßt euch sahhh – genn ...« Aber da hatte das Kind auch schon einen Namen unter das umfangreiche Schriftstück gesetzt. – Diesmal war's ein ganz frohes, zuversichtliches Abendgebet, das von Erdmuthe hinauf in den Sternenhimmel geschickt wurde, der in ihr unverhülltes Fensterchen schaute und sich draußen weit, weit über die braune Heide breitete. –

In aller Frühe des nächsten Tages zog sie den Altknecht des Hofes in ihr Vertrauen und übergab ihm das dicke Schriftstück. Der suchte in seiner Truhe nach irgend einem Brief, von dem er sich erinnerte, daß er ihn mal vor Jahren bekommen habe. Von dem löste er die verwitterte Marke ab und befestigte sie mit Tischlerleim auf Erdmuthes Brief. Und brachte dann das Schriftstück »pssönlich«, wie er versicherte, zu Mutter Detleffsen. Sie sei ganz »durchhin« vor seliger Freude gewesen, berichtete er der Schreiberin, mit der ihn fürderhin dies liebe Geheimnis ganz fest verband. Als Erdmuthe am Nachmittag des nächstfolgenden Tages die alte Frau wieder aufsuchte, war es, als sei der umnachtende Schleier völlig gerissen.

»Dich schickt ja woll der da oben sülben«, rief sie dem Kinde entgegen.

»Jesus lebt, mit ihm auch ich, Tod, wo sind nun deine Schrecken? Einen Brief hab ich von mein süßen, kleinen Tetje, oha, oha, wat bün ik glücklich! Un der durchgedrehte Landjäger seggt doch, he war dot. De is kumplett verrückt.« Die Alte deckte ihr blaugewürfeltes Bettzeug auf, holte Erdmuthes Schriftstück heraus und betrachtete es selig.

»Nu kumm man, lütt Dirning, ik kann jo mit meine alten Augens nich mehr rech lesen. Schrewen Schrift schon gornich.«

Sie drängte Erdmuthe den Brief auf, der schon arg mitgenommen war vom vielen Küssen und Drücken. »Lies, mien Deern, lies!« Ja, das konnte die Verfasserin ganz fließend tun.

Berlin im Oktober.

»Liebe Mutter! Ich bin gesund. Und Du mußt auch gesund sein. Denn ich fange jetzt ein neues Leben an und habe nun den lieben Gott recht lieb. Das habe ich ja früher nie getan. Sei mir nun auch nicht mehr böse, meine liebe Mutter. Wenn wir uns nun bald wiedersehen, dann verspreche ich Dir, ich will ein Engel sein. Du hast das auch richtig verdient, liebe liebe Mutter, daß Du einen Engel zum Sohn hast.

Ich bin dein treuer Tetje.«

Ein jauchzender Schrei, mißtönend mit brüchiger Stimme hervorgestoßen. Nach ihrem Herzen griff die alte Frau. Dann fiel sie zu Boden, wie ein gefällter Baum ...

Jammernd floh Erdmuthe aus der Kate, lief über die Heide und umklammerte im Hansohmhaus ihre Freundin Ernstine. Von vielem Schluchzen unterbrechen, erzählte sie die ganze Geschichte ihres grenzenlosen Mitleids, das nun so bös ausgeschlagen sei. Kopfschüttelnd lief Frau Ernstine in die Heidekate. – Als sie zurückkehrte, fand sie ihren Mann und die Eltern um das weinende Kind bemüht. –

»Kannst ruhig sein, Muthchen«, sagte Ernstine sanft. »Die alte Mudder Detleffsen ist nun bei ihrem Tetje. Ich kann nur sagen: Wer so stirbt, der stirbt wohl!«

Laut auf weinte Erdmuthe: »Ich wollte doch, daß sie leben bliebe! Sie sollte doch froh werden!«

»Herzgut hast es gemeint, lüttje Deern.« Vadder Hansohm streichelte den aschblonden Kopf. »›Lieber Gott spielen‹ ist nicht so leicht, Lüttjes. Wir wollen Ihm lieber alles selbst überlassen. Aber, Mudder, mich dünkt doch, hier lag eine Mission vor – denn worüm schall der da oben nich ok mal 'n reines Dirning zu seiner Gehilfin nehmen, wenn 'n Ratschluß ausgeführt wer'n soll. Ik heww da so mien eigenen Gedankens dröwer.«

»Vatter, wat du denkst un sinnierst, is noch ümmer richtig west«, sagte Mudder Hansohm still. Und sie nahm das »Mischonsdeernchen« in ihre Arme und gab ihm lieben Trost ins kleine, verzagte Herz. –

Nun kam erst einmal eine wirre, unruhige Zeit in die stille Heide gestürmt, denn die Hauptstadt der Provinz schickte ihre hohen Beamten, um den Fall Detleffsen zu untersuchen. Wie peinlich waren diese Vorgänge für den Schmiedemeister, denn man verquickte ja nun diese Sache mit dem Brand seiner Erbschmiede. Auch Frau Ernstine litt sehr darunter, denn man hatte sie mit Tetje Detleffsen sprechen sehen, und sie wurde auf Herz und Nieren geprüft. Aber ihre Antworten waren klar und ruhig, und der Landjäger schilderte kurz und bündig den Werdegang des verlorenen Sohnes und seinen raschen Tod. Man ging in aller Frühe gemeinsam nach dem Moor und betrachtete die grause Stätte, die mit den leuchtenden Sumpfblumen gar nicht so unheimlich aussah, als man vermutet hatte.

Zu untersuchen gab es nichts, man konnte ja keinen Schritt vorwärts dringen, ohne einzusinken und sein Leben aufs Spiel zu setzen. So wurde das Moor denn erst mal in weitem Umfange gesperrt, damit Neugierige nicht zu Schaden kämen. Aber die Heidjer schüttelten die Köpfe und tippten wohl auch respektlos an die Stirn. Wer die Moorfrau singen hörte, der wurde eben von ihr gerufen, und sank hinunter zu ihr, da nützte alles Absperren nichts, mochten Menschen noch so viel austüfteln. Und während all dieses Beratens und Wichtigtuns wurde die alte Frau Detleffsen begraben. Der Pastor des benachbarten Kirchdorfes sprach gute, menschlich schöne Worte voll Liebe und gerechtem Sinn und warnte vor allem Aberglauben. Trotzdem wälzte ein Heidjer heimlich einen extragroßen Stein auf das Grab. Und wiederum wußten doch die meisten, daß dieser Stein gar nichts nütze, sondern daß die Heidehexe jede Nacht um die Moorstelle geistern würde, darinnen ihr Sohn bei der Moorfrau lag. Bis er ans Licht gehoben, und ehrlich begraben sein würde. –


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