Felicitas Rose
Das Haus mit den grünen Fensterläden
Felicitas Rose

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10.

Es war, als verstünde Erdmuthe gar nicht, was man von ihr verlangte.

Mit großen, entsetzten Augen sah sie bald auf ihr liebes Großje, bald auf ihren treuen Freund Schmiedemeister. Und das Großje dünkte ihr nicht mehr lieb, und der Schmied schien ihr kein treuer Freund zu sein. Erdmuthe jammerte nicht laut, sie war wie erstarrt. Peter Hartmann, der zum Tierschutzverein gehörte, erschien die ganze Sache nun wie eine große, frevelhafte Tierquälerei, und als das Mädel trostlos herausstieß: »Heute??? Muß ich schon heute fort?«, rief er sehr unpädagogisch: »Nein, nicht heute und nicht morgen. Überhaupt gar nie. Es war nur ein kleines, böses Scherzchen von Großje ...«

War das die Hilfe, die er der alten Dame versprochen hatte? Der große, körpergewaltige Schmied verlor die Fassung. – Da kam Tapferkeit über die junge Erdmuthe.

»Wenn es euch so schwer fällt, dann habt ihr mich ja lieb!« sagte sie tief aufatmend. »Ich dachte, ihr wolltet mich aus reiner Bosheit wegwerfen.« Sie stellte sich stramm vor das Großje hin. »Dann will ich also gehen und denken, daß ihr vernünftigen Leute recht habt. Ich will aber immer unvernünftig bleiben. Dann tut man andern Menschen nicht so weh.« – – –

Frau von Denso streckte beide Arme nach ihr aus, aber sie sah, daß es wohl noch einiger Zeit bedürfe, ehe das Kind sich hineinschmiegen würde. Und das Herz tat der alten Frau weh. –

Noch an demselben Tage ging das lange Schreiben an den Präsidenten ab, und Frau von Denso meinte, als sie den Brief mit ihren zitternden Händen schloß, daß ein Holzhacker es leichter habe. Nach zweimal vierundzwanzig Stunden war die Antwort da, und Erdmuthe betrachtete den Briefstempel auf dem wappengeschmückten Bogen sehr genau: B... Ein Ort nahe der Heide. Ein ganz fremder Ort und fremder Begriff. Dort sollte sie von jetzt ab wohnen. Und wann sah sie wohl ihr Großje wieder? Und wann das Haus mit den grünen Fensterläden? Und in die Heide kam sie wohl nie mehr... Und ...«

H. im Januar 19..

Mein lieber Vater und Du, liebe Mutter! Ich wollte gar nicht meinen Augen trauen, als ich in Euerm lieben Briefe las, daß Erdmuthe von Denso in eine fremde Welt und zu fremden Menschen geschickt worden ist. Ich will gewiß nicht unehrerbietig werden, lieber Vater und liebe Mutter, aber ich kann mir gar nicht denken, daß Ihr das Euch richtig überlegt habt. Das Mädchen kommt ja dann wieder in Kreise, die ganz weitab von unsern liegen. Wie in aller Welt soll man sie wieder heranholen? Der Herr Präsident wird sich bedanken, seine gepflegte Hand in eine schwarze, große Schmiedefaust zu legen. Nein, ich sehe da gar keinen Ausweg. War denn Erdmuthe damit einverstanden? Ihr hättet doch am Ende der Frau von Denso ein paar moderne Schriften zu lesen geben müssen, damit sie wußte, daß man heutzutage stets die Kinder nach ihren Wünschen fragt. Und wenn die den Erwachsenen dumm vorkommen, so liegt es eben an den großen Leuten. Wenn es noch rückgängig zu machen ist, so tut bitte Euer Bestes, und rechnet auf meine tatkräftige Hilfe. Ich bin Euer schwerverletzter Sohn Bernd Hartmann. –

Berlin NW. Altmoabit, Haus mit den grünen Fensterläden. Januar 19..

Lieber Bernhard! Es ist gut, daß man in diesen ernsten Tagen auch mal was zu lachen kriegt. Deshalb danke ich Dir für Deinen Brief. Die Mutter tut's auch. Und es war ihr ebenfalls ein gesundes Lachen zu gönnen. Aber ich möchte Dir doch raten, mit Deinen Weisheiten sparsam umzugehen, lieber Junge. Was es uns gekostet hat, unsern Sonnenschein aus den grünen Fensterläden zu verbannen... da hast Du wohl gar nicht daran gedacht, Du Neunmalkluger? Wenn ich Deinen kindischen Brief durchlese, möcht ich Dich fragen, ob Du nach Sexta gekommen bist, oder nach Obersekunda. Es ist nun ganz gut, daß die kleine, verständige Erdmuthe in der Fremde ist, denn sie hätte sich totgelacht über Deinen Brief, und dann hättest Du gar nichts mehr von ihr gehabt. – Ob der Herr Präsident seine Hand in meine Hand legt, soll Dich nicht kümmern. Die Herren vom alten Schlage haben immer das Handwerk geehrt. Und tun sie's nicht, so ist man stolz genug, es nicht zu beachten. Ade, mein lieber Bernhard. Und nimm doch mal Dein Handtuch und wische tüchtig hinter Deinen Ohren. Mutter grüßt vielmals durch Deinen treuen Vater Hartmann. –

V., den 1. Februar 19..

Du fubbe doll geliebtes Großje! Ach, Du mein Eigentum! Denn Du gehörst mir! »Ich kann Dir viel Fesselndes unterbreiten.« (Dieser erste Satz ist von Tante Denso diktiert.) Und ich will nur zusehen, daß ich diesen Brief rasend zu Ende bringe, damit sie nichts mehr dazwischen reden kann. Denn was fängst Du mit einem diktierten Brief an, der gar nicht aus meinem Herzen kommt? Ich weiß auch gar nichts Fesselndes. Ich denke den ganzen Tag nur: »O wie gut, daß Großje keine Nerven hat!« Nerven sind die schlimmste Krankheit, die es gibt, ganz besonders für die, die zusehen. Denn Tante Denso tobt wütend am Tage umher, und kann dann abends munter in Gesellschaft gehen. Sie ist so kribbelig, daß die Köchin und das Hausmädchen sehr bedauerlich sind. Onkel Denso schenkt ihnen öfters eine Mark, und ich sammle Bilder für sie, aber sie machen sich mehr aus einer Mark. Gewöhnlich sind sie nur einen Monat da, aber weil Tante auch die Neuen wieder Minna und Amalie nennt, so merkt man es nicht sehr. Die eine Minna war sogar nur vierzehn Tage da, weil sie so stark hinkte, und das machte Tante nervös. Aber sie war es ja schon lange. Nun sagte Onkel Denso neulich: »Das Leiden von Minna hat sich überraschend gebessert, es ist wie ein Wunder.« Es war aber keins, denn es war schon wieder 'ne neue Minna, die nie gehinkt hat. Du siehst, liebes, liebes Grohje, ich schreibe Dir lauter ungefesselte Dinge, aber Du sollst ja auch nur wissen, daß ich keinen Menschen auf Gottes Welt so lieb habe, wie Dich, mein Großje. Ich lerne hier tüchtig bei einem Lehrer vom Gymnasium. Er unterrichtet sonst immer nur Jungen, deshalb sagt Onkel, er hätte etwas rauhe Sitten. Aber ich finde bei rauhsittigen Lehrern lernt man mehr, als bei sanften Heinrichen. Wenn Dir meine Wörter manchmal nicht standesgemäß sind, so schreib es mir nur immer. Ich habe sie meistens von der Minna, die nicht hinkt, aber ich kann sie mir gern abgewöhnen. Onkel Denso läßt Tante Denso sehr oft allein zu Gesellschaften gehen. Dann nimmt sie alle Nerven mit, und wir lüften auch noch. Dann muß ich ihm vorsingen, und dann spielen wir Schach. Das heißt, er lehrt es mich. Ich weine mich jeden Abend in den Schlaf, da wirst Du traurig darüber sein. Aber ich will doch, daß Du es weißt. – Onkel Erich sagt, dem besten Freund müßte man Alles anvertrauen. Und der bist Du. Dann kommt gleich der Schmiedemeister, und dann Onkel Denso. Und dann weiter gar niemand. Ich wüßte wirklich nicht, wer. – Lebt eigentlich Bernd Hartmann noch? Ich frage nur, weil Du seine Eltern grüßen sollst, da fiel er mir ein. Gute Nacht, mein liebes, liebes Großje. Draußen steht der Mond am Himmel. Es ist zu schön, daß Du ganz denselben siehst. Aber ich bin doch auch da, und mich siehst Du nicht. Leb wohl, leb wohl. Deine einsame Erdmuthe.

H. den 12. Februar 19.. Meine liebe Erdmuthe von Denso! Ich kann es mir wohl gut denken, daß Du mir ungern antworten willst auf den unqualifizierbaren Brief vom soundsovielten hujus, worin ich von Tuten und Blasen schrieb. Es steht einem reifen Manne wohl an, wenn er um Verzeihung bittet, und ich tue es hiermit. Ich habe an Vater Deinethalben geschrieben, weil ich es unverzeihlich finde, daß man Dich fortgetan hat. Aber Vater hat mich heruntergelümmelt. Es war eine Entgleisung von ihm, die ich um Deinetwillen ertrage. – Ich hoffe, daß man Dich dort in dem hohen Hause Deiner vornehmen Verwandten gut behandelt. Vergiß aber nie, daß die wahre Kraft der Nation im Volke wurzelt, und überhebe Dich nicht – Du hast noch viel zu lernen, mein Kind. Ich habe immer verdammtes Heimweh, oder Sehnsucht, oder wie man das Zeugs nennen will. Es stört mich sehr bei meinen Arbeiten. Ich renne dann immer in die Heide, da wird mir dann wohler. Manchmal bin ich auch bei den Großeltern in Birkbuschen. Aber sie haben keine starken Gefühle mehr, und deshalb verstehen sie mich wohl nicht. Ich wünsche nur, daß Du Deine Schweigsamkeit aufgibst, liebe Erdmuthe von Denso. Sollte der Herr Regierungspräsident Deine Briefe lesen, so sage ihm, ich wüßte wohl, daß auch der Adel Einiges geleistet hat. – Und ich bin und bleibe Dein wohl affektionierter Bernd.

B., den 14. Februar 19 ..

Lieber Herr Schmiedemeister! Und ich antworte ihm nicht, und ich antworte ihm nicht. Ihr lieber Sohn Bernd ist wie ein Truthahn. So geschwollen am Hals. Und dann macht er so kuller – kuller – kuller. Es ist mir aber einerlei. Wollen Sie es ihm nur freundlich sagen, daß er die teure Füllfedertinte von Kimmelstiel in der Friedrichstraße, Ecke Leipziger, sparen soll. Ich schneide Ihnen, lieber Herr Schmiedemeister, das eine Wort aus seinem Briefe aus, vielleicht können Sie es dann verstehen. Es hat fünf Silben, also beinahe 'ne ganze Seite. Was hujus ist, weiß ich auch nicht, ich kenne nur den Portier vom Nachbarhaus, den ruft seine Frau: »Hujo!« Es ist sehr schwer mit Ihrem lieben Sohne Bernd zu verkehren. Daß er mein affektierter Freund ist, weiß ich schon lange, das braucht er nicht erst zu schreiben. Das fällt Jedem auf, der ihn nur sieht. Früher war er ganz anders. Und dann sagen Sie ihm noch, daß ich nicht sein Kind wäre. – Ich bitte Sie herzlich, daß Sie einmal mich besuchen. Ach, es kann auch öfters sein, weil ich mich so bange nach dem Haus mit den grünen Fensterläden. Wenn Sie kommen, dann geht die Minna, die nicht hinkt, so lange zu ihren Eltern, damit Sie in ihrem Bett schlafen können. Ich habe das schon Alles mit ihr besprochen, denn Tante darf es sicher nicht wissen, daß ich Sie eingeladen habe. Sie ist eine geborene Gräfin. Aber Onkel Denso weiß es, und er hat so sehr gelacht, warum, weiß ich nicht, denn es ist mir ernst. Er rief aber ganz fröhlich: »Jawoll, er kann auch bei mir schlafen.« Und Sie können nun wählen. – Grüßen Sie innigst Großje und Frau Ernstine und Großje am meisten.

Es grüßt Sie selbst viele Male Ihre

Erdmuthe.

Berlin NW. Moabit. Im Haus mit den grünen Fensterläden.

Mein lieber Sohn Bernhard! Deine Mutter schreibt Dir diesen Brief, damit Du auch einmal spürst, daß ich immer bei Dir bin. Es ist mir wohl hart, daß Du in H. bist, denn wir waren ja immer so Eins. Aber was für Deine Ausbildung nur Erdenkliches geschehen kann, das muß sein. Lieber Bernhard, entschuldige nur, daß ich den Namen Bernd nicht so mag, und deshalb auch nicht schreibe. Ich bin recht altmodisch, trotzdem ich mit Deinem Vater recht jung lachen und reden kann. Ich glaube, Bernd paßt mehr für einen vornehmen Herrn. Denn hier wohnt dichte neben Bolle ein Baron, der heißt Bernd von Düvelsheim und hat es, scheint's, auch öfters mit dem Teufel zu tun. Das gewöhne Dir aber ja nicht an. – Die Eltern schrieben neulichs, Du hättest Dich so verändert. Sie meinten nicht so die Pickeln und unreinen Täng, darüber kommt man schon weg, wenn die Seele rein ist, sondern Dein Wesen. Das tu mir nicht an, mein lieber Sohn Bernhard. Ich mein, Du könntest noch von Jedem etwas lernen, selbst von der jungen Erdmuthe, die von ihren hochseligen Eltern so viel mitgekriegt hat, was Du Dir erst mühselig heranstudieren mußt. Deshalb würde ich an Deiner Stelle das Hochfahrende ganz weglassen, weil es sich nicht für Dich schickt. Pflege nur recht das, was so in Dir in der Tiefe steckt, denn das ist gut. Ich habe auch gar nicht über Deinen Brief an Vater gelacht, denn für Deine Mutter zitterte da etwas »zwischen den Zeilen«, wie Frau von Denso öfters sagt, die mir eine rechte Wegweiserin ist. Die andern spüren eben nicht, daß Du die junge Erdmuthe recht von Herzen lieb hast, und sie gar niemand gönnst als etwa dem lieben Gott und den grünen Fensterläden. Und daß Du so gern auf gleich mit ihr wärst, ohne Zank und Stunk. Aber ich müßt nicht Deine Mutter sein, wenn ich's nicht spürte. Du weißt es nämlich selbst nicht, und ich hätte Dich ja auch ruhig damit laufen lassen können, aber mir ist's so eigen zu Mut, als war es besser, wenn ich Dir den Star steche. Nun wirst Du recht gütig und freundlich zu ihr sein, und ein ganz rechter Mann werden. Und später in den Studentenjahren, da mußt Du Dich recht bewahren. Und da mußt Du recht im Widerspruch stehen mit all dem, was sie jetzt predigen, die Unholde. – »Lebe rein dies kurze Leben!« hat mal ein Großer gesagt. Das paßt für Jungs und Deerns gleicherweise. Und weißt Du, mein klein süßen Bernd, (ich gebe Dir nun gern mal düssen Namen, weil Du ihn gern magst), viele Gescheidte von heutzutage, auch Ärzte, die wissen so viele Mittelchen und Lehren fürs Volk und die jungen, dummen und unreifen Burschen. Aber auch für erwachsene Menschen, und diese Teufelslehren, mit Respekt zu sagen, die werden so geschwind befolgt, als wären sie sonst was Guts, aber das einzige Wort, was Wert hat, das finden sie nicht, die Neunmalklugen, und das heißt: »Selbstzucht«. Dies Wort gebe ich Dir mit auf Deinen Lebensweg, mein Bernd, wenn Du auch augenblicklich keinen Geburtstag hast und noch kein Abiturientenexamen mit Abgang. Und wenn Du mal einem Mann begegnest, der dies schöne und starke Wort auf seinem Wappenschilde hat, dann schließe Dich an ihn an und bitte ihn, daß er Dir ein Freund und Kamerade wird. »Einen bessern findst Du nit.« Somit beschließe ich diesen Brief, und es bleibe das Wort, wenn meine Stimme verhallt.

Deine treue Mutter Ernstine Hartmann geb. Hansohm.

Es ist etwas Schönes um ein stilles Dörfchen, wo die Einwohner wie eine Familie sind. Und etwas besonders Schönes birgt eine Straße der lärmenden, hastenden Großstadt, von der man annimmt, die Menschen darin seien nur Maschinenteilchen, in denen kein lebendiges Herz schlägt. Und doch fangen viele Herzen mit einmal an zu hämmern und hangen und bangen um ein Menschenleben. Und werfen alle Neugierde hinaus und lassen das stille, tiefe Mitgefühl hinein. – So ist die Straße Alt-Moabit und rings herum die Häuser, die Nachbarn des Hauses mit den grünen Fensterläden. –

»Was macht Dr. Hauffes Wagen bei Hartmanns?«

Das war die brennende Frage, in die sich wohl noch einige Neugierde mischte. Aber dann, als der Arzt gar nicht herauskommen wollte, und der Schofför bat »sachte zu tun«, und als dann ein strohbeladener Wagen aus Klingemanns Schuppen gezogen und das Stroh von rührigen Händen sachgemäß geschüttet wurde, daß auch kein Räderrollen sich bemerkbar machen konnte, da wußte man, es war irgend etwas Schweres geschehn.

»Was für'n Aufstand!« sagte verdrießlich Frau Schlachter Klingemann zu ihrem Mann. Aber sie sagte es leise. Und er legte noch extra die Finger auf seine Lippen, trotzdem der Straßenlärm immerhin noch so groß war, daß eine Frauenstimme darin untergehen konnte. Dann lief er auf die Straße. »Gehn Sie gütigst alle mal da weg«, sagte er zu den dicht gedrängten fremden Neugierigen, denn er hatte sich rasch vergewissert, daß keine Nachbarn des Hauses mit den grünen Fensterläden darunter waren. Die blieben erst mal still zuwartend daheim, das wußte er. »Auch machen Se keene unnützen Reden un Widerworte. Sie gehören hier nich her. Wir sin 'ne Familie for uns. – Jeden von uns kann det passiern, daß er, oder de Familie uff'n Dod liecht, un det muß hier der Fall sind. Da ist nun Stille jeboten. Ham Se verstanden?«

»Se ham jeredt, wie'n Farrer«, sagte jemand, »ik ha lange keen Farrer jesehn, warum soll ik nich duhn, wat Se jesagt ham?« Und er fuhr sachte davon.

Die andern standen noch ein Weilchen und schauten zu den Fenstern empor. – Als sich da nichts rührte, gingen auch sie tuschelnd und zischelnd. Und nun hielt Meister Klingemann Wache. Es währte nicht lange, als er den Schmiedemeister in seinem Gärtchen sah. Herrgott, wie sah der Mann aus!

»Nachbar Hartmann – helfen Se uns allen aus der Ungewißheit! Es is nich Neugierde...« Zwei verstörte Augen sahen ihn an. »Reinkommen!« winkte er. Klingemann betrat zögernd den Garten und streckte ihm wortlos die Hand hin.

»Meine Ernstine ist schwer gefallen... Von der Leiter... Frische Gardinen sollten's sein... Herrgott, Nachbar – mein Weib!«

Langgezogene Schreie drangen von oben herunter. Peter Hartmann rannte ins Haus. Der Nachbar hielt wieder Wache. Andere Kraftwagen standen vor der Tür. Zwei Professoren von Ruf entstiegen ihren Wagen und grüßten sich. Draußen öffnete sich leise eine Nachbartür nach der anderen. Tischler Kutschke mit seiner Frau standen traurig und frierend da, Frau Klingemann war längst neben ihrem wachestehenden Mann. Von links kam Frau Schmidt von Ecke Stromstraße gelaufen, sie zerrte ihren Mann, den Dienstmann vom Lehrter Bahnhof hinter sich her. Aber am Standort des Unheils selbst blieb sie ganz ruhig stehen. »Mann«, sagte sie leise und sacht, wie sie wohl nie in ihrem Leben gesprochen – »Mann, ik habe jut zu machen. Ik habe schlecht von ihr jesprochen, nur so aus blinden Jlauben an det Schlechte – un nu liecht se uff'n Dot.«

»Sterben missen mer alle«, sagte der Dienstmann trocken.

»Ik will jut machen«, weinte die sonst so resolute Frau. »Wie kann ik dat?«

»Wenn se jesund wird – die schönsten Rosen schickst ihr, mitten in Winter, 'ne Mark fuffzig det Stück.«

Die Dämmerung war längst hereingebrochen, es war bitter kalt. Aber die Freunde, getreuen Nachbarn und desgleichen blieben unentwegt stehen. Und dann, nach langer Zeit, öffnete sich wieder die Haustür, von der die fröhlich bimmelnde Schelle abgenommen war. Die beiden Professoren stiegen eifrig redend in ihre Wagen. Nach wenigen Minuten folgte Dr. Hauffe. Sein Gesicht war wie aus Stein. – Und wieder ging die Tür, die ohne ihre lustige Klingel selbst wie gestorben schien – der Altgesell Maxe schlich sich heraus und war sofort umringt. »Der Meester schickt mir. Un seine Frau Ernstine wär heimjejangen. An der kleene Erbschmied – uff den hätt er sich ooch umsonst jefreut. Er liegt bei de tote Mutter in Arm. Un Sie möchten heimjehn.« – Maxe weinte plötzlich heftig.

»Alle Freude is jestorben in de jrünen Fensterläden.« Und er schloß sie sacht – einen nach dem anderen.

B., im Februar 19..

Mein lieber Herr Hartmann und sehr guter Freund, ich finde das ganz furchtbar. O ich habe immerfort geweint. Ich weine auch noch, und es sind hier also keine Klexe, sondern Tränen. Tante Denso will, ich soll alles noch mal schreiben, aber das tue ich nicht. Wenn ich auch glaube, der ganze Brief wird naß zu Ihnen kommen. Frau Ernstine war nämlich meine Freundin. Wir haben es uns ja nicht so laut gesagt. Wie oft hat man jemand schauderhaft lieb und sagt es nie, oder manchmal. Aber jetzt ist es mir so ganz weh. Beinahe übel, weil ich mich so sehr aufgeregt habe, und Tante Denso hat mächtig, aber standesgemäß gescholten. Dabei regt sie sich doch selbst den ganzen Tag auf, diese Greisin. Sie ist achtundvierzig Jahre alt. Lieber, lieber Herr Schmiedemeister, ich habe gestern mein Testament gemacht. Weil Frau Ernstine so rasch gestorben ist, meinte ich, es sei besser. Ach, lieber Herr Schmied! Sie sagen hier, die liebe Frau Ernstine hätte noch ein kleines Kindchen bekommen. Das war ihr gewiß ein großer Trost, ehe sie starb. Denn kleine Kinder zu bekommen ist doch ungefähr das Schönste, was man so hat und ich wünsche mir viele. Ach, lieber Beschützer! Wie entsetzlich traurig ist es nun, daß das kleine Kindchen auch tot ist. Das ist ja beinahe noch schlimmer als die große Frau. So ein armes, süßes, kleines Kindchen! Und da wollt ich Ihnen nur rasch sagen, daß es zum Heiland kommt, zum Kinderfreund. Das hat mir Onkel Denso gesagt, damit ich nicht mehr so doll weinte. And ich habe Sie nun in meinem Testament zum Uni-uniservalerben eingesetzt, ich hoffe, es wird so geschrieben. Mindestens hundert Bilder von Sprengelschokolade sind dabei. Und die kleinste und liebste Puppe, auch die schönste, soll Bernd Hartmann bekommen. Es wird Sie wundern. Aber wie er so die Mutter verlor, die liebe, liebe Mutter, da dachte ich, ich müsse ihm alles zu Liebe tun. So kann sich der Mensch verändern. – Natürlich kann ich ihm nicht schreiben. Denn ich hatte damals, wie er so ekelhaft schrieb mit Tuten und Blasen, einen Schwur getan. Und den kann ich nicht brechen, es wäre gemein. Deshalb sagen Sie ihm das alles, nicht wahr, mein lieber Beschützer? Jetzt ist der ganze Brief naß. Es ging nicht anders. Aber vielleicht legen Sie ihn Frau Ernstine mit ins Grab. Ich habe nämlich gar keinen Kranz und keine Blumen, weil ich noch nichts verdiene. Aber sie kann ihn lesen, wenn sie aufersteht, dann freut sie sich. Nun bin ich Ihr treues, tiefbetrübtes Muthchen.

Nachschrift: Nun kommt noch etwas doll Frohes. Onkel Denso kommt extra nach Berlin, um Frau Ernstine zu ehren. Ich wußte nicht, daß er Ihnen was schuldig ist. Er sagt aber, er wäre es. Ist es viel?

Wie man am Tage des schweren Unfalles der verblichenen Frau Ernstine Hartmann gefragt hatte: »Was macht der Doktorwagen vor Schmiedemeisters Tür?«, so fragten die teilnehmenden Nachbarn am Beerdigungstage: »Ist der Schmiedemeister denn zerbrochen an diesem Schicksalsschlag? Er geht herum, wie jemand, der nicht weiß, wo er hingehört.« Sein Vetter Nante, der ja selbst Witwer war, war der Einzige, den er um sich litt von Verwandten und Freunden. Den Sohn Bernhard hatte er mit kurzem Telegramm zu sich gerufen, war aber dem völlig versteinten Jungen gegenüber kalt und unzugänglich. Es war, als gönne er keinem Menschen die Tote. Als wolle er ganz allein um sie trauern. Vater und Sohn gingen sich aus dem Wege. Der Junge war wie zernichtet, als er vor dem noch offenen Sarge stand, und die liebe Mutter zum letzten Mal wiedersah. Und das winzige Brüderchen in ihren Armen, dies klägliche Etwas flößte ihm Grauen ein. Hätte er sich doch geweigert, dem Tod ins furchtbare Antlitz zu schauen! Hätte er doch die Mutter im Gedächtnis behalten dürfen als schöne, stattliche Frau. Jetzt konnte keine noch so starke Verklärungskraft ihm dies Bild der Vergänglichkeit vergessen machen. – Als Peter Hartmann gewahrte, wie die erbarmungslose Sitte des Zurschaustellens den Jungen verstörte, flutete plötzlich ein tiefes Mitleiden über sein Herz. Er ging mit großen, schweren Schritten an den alten Schreibsekretär und holte den eben erhaltenen Brief Erdmuthes aus einem Schubfach. Legte ihn stumm vor Bernhard hin. Erst ging dessen Blick ins Leere, dann blieb er an den großen, kindlichen Buchstaben haften. Und las – las mit dürstenden Augen, was das Kind geschrieben, warf dann beide Arme über den Tisch und weinte los – unaufhaltsam – zum ersten Male, seit ihn die Nachricht ereilte, daß das treuste Herz zu schlagen aufgehört habe. –

Eine große, dankbare Liebe zum Vater erfüllte ihn plötzlich. Dieser Kinderbrief, wenn er auch gar nicht an ihn gerichtet war, der konnte ihn gesund machen, konnte ihm Mut geben auf der hohen Schule weiter zu lernen. Ach, dieser Brief! Und Vater hatte ihn ihm übermittelt, der gute Vater! Sein Blick ging mit hellem Vertrauen zum Schmiedemeister hin, und dabei steckte er ganz mechanisch den Brief in seine eigene Brusttasche. Wie der Schatten eines Lächelns flog es da über die vom Schmerz zerstörten Züge hes Schmiedemeisters. »Jawoll, kannst ihn behalten!« sagte er rauh. Und dann lag der Junge in seinen Armen. »Vater! Vater, wir haben so viel verloren!«

Endlos war der Zug der teilnehmenden Freunde und Bekannten an diesem Leichenbegängnis, das sich nach dem Friedhof der Heilandskirche in Bewegung setzte. Gleich hinter dem Sarge folgte Peter Hartmann mit seinem Bernhard, an dessen anderer Seite der Präsident von Denso schritt. Das gab dem Jungen ein warmes Gefühl des Trostes, ohne daß er sich recht über den Grund Rechenschaft gab. Und wiederum dachte der hochgewachsene, vornehme Oheim Erdmuthes: »Was für zwei Recken gehen da neben mir. Und mit welch ehrlichen treuen Augen sieht der Jüngere mich an!« Es waren drei prachtvolle Gestalten, an denen man seine helle Freude haben konnte, auch wenn man in einem Trauerzuge ging. –

Nach der Beisetzung saßen der Präsident, Peter Hartmann und Bernhard bei Frau von Denso still zusammen. – Onkel Nante durfte auch mit dabei sein, und er wagte sich gar nicht auf einen der schönen Sessel zu setzen, sondern nahm nur eine kleine Ecke eines Rohrstuhles ein, trotz freundlichen Zuredens der alten Dame. Der Präsident hatte Bernhards Hand herzlich geschüttelt. »Ich soll Sie so heftig, wie ich es eben tue, von meiner Nichte Erdmuthe grüßen«, sagte er gütig. »Sie sind doch ihr Freund?«

»Jawohl, Herr Präsident, ich bin ihr Freund, aber sie ist nicht meiner«, lautete die orakelhafte Antwort. »Nun, das kommt denn wohl alles noch«, lächelte Erdmuthes Oheim.

Nur wenige Stunden blieben noch, dann mußte er nach B. zurück, und unseren Bernhard rief die Christiansschule nach H. Vorher faßte er sich ein Herz, dem Präsidenten zu sagen, daß seine Gefühle für Erdmuthe unwandelbar seien, daß aber seine Ausbildung wenig Zeit zum Briefwechsel übrig lasse. Besonders zu einem einseitigen. Der Herr Oheim wisse ja sicher um Erdmuthes Schwur.

Zuerst war der Präsident sehr erschrocken, aber nach der Aufklärung meinte er launig: »Sie machen schon frühzeitig die Erfahrungen mit kapriziösen Jüngferchen durch, junger Mann, aber Erdmuthe ist nebenbei ein ganz lieber Kerl, und meines Herzens Sonnenschein.«

Bernhard Hartmann fand das letztere reichlich anmaßend, aber er bewahrte dem Herrn doch sein Wohlwollen. Jedenfalls schlug er sofort den »kleinen Meyer« auf und belehrte sich, was »kapriziös« sei. – Ja, das war sie, die Erdmuthe. –

Am Abend waren Großje und der Schmiedemeister allein. Da brach der starke Mann zusammen. Er weinte schwer.

»Recht so, recht so, lieber Hartmann. Nun fasse ich selbst wieder Hoffnung, daß Sie diese Krise überstehen.«

»Für wen, gnädige Frau?« stöhnte er.

»Für Bernhard, Ihren prächtigen Sohn!«

»Wie leuchtet unter all seinen jungenshaften Schrullen sein ehrenhafter Charakter hindurch. Ihr eigener lieber Junge könnte er sein. Bis ins Kleinste ist er Ihnen ähnlich. Bietet sich da nicht die schönste Aufgabe für Sie?«

»Er ist kein Erbe für meine Schmiede ...«

»Ei, Sie können noch zwanzig Jahre selber werken, Meister. Dann setzen Sie den Altgesellen an Ihre Stelle und der nimmt Ihren ältesten Enkel in die Lehre.« Frau von Denso streckte ihm die Hand hin.

Da war's, als ob der Schmiedemeister aufwache. Er nahm die zarte Frauenhand und streichelte sie ungeschickt. »Ich schäme mich, daß mir die liebe, feine Gnädige erst den Ausgang zeigen muß aus all dem Steingeröll, das Gott auf meinen Lebensweg geschüttet hat. Aber ich werde ihn gehen, gnädige Frau. Ich danke Ihnen, ja, ja, ich danke Ihnen.«

Während all dieser Stunden weinten in Birkbuschen in der Heidekate zwei alte Mutteraugen um die tote Tochter. Und Vadder Hansohm fragte bekümmert, warum sie beide Alten übrigblieben, während die junge, resche Frau dem Gatten genommen worden sei.

»Dat Hadern helpt nix«, sagte Mudder Hansohm, »aber der da oben möt doch noch wat mit üs förjebben, süs warn wi all lang up 'n Karkhoff.«

»Jawoll, jawoll! Un ik harr zur Tauf nah Berlin wülln ...«

»Och nee, dor buten is das ni schön. Da starwen de Minschen un verwelken wie Gras, un bi üs is seit der Fru Detleffsen nüms gestorben. Nu süh mal eins. Mann, wo tröstlich der Himmel utsüht.«

And die beiden Alten standen in Andacht, und sahen, wie ein Regenbogen gespannt war über die weite Heide. Man brauchte nur bis an das ferne Hünengrab zu gehen. Wenn man auf den Riesenstein kletterte, und das getraute man sich wohl noch, dann konnte man geradenwegs in den Himmel hinauf wandern.

So gab ihnen die Heideheimat wieder rechten Trost, dessen die betrübten Herzen so sehr bedurften. Ihre alten, zitternden Hände falteten sich zusammen über der silberbeschlagenen Postille aus Urväterzeiten. –


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