Felicitas Rose
Das Haus mit den grünen Fensterläden
Felicitas Rose

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4.

Weit, weit waren die grünen Fensterläden geöffnet. Mit blanken, lachenden Augen schaute das Haus auf die Ankommenden. Auf die »hohen Reisenden«, wie Mutter Schmidt sagte. Sie stand, mit einer ganz neuen, weißen Schürze angetan, vor der Haustür, wie sie es einmal in einem vornehmen Hause im Westen beobachtet hatte. Da hatten Diener, Hausmädchen und Köchin die heimkehrende Herrschaft empfangen. Nun, sie war das alles in einer Person heute, und sie strahlte, wie ihre weiße Schürze. Die war extra »nach Maß« angefertigt worden, denn »solche« Weite, wie Mutter Schmidts Umfang beanspruchte, hatte nicht mal A. Wertheim im Hauptlager. Sie setzte einen regelrechten Knicks hin, es geschah weder dem Schmied zu Ehren, noch gar der Frau, oder »der kleenen Erdjeborenen«, sondern ihrer selbst wegen. Die Leute aus Alt-Moabit sollten immer sehen, daß sie wüßte, was sich schicke. »Denn det weiß ich allemal, jnädige Frau Oberst«, hatte sie noch vorhin zu Frau von Denso gesagt, »wenn ik ooch nich den juten Ton in allen Lebenslagen uff die Toilette hängen habe, wie meine Nachbar'n zum Beispiel, die sich denn in stillen Augenblicken draus belernt, weil se sonst keene Zeit hat.«

»Jun Dag, Herr Schmiedemeister, ooch so ville Frau Meestern, jun Dag, Frollein von Denson, jun Dag, Herr Gymnasius, ich bitte sehr, Herr Autofritze, stelln se de Koffers freundlichst in den Vestübühl.« Dies hochtönende Wort war für die neugierigen Zuschauer bestimmt, die nicht merken sollten, daß die »sojenannte Jarderobe« voll war, sobald die Koffer drin standen. – Im stillen ärgerte sich Mutter Schmidt über Peter Hartmann, daß er mit 'n Auto gekommen war.

›'ne Achtpfennigmarke hätte doch am Ende die Reise noch abgeworfen, daß er hätt können benachrichtigen, wie, wann und wo. Und sie, die Schmidten hätte denn Nummer Einhundertsechsundzwanzig benachrichtigt, und der brave, sowieso balde aussterbende Droschkenonkel hätte sik de Fuhre vadient. Aber ne. Bei sonne dufte, anjeerbte Schmiede mußte nadierlich 'n Auto ran. Un det stänkerte nu noch in de jrienen Fensterläden, trotzdem 's schon längst abjedampft war.‹

Mutter Schmidt verabschiedete sich am Abend auch wort- und beinahe tränenreich von Frau von Denso. »Det war 'ne jlückliche neundägige Ehe zwischen uns, jnädige Frau. Un damit is nu vorbei, nu de Hartmannschen wieder injerückt sind. Aber ik bewahre Ihnen lebenslänglich meine Freundschaft, dat soll 'n Wort sind. An wenn Se wieder mal de Schmidten brauchen..., nur nich blöde! Ik bin nich stolz, un dienen müssen mer alle.« –

»Ach, Großje! Endlich hab ich dich wieder!« Zwei schmale Kinderarme lagen um den Hals der alten Dame.

Frau von Denso war noch etwas betäubt von der Überraschung. »Herzenskind, es ist doch nichts geschehn? Herr Hartmann wollte über vierzehn Tage bleiben. Ich freu mich ja, daß du wieder bei mir bist – aber ein bißchen gedrückt kommst du mir vor, ihr alle ..., du warst doch gut und lieb?? Nie jähzornig? Konnte ich mich auf dich verlassen?«

»Immer!« Die Blauaugen sahen sie fest an. »Ich hab' ein einzigmal den Bernhard ›Ekel‹ genannt. Das war er. Hat sich aber längst gebessert.«

»So so.« Frau von Denso strich liebkosend über das krause Flimmerhaar. »Willkommen, Frau Ernstine!«

»Wie schön sieht unser Heim aus«, sagte diese warm und beugte sich über die Altfrauenhand. »Alle die Blumen ... wie gut sind Sie, gnädige Frau ...«

Diese wehrte lächelnd.

»Wie gern streut man seinen Mitmenschen Blumen auf den Weg, aber das Hegen und Pflegen, das Aufpassen und Nichtzertreten müssen dann die Empfänger übernehmen ... ich weiß, Sie tun das, Frau Ernstine, Sie werden Ihr Pflänzchen Glück einhegen.«

»Wenn ich's vermag.« Es klang schroff, als wäre es die einsame Frau von früher.

»Nun möchte ich die Frau Ernstine fragen, warum Sie so bald nach Hause kommen? Oder wende ich mich lieber an meinen Wirt selbst?«

»Der ist gleich erst mal zur Schmiede gefahren. Mit aller Macht zog's ihn hin. Er ist ein Arbeitstier. Ja, und ich – ich sehnt mich ja wohl nach Berlin und hier in dies liebe Haus. Und so ging's dem Bub, und der Lüttjen. Dat hett min Öllern vergrämt ...«

»Ahhh!« Frau von Denso nickte verständnisvoll. »Sie sind im Unfrieden geschieden? Von Ihren Eltern? Von Ihrer und meiner Heide? Ewig schade!«

Ruhig und klar berichtete Frau Ernstine. Aber Erdmuthe rief leidenschaftlich dazwischen: »Gar nicht sind wir geschieden. Eingeschlossen haben sich die lieben Großeltern. Wir haben gerufen und geklopft ...« Das Kind weinte auf. – »Heidjer, Heidjer!« nickte Frau von Denso. »Sie werden nie anders. Auch in Generationen nicht. Ich weiß es von meinen Ureltern her, dann vom Großvater, von den Eltern ... Gut ist der Schlag. Gut bis zur Selbstverleugnung. Und hart – hart, da wo es gilt, Heidjereigenheit zu wahren ... Nie machen sie ein Zugeständnis – nie.«

Frau Ernstine nickte. Erdmuthe lief in den Garten. Sie wollte sehen, wie weit die grünen Erbsen in der Zwischenzeit gediehen waren und die Tomaten und die Stachelbeeren. Still saßen sich die beiden Frauen gegenüber. »Und was macht Ihr junges Glück, Frau Ernstine?«

Die grauen Augen leuchteten auf und erloschen wieder. »Es blüht!« sagte sie laut. »Aber mir kommt's jeden Augenblick vor, als müßt ich zu mir selbst sagen: rühr nicht dran! Berufs nicht! Halt beide Hände drüber! Halt jeden fremden Menschen fern! Niemand darf sich mit an deinem Glücke freuen, es vergeht sonst ... Und ich bin über die Vierzig, und hab's mir durch sechzehn Jahre hindurch erbetet ...«

»Frau Ernstine!!!«

»Ich bitt um Verzeihung ... wie darf ich der gnädigen Frau damit kommen ... Aber Sie schließen einem das Herz auf. – Jesus, ich hätt's nie geglaubt, daß ich so reden könnt.«

»Frau Ernstine, sind das alles nicht nur Einbildungen? Sie haben einen außergewöhnlich tüchtigen, prächtigen Mann, angesehen über unsern Stadtteil hinaus ... Und er liebt Sie mit einer jugendlichen Frische des Empfindens, die selbst mir alten Frau auffällt, die auf so etwas wenig acht hat. Seien Sie nicht zu empfindsam, wenn er etwa einmal weniger zutunlich ist. Zwang können die Männer nicht vertragen ...«

»Ich weiß, ich weiß, gnädige Frau. Und ich danke es so herzlich, daß ich mich hier aussprechen konnte. Ich werd's nicht vergessen. Aber was mir oft den Atem verschlägt, ist noch etwas anderes ... Da ist jemand im Spiele ... gut Nacht, gnädige Frau ... wenn man den Feind nennt, kommt er gerennt ...« Sie sah durch die klaren Fensterscheiben auf die Straße, ihr Hirn war wie im Schmerz zusammengezogen. »Gute Nacht.« Sie schloß leise die Tür, und draußen ordnete sie noch rasch in Küche und Speisekammer, was ihr nötig erschien. – Erdmuthe sprang die Treppe herauf.

»Schläft Großje schon?« fragte sie. Sie bekam keine Antwort, und sah, daß Frau Ernstine tief in Gedanken stand, kaum wissend, welche Arbeit ihre Hände mechanisch verrichteten. Da streichelte das Kind ihre Schulter. »Arme Frau Ernstine!« Und es sah in zwei Augen, in denen stand der Gram. Jäh riß die Frau das Kind an sich. »Du«, sagte sie zärtlich, »du Kleines! Und findest schon Trostworte, die mir zukommen? ›Arme Ernstine!‹ Das hat noch keiner zu mir gesagt ... und ist doch das einzig Wohltuende ...«

Die Frau reckte sich auf. »Ich bitte dich, schließ die Tür hinter mir ab, ich gehe noch einen Weg.« Und sie ging ohne Gruß.

Erdmuthe lief zu Frau von Denso. »Großje, Frau Ernstine müssen wir lieb haben.«

»So, müssen wir das? Und wenn wir es nun schon hätten?«

»Großje, du bist doch ein Wonniges. – Nun wird sie auch gesund werden.« –

Frau Ernstine ging mit raschen Schritten die Straße entlang. Sie sah nicht rechts, noch links und das wurde ihr sehr übel vermerkt.

»Ne«, sagte die Schlachtersfrau, die weniger duldsam war, als ihr braver Mann, – »det is nie nich jut, wenn sik ne unbekannte Jröße, die jahrelang int Dunkle war, uff eenmal in de Sonne setzt. Als se noch ihre Wichse kriegte von Bernharden, wenn er einen sitzen hatte, da war se dusemang marschee, un nun sitzt se mang de jrünen Fensterläden un macht Hochzeitsreisen un kiekt de Nachbarn nur noch mit de Hihneroogen an.«

»Un während deinen Sermon hat de Katze dein Gehacktes jefressen«, rief der Meister. »Wenn de doch um Gotts willn die Hartmanns unjeschoren lassen wolltest. Oder hattest du für den Schmiedemeister schon 'ne zweite Frau ausjesucht?«

»I wo werd' ik«, entrüstete sich Frau Klingemann. »Obschonst ik nadierlich mit Frollein Lisejang jesprochen hatte, un die hätt ihm jenommen, un die hätt jepaßt. Un die hätt nich heimlich jeheirat', un die hätt ooch keene Hochzeitsreise jemacht, als ob se 'ne ›Von‹ wäre, det hat se mir eidlich versichert.«

»Weib, denn haste also doch auf 'n Kuppelpelz spekuliert. Sollst dir wat schämen. Un denn ausjerechnet de Liesejangen! So ein ausjemachter Jeizkragen, wie die is, die uff ihre paar Kröten brütet, aber doch keene Goldfasane zur Welt bringt. – Un häßlich wie de Nacht is se, un det Schlimmste, pfui Deibel: › Fegetarier‹!«

Er schüttelte sich vor Abscheu. »Sonne tierfeindliche Jesinnung kann ja 'n ehrlichen Schlachtermeister völlig aus de Kontenanxe bringen«; das murmelte er noch im Hinausgehen. Und selbst der Schlüssel, mit dem er die Ladentür abschloß, kreischte vor Entrüstung.

Ernstine Hartmann war bis zur Haltestelle der Elektrischen gegangen. Sie wollte nach der alten Schmiede in der Friedrichsgracht, und von hier aus konnte sie fast bis vors Haus fahren. Peter würde sich freuen, wenn sie ihn überraschte. Ein heftiger Schreck ließ sie zusammenzucken. Vor ihr stand Detleffsen. Er lümmelte sich an den Kiosk, der die verkehrenden Bahnen anzeigte, und schien Ernstine nicht zu sehen. Alle Wartenden waren inzwischen eingestiegen. Die beiden standen fast noch allein. Sie wollte ungesehen von ihm sich zurückziehen und einen anderen Weg einschlagen. Da drehte er sich lauernd herum. »Unnötige Mühe«, sagte er spöttisch, »ich bin dir schon von deinem Hause aus gefolgt. Also hast du's geschafft, du Hellohrige? Hast wirklich deinen Scharmanten gekapert, dem du seit sechzehn Jahren nachläufst. Weiber sin doch de größten Diplomaten. Ich bewundere dich aufrichtig.«

Ernstine schaute angestrengt nach einer neuen Fahrgelegenheit.

»Unnütze Mühe«, spottete Detleffsen wieder. »De kümmt irst in twintig Minuten. Du wirst mi noch nich los. Überhaupt nie, Ernstine. Ik bliw di up de Hacken. Den Slag in mien Gesicht vergeß ik dir in Ewigkeit nich. Ganz klein möt ik di krigen. Ganzen lütt, verstehst? Un nu segg mol, – vertraulich – wie is he denn, die Smiedmeister so as funkelnigenneuen, schmusigen Ehemann, he?«

Ein Auto kam vorbei, die geängstigte Frau schrie den Fahrer an. Er hielt. Andrängendes Publikum schob Detleffsen zur Seite, weil eine neue Straßenbahn in Sicht war. Ernstine rief rasch das Ziel der Fahrt dem Schofför zu.

Alles war so schnell gegangen, Detleffsen stand wütend und verdutzt zugleich allein auf dem Platz. Und doch hatten die Minuten genügt, die beiden Landsleute zusammen zu sehen. Tischler Kutschke wiegte seinen Kopf. Er kam vom Abendschoppen, sah die beiden und sah auch das Auto rasch fortfahren. »Det jefällt mich nun jarnich. Ik halte meine Sejenshände über die Hartmanns, un denn macht Bernharden seine selige Witwe sonne Zicken. Hat den schönsten Mann von Moabit kirchlich bejlaubigt und trifft sik mit son ausjekochten Sünder. Ik mein immer, der liebe Jott muß bei sein Meisterstück, wat ja doch de Eva sin soll, wat verjessen haben.«

Er kopfschüttelte noch, als er beim Schlachter Klingemann vorbeiging. Der stand vor der Haustür, schmauchte gemütlich seinen Varinas, und rief ihn an.

»Nachbar Kutschke, ik beobachte Ihnen schon 'ne Weile. Sie machen woll 'n neuen Monolog von Schillern?«

»Ne, 'n janzen alten reptitier ik. So alt is er, als de Welt jeschaffen is, oder wenigstens det Paradies.«

»Det is mich zu hoch, Kutschke. Un wenn ik de Piep unner de Näse hab, denn jebe ik mir unjern mit Rätseln ab.«

»Meister Klingemann, sin Se alleene, oder is Bombenjefahr? Denn lassen Se uns 'n Unterstand uffsuchen.«

»Ne, reden Se man. Meine Frau is nich da«, entgegnete der Schlachtermeister voller Verständnis.

»Ik hab bis jetzt dichte jehalten, Nachbar. Un nie wird 'n Sterbenswort zu meine Olle gesagt werden, denn davor bin ik Mann, det ik nach Entschuldigungen suche. Aber heute brauche ik Mannes- und Freundesrat, schon wejen unsern braven Schmiedemeister. Bis heute habe ik trotz aller Redereien jejlaubt, det de Ernstine Hartmann 'n Meisterstück von'n Herrjott wäre, un uff eenmal dämmerte mich, als ob's doch nur uff 'ne Lehrlingsarbeit rauskäme.«

Und er erzählte seine Wahrnehmungen von oftmals und heute wieder. Ganz bedrückt waren die beiden alten Knaben, je mehr, je länger sie sprachen. Und gaben sich dann still die Hand.

Dann stand die Frau Schlachtermeister unvermutet neben ihnen.

»Dir is ja de Pfeife ausjejangen, August«, sagte sie erstaunt. »Un ihr hattet et ja ooch mächtig mit de Rederei, da kommt keene Waschfrau mit. Wat jab's denn?«

»Dort jehen de Hartmanns Hand in Hand«, rief Tischler Kutschke erleichtert aufatmend, »so wat is 'n Anblick!«

»Ja, un darüber sprachen wir«, fiel der brave Schlachter ein, und nahm sein Käppchen ab, das er ordentlich ein wenig schwenkte gegen die Vorübergehenden. »Jun Abend, jun Abend! Wir jratulieren. Noch fuffzig Jahre wie heute!«

Die beiden Hartmanns lachten, blieben aber nicht stehen, sondern strebten den grünen Fensterläden zu. Aus denen winkte ihnen eine Jungshand, es sah so fröhlich und herzlich aus.

»Ja«, sagte Tischler Kutschke zu Frau Klingemann: »Wir Mannsleute kamen überein, det der Schmiedemeister 'n Jlückspilz is, un dat wir beide de Hände über sein jroßet Los halten wolln. Jun Abend, Frau Meestern, dat is doch ooch wohl Ihre rechtliche Ansicht?!« –

Da ging er hin und man hörte, wie nach wenig Minuten das Glockenspiel seiner Haustür fröhlich bimmelte. Auch Peter Hartmann schloß seine Tür auf. »Tritt ein mit Gott, Ernstine, mein Schatzkasten. Das war 'ne frohe Überraschung, dich in unserer Schmiede zu sehen. In unserer, Ernstine, hörst? Und so, wie ich dich da empfing, in't Schurzfell lasse ich mich photographieren, mit dir zusammen oder besser noch, ik jebe dem jungen, fleißigen Kunstmaler was zu verdienen, der da in de Friedrichsgracht wohnt. Was meinst, Ernstine? 'n Ölbild, wat sich später dein Jung in 'n Salon hängen kann ...«

»Sag ›unser‹ Jung, du Lieber, wie du eben so schön ›unsere‹ Schmiede sagtest.«

»Macht dich das glücklich, Ernstine? Du Närrisches? Ja, also ›unser‹ lieber Jung, der Bernhard. Da kommt er schon die Treppen runterjefegt. Sachte, sachte, Junge! Du bist nicht allein im Hause.«

»Och, Vater, nur de Erdmuthe liegt in de Posen. Frau von Denso wartet ja wohl noch auf dir. Auf ›dich‹«, verbesserte er sich gleich.

Peter Hartmann schmunzelte. »Ja, ja, das Gymnasium. Junge, du hast es gut. Bei mir hat's länger gedauert, ehe ich den vierten Fall fand, – aber – es hat wohl allens so sein sollen. Und denn sag ich jetzt der Frau Oberst noch guten Abend und spiel vielleicht noch 'ne Partie sechsundsechzig mit ihr. Kommst mit, Frau Eheliebste?«

»Nein, Peter. Ich war schon vorher bei der Seelensguten, geh' man allein, sie freut sich.«

»Du bist aber auch gar nich eifersüchtig, Ernstine, is das nu die rechte Liebe?« scherzte der Schmied.

»Das weiß Gott!« Sie sagte es so ernst, daß es ihn verwunderte.

»Gnädige Frau, ich bin der letzte, der Sie begrüßt«, rief er, als das leise Herein auf sein Klopfen erklang. »Dafür bring' ich was Schönes mit.« Er hielt ihr einen mächtigen Heidestrauß entgegen. In der Mitte thronte ein Wacholderbäumchen, Kiefern- und Tannenzweige waren ringsherum gebunden, und die rotblühende Heide umgab wie ein leuchtender Kranz das Gebilde, das von liebender Hand mit künstlerischem Empfinden gepflückt und gebunden worden war.

»Wenn ok de Heid uns rutsmieten hadd«, versuchte er Platt »to snacken«, – »ihre rote Blust mußte sie uns doch lassen ...« Eine Wolke flog über seine Stirn in Erinnerung an die letzten, schweren Stunden im Heidehaus.

»Wollen wir noch ein Partiechen machen, gnädige Frau?« fragte er rasch ablenkend.

»Wie schön!« Die alte Dame betrachtete sinnend den wundervollen, seltenen Strauß. »Sie bringen mir die alte Heimat ins Stübchen. Und nun lassen Sie uns nicht spielen, sondern plaudern. Setzen Sie sich zu mir, Meister Hartmann. Solange ich noch mit meinem Freunde Gedanken wechseln kann, wechsele ich keine Spielkarten.«

Peter Hartmann lachte. »Wenn meine Gedanken der gnädigen Frau einen Wert ausmachen ... Aber wie's die Frau von Denso sagt, so meint sie's auch, das weiß ich schon. Und es tut wohl, wenn ich Freund genannt werde aus ihrem Munde.«

»Lieber Hartmann, – ich wäre eine verkümmerte Schattenpflanze geblieben und wohl rasch von meiner Enkelin weggestorben, wenn Sie mich nicht ins Licht gesetzt hätten. Ach, wehren Sie sich doch nicht. Ich bin wie Erdmuthe. Die muß sich auch alle paar Tage ordentlich ›ausdanken‹, wie sie das nennt.« »Muthchen ist ein goldenes Gemüt.«

»Wie zärtlich Sie das sagen, Meister Schmied. Aber es kleidet Sie gut. Törichte Menschen glauben, ein großer, schwergewichtiger Mann dürfe nicht zart sein, es sei unmännlich. And doch begibt sich ein Mann ohne Feingefühl der schönsten Tugend, – der Ritterlichkeit. Die doch den nachhaltigsten Eindruck auf uns Frauen macht.«

»Es gibt aber auch welche, die gerade sonne Schlagetots vorziehen«, sagte der Schmiedemeister beinahe knabenhaft trotzig.

»Solche Frauen kenne ich nicht und will sie auch nicht kennen. Und –«, setzte die alte Dame lebhaft hinzu: »Gott sei Dank, Hartmann, Sie haben sich das Zartgefühl ins Haus als Heimchen an Ihren Herd gesetzt. Wissen Sie, daß Frau Ernstine mir hochwert ist? Wäre ich jung, sie müßte mir Freundin sein.«

»Ist das wahr, gnädige Frau? Ist das wahr?« Die Stimme versagte ihm.

»Lieber Hartmann! Sollte es möglich sein, daß Sie den Wert Ihrer eigenen Frau noch nicht erkannt hätten? Sie waren doch unabhängig, wohlhabend, gänzlich frei, konnten wählen, wen Sie wollten, und wählten sich das große Los. Ich kann mir nicht denken, daß das Zufall war ...«

»Nein, nein – sicher nicht –, aber, daß Sie, die abgeklärte, vornehme Frau es mir bestätigen ...«

»Sie brauchen von niemand auf der Welt eine Bestätigung, lieber Schmiedemeister, aber vielleicht einen Rat: Ihre goldechte Ernstine brauchen Sie nicht zu hüten, die hütet sich selbst. Aber Ihr eigen Herz müssen Sie hüten – – vor Zweifeln. Nehmen Sie den Rat an?«

»Es ist, als ob die gnädige Frau Gedanken lesen könnte ... ich nehme den Rat an. Ich will mich mühen, ihm zu folgen.«

Er sprach stockend, und Frau von Denso sah mit gütigem Mitleid in sein bewegtes Gesicht. Da straffte er sich und ging mit raschen Schritten hinaus und in seine Wohnung. –

Am anderen Morgen trat Ernstine fröhlich an das Bett von Frau von Denso, half mit sachten Händen, daß die Leidende ohne allzu große Schmerzen sich erheben konnte. Als die Helferin einmal das Zimmer verließ, rief Erdmuthe rasch: »Sieht sie nicht schön aus, die Frau Hartmann? Weißt du, eine Königin denk' ich mir so, die sich 'mal verkleidet hat.«

»Was du nicht alles siehst, Kleines, – aber du hast wohl recht.«

Und zu der Eintretenden: »Was ist mit Ihnen geschehen? Sie haben Lichter angesteckt in Ihren Augen.«

»Feiertag! Mir ist wie lauter Feiertag. Und ich glaube, den hat Frau von Denso mir geschaffen.« Sie sah dankbar und zärtlich auf die alte Dame, hob sie dann mit starken Armen auf und trug sie auf den Lehnstuhl.

»Ei, das sollen Sie aber nicht tun«, wehrte die Leidende. »So schnell und bequem wie heute bin ich freilich noch nie hier gelandet.«

»Das macht das Frohsein. Das gibt ein Fuder Kraft zu dem, was man schon hat. Gnädige Frau, – ein grübelnder Mann mit wunderlichen Launen, die mir Angst machten, ging gestern abend zu Ihnen, und als er dann zu mir kam, war er gut und im Gleichmaß. Da kann ich ja nie genug danken, – nie genug.«

»So! Und nun steht das Barometer mit einmal ganz hoch und alle Ihre Ängste sind mit einmal verschwunden, Sie seltsame Frau?

Frau Ernstine erblaßte und die »Lichter« löschten aus.

»Wenn das wäre, gnädige Frau! Wenn ich seltsam wäre, wie wollt ich mich bessern, an mir arbeiten. Aber im höchsten Glück – immer fällt der Schatten. – Gelt, es ist unverantwortlich, daß ich schon wieder ausluge nach dem Schmerz ...«

»Ja, vielleicht ist's unrecht. Aber ich meine, es ist Kranksein. Sie haben zulange im Schatten gestanden. Noch eine Zeitlang und die Sonne wird ihre Wunder tun ...«

Frau von Denso sah jetzt behaglich vor dem Betttisch, den Ernstine Hartmann auf den Krankenstuhl geschoben hatte. Der frische Kaffee duftete und die geschickten Hände der Pflegerin hatten appetitliche Brötchen gestrichen.

»Heidehonig! Wie das duftet! Welch lieber Gedanke von Ihnen, mir dies Labsal mitzubringen. Mir ist, als könnte ich doch noch einmal über die Heide gehen, solche Kraft strömt er aus.«

»Dann gehe ich mit!« rief Erdmuthe ungestüm. »Ich muß ja die Großmutter wieder gutmachen. Großje, sie hatte ein ganz kleines Gesicht bekommen, als wir fortwollten. Und sie sagte, ich hätte mein Wort gebrochen. Großje, kann man das wieder heil machen?«

Es klopfte heftig an die Tür.

»Wer tut so etwas!« sagte Frau Ernstine zornig. Und sie öffnete die Tür vorsichtig bis auf einen schmalen Spalt.

»Mutter, komm doch mal zu mir heraus«, hörte sie ihren Bernhard mit heiserer Stimme sagen, und ihr Herz schlug mit einemmal bis an den Hals.

Sie schob sich durch den Spalt. »Jung, wie siehst du aus?« rief sie erschrocken. »Ist ein Unglück geschehen?«

»Für mich ist's ein Unglück«, knirschte er. »Mutter laß uns in unsere Stube gehen.« Sie folgte ihm und fühlte, wie ihre Füße schwer waren.

»Mutter, was ist das mit dem Detleffsen?« stöhnte der Junge auf. »Ist er verrückt? Betrunken war er nicht. Aber er läuft mir immer über den Weg und lacht und spricht mich an und ruft mich: ›Bernhard Hansohm‹! Weshalb sagt er das? Ebenso, wie die schreckliche alte Heidehexe! Mutter! Mutter! Oder sollt ich dir es nicht sagen? Bin ich schlapp oder feige, wenn ich's tu? Soll ich's allein tragen? Oder soll ich dir was tragen helfen? Mutter, sprich ein Wort! Mutter, ich bitt dich ja nicht oft! Jetzt tu ich's! Mutter, sei nicht so starr!«

Sie stand wie gebannt. Ganz kalt war sie, nur die Augen glühten in dem blassen Gesicht. ›Mein Jung! Mein Einziger!‹ ging es durch ihre Gedanken. ›Und soll nun vergiftet und verdorben werden, wie er mir den Mann verdorben hat?‹ – »Pfui Teufel«, sagte sie laut.

»Mutter, gilt das mir?« schrie Bernhard auf.

»Still, sei still! Ich kann das nicht mit dir besprechen, ich kann nicht. Nur um tausend Gottes willen bitt' ich dich, Junge, sag's dem Vater nicht, was du hörtest und was dir geschieht. Ein Schuft ist der Detleffsen – hörst? Und wenn der Vater hört, was er sagt, immer wieder sagt, er schlägt ihn tot. Und macht sich unglücklich. Um so'n Schuft –so'n Schuft! Willst das, Bernhard?«

»Mutter! Straf ihn Lügen!«

»Still bist! Ich bin dein' Mutter, du mein Kind. Lieber zugrund' geh'n, als meinem Kind so 'was ausdeutschen.«

»Mutter, – du fällst mir ja um! Mutter, wie siehst aus! Mutter, sei stark! Ich trag's, ich trag's allein!«

»Nichts ist da, was du tragen mußt, Jung! Sei ruhig. Mich tritt kein' Ohnmacht an. Nur dem Vater nichts – sagen.«

Da trat Peter Hartmann schon aus der Schlafstube. »Guten Morgen, Frauchen«, rief er fröhlich. »Du darfst mit deinem faulen Manne schelten. Wie Blei lag's mir heut' in den Gliedern, aber es ist das letztemal, daß die Schmiede auf den Meister warten muß. He, wie seht ihr zweibeiden aus? Käsig der Jung. Und du rot wie draußen im Jarten die Päonie. Mädel! Ernstine! Hat er 'was ausjefressen? War er frech? Jung, wenn du mir die Mutter nich estemierst ... !«

»Nichts, nichts«, wehrte sie sacht. »Frag nicht, mein Peter. Mir ist nicht extra und mein Jung – – ja, der hat auch so allerlei Beschwerden, aber nichts von Belang ...«

Laut auf lachte der Schmiedemeister. Herzlich und unbeschwert. »Na, so Jungsnöte kenn ich selbst. Verliebt? Oder fehlt's an Pinke-Pinke? Fürs erstere kann ich nur raten, wart' mit dem Heiraten, bis nach dem Abitur, und fürs zweite: Da, mein Sohn!«

Einen blanken Taler drückte er ihm in die Hand. Aber die Hand spreizte sich und das große Geldstück lief klingend über die Diele, bis es klappernd niederfiel. Einen Augenblick sah der Schmiedemeister die beiden forschend an. Nach dem Wehlaut, den Frau Ernstine ausstieß, als ihr Sohn das gütig gereichte Geld verschmähte, war es still geworden. Da verließ der Schmied das Zimmer und schlug krachend die Tür hinter sich zu.

»So!!« sagte Frau Ernstine hart. »Jetzt hast mich verraten. Deine eigene Mutter. Trotz meiner Bitte. Was soll jetzt der Vater denken?! – Und nun gehst hin, sofort. Zum Vater. Und sagst ihm, weshalb wir in Aufregung waren. Wort für Wort.«

»Mutter, – was verlangst du?« rief Bernhard außer sich. »Dich soll ich anklagen, vor Vater? Und hast es mir eben erst verboten?!«

»Angeklagt hast du mich eben, ohne daß du es weißt. Jetzt sollst du es gutmachen. – Erzähl ihm alles. Er versteht dann schon, daß eine rechtschaffene Frau sich keine Schandsachen nachsagen läßt, ohne in Aufregung zu geraten.« –

»Mutter, ich fürcht mich vorm Vater, wenn er sowas hört. Um deinetwillen fürcht ich mich.«

»Geh! Das hättest du früher überlegen sollen. Daß du ihm das Geld vor die Füße trudeltest, dafür mußt Rechenschaft geben ...« Sie ging in die Küche, hocherhobenen Kopfes und mit ehernem Gesicht.

Bernhard stürmte an Erdmuthe vorüber, die in den Garten wollte. Sie hielt ihn auf. »Bleib mal stehen. Zum Fürchten siehst du aus. So hart. Bernhard Hartmann. Sowas kommt vom Namen. Vielleicht kannst du nichts dafür. Aber es darf nicht sein. Hast nicht gehört, daß dies Haus ein sonniges Haus sein soll? Wegen der grünen Fensterläden? Und nun sind wir alle schattig.«

»Du nicht, du nicht«, sagte Bernhard bestimmt. »Und bleib doch so, wie du bist, hörst Erdmuthe? Und sprich viel mit der Mutter. Die braucht dich am meisten.« »Du bist so sonderbar, Bernhard Hartmann. Wo willst du hin?«

»Ich such' den Vater ... Hast ihn gesehn?«

»Ja, der lief vorhin im Garten ümmer up un dal. Sah auch ganz schattig aus, und mich hat er nicht gegrüßt. Aber ich verzeih's ihm, er war aus den Fugen, und da bin ich ebenso.«

Bernhard stürmte fort, aber er fand den Garten leer. Verzweifelt fuhr er sich durch seinen Kraustopf, lief auf die Straße, und erwischte gerade noch die Elektrische, die ihn zur Friedrichsgracht fahren konnte. Ein Mann sprang hinter ihm auf, Tetje Detleffsen.

»Sie sin wohl verrückt?« schnob diesen der Schaffner an. »Wie können Sie jetzt noch aufspringen? Wenn wat passiert, denn is allemal der Schaffner jewesen.«

»Ne, heute nich«. sagte Detleffsen vertraulich. »Heute wollen wir Ihnen alle hier bezeugen, daß Sie keine Schuld haben. Ich war so fixing bei, weil ich mit meinem allernächsten Verwandten die Strecke fahren wollte. Komm her, Bernhard, sag dem Herrn Beamten, daß es so is.«

Tetje Detleffsen war wieder betrunken.

Bernhard Hartmann nahm keine Kenntnis von ihm. Er stand abgewendet und machte jetzt Miene, in den Wagen auf einen Sitzplatz zu gehn.

»Tu das nicht, Bernhard Hansohm, tu's nich. Sieh mal, hier draußen ist nur der freundliche Herr Schaffner, der sagt's nicht weiter, was ich hier sage, aber drinnen sitzen vielleicht böswillige Menschen, die könnten aufhorchen, wenn ich se erzähle.« –

Gequält blieb Bernhard stehen.

»Wer is der junge Mensch?« fragte der Schaffner den Angeheiterten. »Er sieht schmuck aus.«

»In unsrer Familie seh'n sie alle schmuck aus!«

Der Schaffner lachte. »Na, da sin Sie wohl 'n bißken aus der Sippe jepurzelt. Eigentlich dürfte ich Sie gar nicht so mitnehmen.«

»Aber uneigentlich, nich wahr? Na warten Sie nur, der Herr Schmiedemeister Hartmann, den kennen Sie doch?«

»Den von der Friedrichsgrachter Erbschmiede?«

»Jawohl. Setzen Sie sich einen rauf. Den Herrn Hartmann will ich jetzt gleich um einen scheenen, nigen Anzug ersuchen.«

»So! Wat sind Sie eigentlich vorn Landsmann?«

»Ik bün Heidjer, Lüneburger Heide.«

Der Schaffner mußte seinen Dienst versehen. Er wendete sich lachend ab, klopfte Bernhard auf die Schulter und sagte: »Nächste Haltestelle!«

Bernhard sprang schon etwas vorher ab, Tetje Detleffsen gleich hinterher. Er fiel und blieb liegen. »Sie Dussel«, schimpfte der erboste Schaffner. »Hat einen sitzen, und dann springt er noch verkehrt ab.«

Da wendete sich Bernhard um und half dem Manne, der sich, wie es schien, verletzt hatte. »So is recht, Bernhard Hansohm. Leviten aus der Bibel gibt's genug, aber die Samariter sünn man knapp.«

»Sie sollen mich nicht Hansohm nennen. Ich will's nicht, es ist eine Unverschämtheit.«

»Sachte, sachte, mien Jung. Du weest jo gornich, mit wem du schnackst.«

»Doch, dat weet ik. Ich schnack mit Tetje Detleffsen, der sine Fiw nich bisamen hat.«

»Nu werd nich' frech, Bernhard Hansohm. Die Macht is auf meiner Seite. Un jetzt mach mich mal büschen vom Staube rein, un dann führ mich zu dem Schmiedemeister Hartmann. Oha, wat wird sik der Mann högen un freun, wenn wir beid' so einig sünd, un so hübsch tosamen ankamen.«

»Sie werden nicht zu meinem Vater gehen, ich leide das nicht.«

»Zu dein Vater? Ha, ha, ha, was 'n nützlichen Schnack ... mach fix to, ik will ton Peter Hartmann, aber allein kann ich nicht gehen. Hab mir ja woll dat Krüz verrenkt.«

»Sie gehen nicht, ich leide das nicht.«

»Du Lecken hast gornix zu wollen un zu leiden. Mach Platz!«

Sie standen fast vor der Schmiede. Bernhard stellte sich vor Tetje Detleffsen, dessen Rausch langsam zu schwinden schien. Der warf sich auf den Jungen und dieser schlug ihn zurück, daß Detleffsen niederstürzte.

Nun sammelten sich Leute um sie.

»Det is doch die Mechlichkeit!« rief eine Frauenstimme. »Sonne Rotznase verjreift sik an 'n ollen Mann. Fleich hilfsten auf! Soll ich dir Beene machen?«

Ein anderer Mann half Tetje Detleffsen. »'ne Schande is es mit de heutige Jugend! Kein Respekt mehr vor Vatern und Muttern, oder 'ne hohe Obrigkeit.«

»So is es! So is es! Wart, du verdammter Sleef!« keuchte Tetje. Kaum war er hoch, so warf er sich auf den Jungen und diesmal fiel Bernhard. Er blieb auch gleich liegen mit geschlossenen Augen. Ein feines Blutbächlein rieselte unter seinem Hinterkopf hervor. »Dem hast et 'n bißken zu ville jejeben, Mensch! Wat fällt euch zwee denn in? Dort kommt schon 'n Schupo. Ik mach mir dünne. Dat jibt Scherereien, un ik hab Arbeet und brauch keene Zeujenjebühren.« Der Mann verschwand in der Menge. –

»Was is hier los?« fragte der Polizist.

»Herr Schupo, nur 'ne kleine, freundliche, verwandtschaftliche Aus'nandersetzung.«

»Ist es Ihr Neffe?«

»Höger rupp!«

»Sprechen Sie anständig.«

»Junge, Junge! Anständiger kann kein Mensch sprechen, als wenn er Platt schnackt.«

Der Polizist beugte sich über Bernhard, und diesen Augenblick benutzte Detleffsen, um ungehindert fortzukommen. Ein anderes zweifelhaftes Individuum hakte ihn ein und schleppte ihn in die nächste Kneipe. –

»Der Junge ist bewußtlos«, sagte der Schupo und richtete sich auf. »Kennt ihn jemand?« Er sah sich suchend und ärgerlich nach dem entschwundenen Strolch um.

Die Leute kamen nun nach vorn gerückt, besahen den am Boden Ausgestreckten und schüttelten die Köpfe. Ein mitleidiger Arbeiter zog eben seine Jacke aus, um sie unter den Kopf des Bewußtlosen zu schieben. Da rief eine Jungsstimme: »Jessas, das is mein Meistern sein Stiefsohn.«

Er rannte die paar Schritte zur Schmiede zurück, wo ihn Peter Hartmann unsanft empfing: »Du sollst dich nich um jeden Dreck auf der Straße kümmern.«

»Is kein Dreck. Jehört in Meesters Verwandtschaft.«

Peter Hartmann jagte auf die Straße. Und nicht lange, da kam ein stiller Zug gegangen. Der große, starke, stattliche Mann trug den Jungen selbst, die Leute öffneten diensteifrig die Türen vor ihm, die sein kurzer Befehl ihnen nannte. Dann legte er Bernhard auf sein eigenes, altes Bett, das immer noch in der Friedrichsgrachtschmiede stand, für Krankheitsfälle. Die hilfsbereite Reinmachefrau von der Schmiede kam schon mit warmem Wasser und wusch die Wunde am Hinterkopf.

Bernhard stöhnte. »Jawoll, mein Jungeken, Zuckerlecken is süßer«, sagte sie mit barscher Zärtlichkeit. Und zu dem Publikum, das nachgeströmt war: »Nu wär et vornehm jedacht, wenn Sie alle verdufteten. Zu erben jibt's hier nischt, der Junge hat noch keen eijenen Hausstand. Vielen Dank für die tiefe Anteilnahme.«

Da gingen sie lachend. Die Feuerwehr rasselte vorbei, da mußte man sehen, »wo 't roochte«.

Der Lehrling drängte sich noch einmal herein: »Soll it de Frau aus de jrinen Fensterläden holen?«

»Nein. Schick' mir den Altgesellen.«

Der kam. »Mache mir das Kreuz für den Segensfriedhof fertig, Maxe. Deine Handarbeit ist gut, die Zeichnung ohne Fehler. Ich bin jetzt hier nötig. Möcht' bei meinem Jung wachen. Telefoniere an Doktor Hausse und, wenn der da war, – er soll sich 'n Auto nehmen – dann geh' du selbst zu meiner Frau. Ich kenne dich, du machst das mit Finessen. Sonne arme Mutter erschrickt leichte.«

»Wird jemacht. Der Meister hat immer recht.«

Der Schatten eines Lächelns flog über Hartmanns Gesicht, als er dem treuen Altgesellen ins ehrliche Auge sah. »So? Hat er immer recht? Das war doch sonst nich so? Hab ich auch recht mit deiner guten Arbeit und der künstlerischen Zeichnung, dem Meisterstück meines Altgesellen?«

»Allemal.« –

Die Reinemachefrau kam wieder.

»Also hier steht det Wasser. Es is heiß. Wundern Se Ihnen nich. Ik ha 'ne jelehrte Rede jehört, det heiße Umschläge det Beste sin. ›Heilendes Blut zuführen‹, meente der Vortragsfritze. Und dat duht det heeße. Hier liejen de sorgfältig zusammenjeknautschten Taschendiecher, die lejen Se druff. Un wenn's schlimmer wird, machen Se Eisuffschläge. Probieren jeht über Studieren. Ik ha's mit mein Ollen so jemacht, der starb dann ooch vier Wochen später als der Nachbar ohne Umschläge.«

»Schon gut, schon gut, Frau Schuster. Der Arzt kommt gleich.«

»'n Arzt wolln Se holen? 'n Arzt?« Sie streckte ihm die Hand hin. »Denn konduliere schonst heute.« – Dann ging sie.

Bernhard schlug die Augen auf: »Es ist so laut überall«, murmelte er. »Alles tut so weh ... In der Heide war es leiser. Nur der Wind wehte und die Glocken gingen. Erdmuthe, dein Kranz kommt zu früh ... erst bauen – bauen ...«

»Armer Kerl!« sagte der Schmied und strich dem Verletzten sacht über das Lockenhaar.

Aber selbst das schien dem Jungen weh zu tun. Er stöhnte. Peter Hartmann erneuerte unermüdlich die Umschläge, holte auch noch einmal heißes Wasser aus der Küche. Unter dieser Betreuung schlief Bernhard ein. Vielleicht übten auch die gemurmelten Worte des Schmiedes eine beruhigende Wirkung aus. Einmal lächelte sogar der schmale, schmerzverzogene Mund. »Du Schlagetot, du lieber!« Wie klang das ungewohnt aus dem Munde des großen Schmieds. »Ich hab dich schon lang erkannt. Ein Aufrechter bist du, ein ehrlicher Kumpan und von Herzen gut. Deine Lehrer sagen's auch. Und deshalb opfer' ich meine Schmiede. Wie gern gäb' ich sie dir, die Hartmanns sind mit ihr verwachsen. Aber du sollst deinen Beruf frei wählen, hörst' mein Junge? Und 'n jroßer Mann werden in dein' Fach. Siehst, so kann ich doch mal mit dir sprechen, wie mir's ums Herz ist. Du Dummerjahn, – was reißt du auch immer aus, wenn Vater kommt. Aber, nun mußt du stille halten, siehst ... Die Hartmanns schämen sich alleweil ihrer Weichheit und könnten sich lieber für manch anderes schämen. Der Jähzorn gehört auch dazu ... Ja, nun bewegst du dich, als wolltest dich wehren. Du hast auch den jähzornigen Dickkopp, Bernhard, jawoll! Warum hast mir heut' den Daler vor die Füße jeworfen? Mit 'n rechtem Vaterherzen hatt' ich ihn jejeben ... du – jawoll. Bist doch der Einzigst von meiner Ernstine, meiner schönen, stattlichen Frau; – die mich so lieb hat, daß ich's in allen Adern spür' ... Aber nicht nur um ihretwillen bist mir ans Herz gewachsen, – – Herrjott, ik red' solo mit mir, wie 'ne alte Jungfer, die nochmal in Liebe jerät.« Er legte einen neuen Umschlag auf: »Warum hast den Daler nich jenommen? Red' doch!« Erlauschte zu ihm hin. »Ach so, bist noch in der Beschwiemlung. Werd' mir nur nich krank, hörst? Aber wenn schon, – ich pflege dich, ich laß Schmiede Schmiede sein. Weißt, der Maxe vertritt mich schon, 'n feiner Kerl, 'n Schmied von Gottes Jnaden ... so un da kommt der Doktor.« –

»Na da haben Sie sich ja gleich 'n ordentlichen Jungen angeheiratet, Meister Hartmann, – das war ja immer Ihr Wunsch, – son Staatskerl, son Lorbaß ... wenn er jetzt auch daliegt, wie'n Fatschkind.«

Doktor Hauffe nahm eine Schere aus seinem mitgebrachten Medizinkasten, sterilisierte sie, und schnitt vorsichtig die Haare ab, in denen die tiefe Wunde gebettet lag. »Natürlich noch auf 'n spitzen Stein gefallen, es hätte auch ohne den genügt. Wie hat sich das zugetragen? Wenigstens hübsch kommode in Nähe der Schmiede ...«

»Ja und denken Sie, Herr Doktor, ich weiß noch von nichts. Mir genügt's, daß er bei mir ist und ich ihm helfen kann.«

»Dann will ich nur dem jungen Burschen wünschen, daß er bald gesund wird, damit er weiß, was er für'n Vater hat.«

»Danke schön, Herr Doktor. Ist die Sache bedenklich?«

»Hm! Bringen Sie ihn möglichst bald in den Schutz der grünen Fensterläden, er wird Ruhe nötig haben. Was murmelt er vor sich hin von Talern, die er nich annehmen kann? Hat er Aufregung gehabt? Er hat tüchtiges Fieber, zu stark für die Wunde. Ich werde messen. Haben Sie ein Fieberthermometer? Ja, ja, behalt' du nur deine Taler, Bernhard Hartmann«, wandte er sich zu dem unablässig Murmelnden.

»Es war nur ein Taler, Herr Doktor. Und mit Amboß und Hammer kann ich dienen, aber nicht mit 'n Thermometer. Zu meiner Zeit wurde man nur gemessen, wenn man beim Militär war. Ich war Flügelmann von der ersten Kompanie im ersten Garderegiment.«

Doktor Hauffe holte das eigene Meßgerät hervor. Und dann blieben sie schweigend, der Doktor spürte, daß der Schmied sich selbst die Sorge fortschwatzen wollte.

»39,9«, sagte nach einer Viertelstunde der Doktor kurz. »Also sorgen Sie für Ruhe und Schlaf. Umschläge weiter. Nur kühles Getränk. Kein Fleisch, keine Eier. Offener Leib. Und er soll keine Geheimnisse in sich vermurkeln, der Bursch, sondern Ihnen hübsch beichten, dann wird auch das Fieber weggehen. Guten Abend, lieber Meister Hartmann. Ich komme morgen wieder, habe in der Nähe der grünen Fensterladen zu tun. Bringen Sie ihn heut noch hin.«

Er bekam keine Antwort und schüttelte den Kopf. Der starke, große Meister Hartmann saß am Bett und starrte mit schier verzweifeltem Ausdruck auf den Jungen.

Die Tür fiel ins Schloß.

»Was fehlt ihm?« fragte später eine blasse Frau. Sie war unhörbar eingetreten und stand scheinbar gelassen neben dem Kranken. Aber in ihren Augen war helle Angst.

»Du bist's, Ernstine? Hat dir's der Altgesell berichtet?«

»Der Altgesell? Ich hab ihn nicht gesehen. War nicht bei mir. Hast du ihn geschickt? Ich komme von allein. Wollt' nach dir und dem Jungen sehen.«

»Ich versteh' das nicht. Hatte die Nachricht dem Altgesellen ans Herz gelegt. Wir müssen nun sehen, daß wir den Bernhard heute noch hinbringen zu unserm Haus – hier ist's zu laut, der Junge klagt darüber.«

»Was fehlt ihm? Mann! Peter Hartmann! Sag's mir, ich bitt' dich! Gesund ging er fort, und so find' ich ihn ...«

»Tollpatsche sind wir Männer. Aber ich bin noch gar nicht zur Besinnung gekommen. Du wirst mich gottlos gleichgültig heißen, Ernstine. Ich hab nicht gefragt, wie's kam und wer dran schuld, daß mein Junge so daliegt? Ich sah nur, daß er bei mir war. So ein Glück! In unserm großen Berlin! Du sagst nichts, Ernstine?«

»Ich höre nur, daß du ›mein Junge‹ sagst, Peter ...«

»Du beschämst mich, Ernstine.«

»Das will ich wahrlich nicht. Und ich will auch hier keine schönen Reden führen. Hier braucht's Tat.« Sie beugte sich über den Verletzten. »Kennt mich mein Junge?« fragte sie so sanft, wie sie wohl nie in ihrem Leben gesprochen. Bernhard schlug die Augen auf: »Mutter ...« Aber dann fiel er wieder in unruhigen Schlaf.

»Weißt was, Peter? Du fährst schnell nach den grünen Fensterläden, sagst Frau Blumenschmidten Ecke Stromstraße Bescheid, sie soll Frau von Denso warten. Und soll Bernhards Bett frisch beziehen. In aller Herrgottsfrühe soll sie morgen wiederkommen, so um einhalb vier. Hörst? Und du bist dann auch wieder hier, und hilfst mir. Jetzt ist's zu laut in den Straßen. Aber morgen früh, da soll uns die Schmidten, ›Nr. 126‹ herschicken. Wir kennen den braven Kutscher Kraulebart und kennen Moritz, das Pferd ...«

»Mädel, wo hast nur so die gloriosen Gedanken her? Dich wer' ich nächstens nich mehr Ernstine, sondern Frau Weisheit nennen. Tausendmal hast recht, Kraulebart und Moritz müssen her, un dann jondeln wir durch den Tierjarten janz dusemang – damit unser armes Kerlchen nich jeschüttelt wird ... Aber du, Ernstine? Wir haben nur das eine Bett hier ... die ganze Nacht willst dir um die Ohren schlagen?«

»Peter! da fragt wohl 'ne Mutter nach ... geh, geh – ich seh schon, gefallen is der Jung und 'ne böse Wunde hat er ...«

»Und da legst Umschläge drauf, immer mit heiß' Wasser und Liebe abwechselnd ... Aber ich weiß schon, so heiß, wie deine Lieb' zu dem Jungen, kann kein heiß' Wasser sein.« –

»Und zu dir, Peter Hartmann, zu dir«, sagte die Frau unhörbar.

Peter Hartmann machte sich zurecht, zog sich rasch um, und Ernstine holte sich aus Küche und Kammer alles Nötige für die Nachtpflege.

Aber erst, als die schwere Schmiedetür sich hinter dem Gatten geschlossen hatte, setzte sie sich tief erschöpft in den alten Lehnstuhl, der neben dem Bett stand. Ihre Hände falteten sich. »Guter Gott, den Jung – gelt – den Jung –?«

Ein schweres Weinen erschütterte plötzlich ihren Körper. »Ich heiße nich Hansohm!« sagte der Kranke laut und warf sich unruhig hin und her. –

Die Nacht war warm. Ernstine öffnete das Fenster, an dem »fleißige Lisel« in drei großen Töpfen blühte. Die erste Sichel des zunehmenden Mondes stand über der Petrikirche, sie sah so tröstlich aus. Recht wie ein schönes, einsames Licht im grauen Alltag. Gar nicht verebben wollte der Lärm der Kraftwagen mit ihren lauten Signalen. Ernstine meinte, es müsse jeder Vorbeisausende doch fühlen, daß hier ihr krankes Kind lag. Sie dachte an keinen Zusammenhang der Krankheit mit den Fieberworten des Jungen, sie fand es nur schrecklich, daß die garstigen Worte des Strolches auch in die Fieberträume hereinragten.


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