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Neuntes Kapitel.

Es war am Abend eines schönen Erntetages. Ermüdet von der anstrengenden Arbeit hatte sich die ganze Familie Clarencé nach dem Abendessen vors Haus gesetzt, um der Ruhe zu pflegen und die kühle Luft zu genießen. Auch die Knechte waren dem Beispiel gefolgt und saßen teils auf der Holzbank neben der Türe, teils auf Stühlen, die sie aus der Küche geholt, oder aber auf dem Rasen, mit dem Rücken gegen einen Baum gelehnt. Schweigend rauchten die Männer ihre Pfeife, während die beiden kleinen Mädchen, die Hände übers Knie gefaltet, unbeweglich in die geheimnisvolle Dämmerung hinausstarrten. Ihre Mutter aber, die grüne Erbsen aushülste, bemerkte plötzlich ihre Untätigkeit und unterbrach mit schrillem Tone die abendliche Stille: »Na, ihr Faulpelze, was fällt euch ein, rasch helft mir!«

Langsam schickten die beiden sich an, dem Befehl zu gehorchen. Die Hülsen krachten unter ihren Fingern und nun begannen sie ohne Veranlassung miteinander zu kichern.

In der Ferne, jenseits der Ebene, verschwanden die glänzenden Gletscher der Alpen allmählich in den abendlichen Schatten, und auf die weiten, menschenleeren Felder, auf die benachbarten Wälder und auf das langgestreckte Dorf, durch das sich, kaum sichtbar, die Landstraße hinzog, senkte sich ein Hauch tiefen Friedens hernieder. Es war, als habe sich die ganze Erde, befriedigt von ihrem Tagewerk, zu wohligem Schlummer niedergelegt.

Da plötzlich tauchte aus der hereinbrechenden Dunkelheit ein staubbedeckter Mann auf, der atemlos stehenblieb und fragte: »Ist vielleicht der Schriftsteller Clarencé hier?«

»Ja, ich bin es.«

Alle Gesichter hatten sich neugierig dem Ankömmling zugewandt, der mit dem Hut in der Hand fortfuhr: »Mutter Laurier schickt mich – die Mutter des Malers, Sie wissen doch, wen ich meine?«

»Ja. Was gibt es?« rief Clarencé, von banger Ahnung erfüllt.

Mühsam die Worte zusammensuchend, berichtete der Mann: »'s ist eine böse Geschichte – Er war so seltsam die letzte Zeit, allen Leuten fiel sein Wesen auf, und nun ist er vollends ganz übergeschnappt. Er erzählt Geschichten ohne Sinn und Verstand, rollt die Augen und gebärdet sich wie ein vom Teufel Besessener. – Heute hat er sich nun gar zum Fenster hinausstürzen wollen – seine Mutter mußte um Hilfe rufen – Leute kamen herbeigelaufen. Aber vier Mann, und zwar von der stärksten Sorte, konnten kaum Herr über ihn werden – er legte eine Kraft an den Tag, die man bei dem schmächtigen Menschen niemals vermutet hätte. Dann wurde ein Arzt geholt, der ihm eine mit Riemen versehene Jacke überzog, in der er sich nicht mehr bewegen kann. Der Doktor meinte auch, daß die Mutter ihn nicht länger bei sich behalten könne, und daß er in ein Krankenhaus gebracht werden müsse. Daraufhin sagte dann Mutter Laurier zu mir: »Lauf zu Herrn Clarencé, dem Schriftsteller, der in Prône bei seinem Bruder Moritz wohnt, und bitte ihn, herüberzukommen, er wird mir raten, was zu tun ist.«

Tief erschüttert rief Clarencé, sich erhebend: »Gut, ich komme mit Ihnen.«

Mit aufmerksamer, verschlossener Miene waren die andern dem Berichte gefolgt. Selbst die Schwägerin hatte ihre Arbeit unterbrochen. Unschlüssig sah sie ihren Gatten an und fragte dann den Boten: »So eilig wird es wohl nicht sein. Es ist gewiß auch morgen früh noch Zeit genug?«

»Natürlich,« antwortete der Mann. »Augenblicklich muß er sich wohl oder übel ruhig verhalten.«

»Nein, nein,« rief Clarencé, »ich mache mich sofort auf den Weg.«

»Ja, weißt du, der Fuchs hat heute schon einen harten Tag gehabt,« bemerkte Moritz.

»Laß nur, ich werde zu Fuß gehen, bemühe dich nicht.«

Wieder sahen sich die beiden Gatten verständnisvoll an, aber bald siegte wohl irgend eine kluge Berechnung über den bösen Willen, denn Moritz fuhr fort: »Nein, nein, das will ich nicht haben, Saint-Tandre ist zu weit für einen Herrn wie du. Wenn dir so viel daran liegt, heute noch hinzukommen, so kann der Fuchs diesen Weg schon noch machen.«

Er winkte seinen Sohn Claude herbei und ging mit dem schweren Schritt eines durch harte körperliche Arbeit ermüdeten Mannes dem Stalle zu. Auf der Schwelle wandte er sich um und sagte, auf den Boten zeigend, zu seiner Frau: »Bring ihm ein Glas Wein: es reicht schon noch, bis angespannt ist.«

Der Wagen wurde von Claude aus der Remise herausgezogen, und bald rollte das Fuhrwerk davon, während es unter den Zurückbleibenden summte und schwirrte wie in einem Bienenstock.

Moritz hielt die Zügel, und bald entspann sich zwischen ihm und dem neben ihm sitzenden Boten ein lebhaftes, mit halblauter Stimme geführtes Gespräch, von dem der allein im hinteren Teil des Wagens sitzende Clarencé nichts verstehen konnte. Unzweifelhaft aber drehte es sich um den Fall Laurier, denn von Zeit zu Zeit bog Moritz sich zurück, um neugierige Fragen wie die folgenden an seinen Bruder zu richten: »Sag' mal, jene Frau, du weißt schon, die mit ihm durchgegangen ist, wo hält sich die eigentlich jetzt auf?«

Oder: »Hatte sie denn einen Mann?«

Oder: »Was wird nun aber seine Frau, die richtige, meine ich, zu der Geschichte sagen? Du mußt es doch wissen, da du ja die ganze Sippschaft kennst.«

Clarencé aber gab nur unbestimmte Antworten wie: »Ach nein, ich weiß nichts, ich bin nicht genau unterrichtet.« Das Zartgefühl verbot ihm, die falschen Vermutungen zu berichtigen, und schließlich erklärte er offen: »Außerdem, nimm mir's nicht übel, aber ich spreche nicht gern über die Sache.«

»Nun, dann laß es eben bleiben, wenn du nichts sagen willst.«

Moritz war gekränkt und wandte sich nun nicht mehr um, so daß Clarencé ungestört seinen trüben Gedanken, die ihn wieder mitten in die traurige Katastrophe hineinführten, überlassen blieb. Endlich erreichte man Saint-Tandre. Der Wagen fuhr über den Marktplatz, wo aus den verschiedenen Wirtshäusern noch Lichter schimmerten, bog dann in eine enge Straße ein und hielt vor dem kleinen, still und dunkel daliegenden Laurierschen Hause. Einige Weiber standen nicht weit davon entfernt und schwatzten, nach den geschlossenen Läden hinaufsehend, mit halblauter Stimme. Neugierig scharten sie sich jetzt um den Wagen, sahen Clarencé frech an und versuchten, den Boten auszufragen. Erst als die jammernde Mutter Laurier die Haustüre öffnete, schwiegen sie alle, die Ohren spitzend.

»Ach, Sie sind es, lieber Herr! Ich danke Ihnen, daß Sie noch heute nacht gekommen sind, Sie sind aber auch der Einzige, der uns vielleicht helfen kann. O mein Gott, was soll nun geschehen?«

»Es war sehr gut, daß Sie mich rufen ließen,« antwortete Clarencé, vom Wagen steigend. »Sie wissen, wie nahe ich Ihrem Sohne stehe – ich werde tun, was ich kann. Haben Sie seine Frau schon benachrichtigt?«

»O nein, was hätte ich ihr sagen sollen? Ich weiß es nicht.«

Ja, ja, die arme Mutter hatte recht, was sollte man Jeanne sagen? Wie die rechten Worte finden, die sie in milder Form von der vielleicht längst geahnten und doch immer wieder von sich gewiesenen entsetzlichen Tatsache in Kenntnis setzten?

»Ich werde morgen telegraphieren,« sagte Clarencé, während er ins Haus trat. So konnte er den furchtbaren Augenblick, wo die arme Frau das Telegramm lesen mußte, doch wenigstens noch um einige Stunden hinausschieben, jenen Augenblick, da sie, die erschrockene kleine Paula an sich gepreßt, wahrscheinlich in denselben Ruf wie die alte Mutter ausbrechen wird: »Mein Gott, was soll nun geschehen?«

Denn diese Frage drängt sich doch immer zuerst auf, wenn ein schwerer Schicksalsschlag den häuslichen Herd erschüttert und sich die Pfade der Zukunft in hoffnungsloser Finsternis verlieren.

Mittlerweile war Mutter Laurier mit Clarencé und dessen Bruder in die Küche getreten, wo eine kleine Lampe ihren matten Schimmer verbreitete. Voll zitternder, ahnungsvoller Angst schaute die alte Frau mit dem gebeugten Rücken aus ihren vom Weinen geröteten Augen zu Clarencé auf, während der in einer Ecke stehende Moritz seine neugierigen Blicke umherschweifen ließ.

»Denken Sie nur, lieber Herr, er kennt mich gar nicht mehr, mich, seine Mutter. Und wenn Sie gesehen hätten, wie er sich gebärdete – er, der doch sonst immer so sanft und still war! Jetzt ist er wenigstens wieder ruhig. Vielleicht, daß es ihm doch ein wenig besser geht. Kommen Sie, ich will Sie zu ihm führen.«

Damit öffnete sie halb die zum Nebenzimmer führende Türe, und Clarencé vermochte eine dunkle Gestalt zu unterscheiden, deren Kopf mit den todesblassen Zügen sich gleichmäßig hin und her bewegte.

»André, mein armer André,« rief er, »bist du es wirklich?«

Wild rollte der Unglückliche die Augen. Die mit Schaum bedeckten Lippen bewegten sich wie beim Kauen, Schweißtropfen liefen über das Gesicht, der Körper stak in der schweren Zwangsjacke, die ihn eng umschloß, vielleicht sogar verletzte.

»André, André!« rief Clarencé noch einmal, während die Mutter das Gesicht in ihrem Taschentuch verbarg und Moritz, der auf der Schwelle stehen geblieben war, voll unbarmherziger Neugierde den Kopf vorstreckte.

»André, erkennst du mich denn nicht?«

Noch immer rollte er die Augen, wackelte mit dem Kopfe und bewegte die Lippen, die unverständliche Worte lallten. Mit gespannter Aufmerksamkeit machte Moritz einen Schritt vorwärts.

»Was sagt er?«

Niemand antwortete. Einen Augenblick noch horchte er, dann murmelte er ärgerlich: »Unmöglich, ein Wort zu verstehen.«

Mit verzweifelter Miene ließ sich die Mutter auf einen Stuhl niederfallen und begann dann leise zu weinen, so wie nur Frauen weinen, die schon viel Leid erfahren haben, bei neuem Kummer aber immer wieder Tränen finden. Bald jedoch kehrte sie in dem Wunsche, irgend etwas zu tun, zu ihrem Sohne zurück, Sie wischte ihm den Schweiß vom Gesicht und murmelte: »Armer Junge, ich bin es ja, deine Mutter. – Du erkennst mich doch, nicht wahr? Hast du arge Schmerzen dort drin im Kopf? Aber hab nur Geduld, ich will dich schon pflegen, weißt du, so wie damals, als du noch ganz klein warst.«

Da indes alles Zureden fruchtlos blieb, wandte sie sich mit einer Gebärde der Verzweiflung ab.

»Warum mußte ich auch diesen Jammer noch erleben, warum durfte ich nicht vorher sterben?«

Die Beine drohten, ihr den Dienst zu versagen, und sie bot ein Bild hilflosen Jammers. Da nahm Clarencé sie in seine Arme, redete ihr freundlich zu und versuchte, eine Hoffnung in ihr zu erwecken, die er selbst nicht teilte. »Verlieren Sie den Mut nicht, man darf nie verzweifeln. Diese Art Krankheiten werden häufig geheilt – bei richtiger Behandlung. Und wir werden alles tun, daß er in die rechte Pflege kommt, ich verspreche es Ihnen. Die besten Ärzte soll er haben – morgen schon werde ich meinen armen Freund mit nach Paris nehmen.«

Mit halblauter Stimme fragte Moritz: »Was meinst du, können wir jetzt bald wieder heimfahren? 's ist wegen dem Fuchsen, der –«

»Fahr nur nach Hause, wenn du willst, ich bleibe hier, um mit dieser armen Frau zu wachen.«

Der ganze folgende Tag verging mit Vorbereitungen zur Abreise. Da Laurier keine Zeichen der Unruhe gab, entfernte der Arzt die Zwangsjacke, worauf sich der Kranke erhob, bald im Zimmer hin und her ging, bald sich im Kreise herum bewegte und dabei unzusammenhängende Worte murmelte. Dazwischen sank er immer wieder erschöpft gleich einer leblosen Masse in seinen Lehnstuhl zurück. Ein Wärter wurde telegraphisch von einem benachbarten Krankenhause herbeigerufen, der an Stelle der unerfahrenen Mutter die Pflege übernahm.

»Ob er wohl hier bleibt?« fragten sich die erschrockenen Nachbarn, »Und wie lange? Was wird man mit ihm anfangen?«

Nach einer Rücksprache mit dem Arzt erklärte Clarencé, daß er den Kranken noch am selben Abend fortführen werde.

»Ein längeres Verweilen hier, wo ihm nicht die geeignete Pflege zu teil werden kann, hat keinen Zweck.«

Nun dieser Entschluß gefaßt war, mußte auch das Telegramm an Jeanne abgeschickt werden. Allein vergebens suchte Clarencé nach mildernden Ausdrücken; und das Entsetzliche ohne weiteres auf das Telegrammschema niederzuschreiben, sträubte sich seine Feder. So änderte er die Adresse und schickte folgende Botschaft an Claudine ab: »Bei Laurier der Irrsinn ausgebrochen. Ich komme morgen früh mit ihm nach Paris. Bitte Jeanne zu benachrichtigen, sie vorzubereiten.«

Gegen Abend wurde die Abreise vor den Augen fast des ganzen ums Haus gescharten Dorfes bewerkstelligt. Unterstützt von dem Wärter und Clarencé, erschien der Kranke, allein nur für wenige Augenblicke, denn eilig schoben ihn seine Gefährten in einen alten Landauer hinein und folgten ihm dann auf dem Fuße, worauf der Wagen in raschem Tempo davonfuhr. Durch einen Spalt der geschlossenen Läden sah Mutter Laurier dem verschwindenden Wagen und der sich zerstreuenden Menschenmenge nach, dann wandte sie sich zum Arzte, den Clarencé gebeten hatte, bei ihr zu bleiben, und der ihre stumme Frage beantwortete: »Sie dürfen die Hoffnung noch nicht aufgeben, gute Frau. Warum sollte er nicht wieder gesund werden – es liegt ja keine erbliche Belastung vor, das ist sehr beruhigend. Vielleicht ist es nur eine durch die Aufregungen der letzten Zeit hervorgerufene Krisis.«

Nachdenklich nickte sie mit dem alten Kopfe, der während der verflossenen Tage so viel Neues hatte fassen müssen, und sagte: »Aufregungen – ja, so wird es sein. – Verfluchtes Weib!«

Und ihre geballte Faust erhob sich drohend gegen die Tote.

* * *

Kaum war Laurier in einem reservierten Coupé des Schnellzugs untergebracht, so begann er wieder vor sich hin zu sprechen, ohne Pause, indem er nur mühsam unzusammenhängende Worte und Sätze aneinander reihte, aus denen ganz selten ein halbwegs verständlicher Sinn herausleuchtete. Unaufhörlich kehrte Célines Name, vermischt mit Ausdrücken der Zärtlichkeit, der Sehnsucht und der Reue auf seine Lippen zurück, oder es blitzte eine schöne Erinnerung an die Zeit ihrer Liebe aus seiner geistigen Umnachtung auf. Diese Flut von wirren Reden aber griff Clarencé schließlich derart an, daß auch ihm der Kopf schwirrte und er, von wilder Angst gepackt, an seine heiße Stirne faßte, indem er vor sich hin murmelte: »Nein, nein, es ist nichts – nur Ermüdung, Aufregung und das Grauen vor diesem Zusammensein; sobald ich ihn nicht mehr sehe, wird es vorübergehen.«

Erschrocken darüber, nun ebenso wie der Kranke laut mit sich selbst gesprochen zu haben, hielt er inne, und um seine Gedanken abzulenken, richtete er den Blick auf den Wärter. Es war ein robuster Mensch, der seinen Kranken kaum beobachtete und, unberührt von dessen trauriger Verfassung, bald in einen behaglichen Halbschlummer verfiel. Um den Ton einer vernünftigen Stimme zu hören, begann Clarencé ein Gespräch mit ihm: »Was halten Sie von diesem Zustand? Sie haben doch sicherlich viel Erfahrung. Ist ein neuer Tobsuchtsanfall zu befürchten?«

»Das läßt sich nie voraussagen. Mir wäre es lieber gewesen, wenn man ihm die Jacke angelassen hätte. Der Arzt hielt es freilich nicht für notwendig – na, aber klüger wäre es trotzdem gewesen.«

»Ach, ich hätte es barbarisch gefunden!«

Der Wärter schien erstaunt. »Durchaus nicht, warum denn? Man tut doch das alles nur zum Besten der Kranken. Im Zaum muß man solche Leute halten, sonst stürzen sie sich einfach zum ersten besten Fenster hinaus.«

Kurz nach Dijon schlief der Wärter vollends ganz ein, und bald hörte man sein lautes Schnarchen. Vielleicht, daß dieses Geräusch beruhigend auf Laurier wirkte, jedenfalls sprach er jetzt nicht mehr, und wären nicht die weit aufgerissenen, ausdruckslosen Augen gewesen, so hätte man glauben können, auch er schlafe. Eine Stunde der Beruhigung trat ein, während der sich Clarencé wenigstens halbwegs zu erholen vermochte. Allein gegen Morgen, als die Landschaft aus der Dämmerung herauszutreten begann, wurde Clarencés Bangigkeit vor der bevorstehenden Ankunft und vor dem Anblick von Jeannes Verzweiflung mit verdoppelter Macht wach. Seine Dichterphantasie malte ihm die entsetzlichsten Szenen aus. Er sah Jeanne und Paula vor sich, nicht nur im ersten Schmerze, sondern auch in dem trostlosen Elend der auf diesen Schicksalsschlag folgenden endlosen Tage und Jahre. Er glaubte ihr Weinen und Schluchzen zu hören, und das Mitleid, das ihn für die Unglücklichen erfüllte, wurde noch verschärft durch das trostlose Bewußtsein, ihrem Jammer machtlos gegenüberzustehen.

»Was ist zu tun?« rief er laut, und seine eigene traurige Antwort lautete: »Nichts, nichts – Gar nichts.«

Nein, es gab keine Rettung. Zwei unschuldige, aus dem sorglosen Frieden ihres Daseins herausgerissene Wesen waren von nun an verdammt, ihr Leben in Trauer und Elend weiterzuschleppen. Weder für sie, noch für den Unglücklichen selbst gab es mehr eine Hoffnung. Schwarz und finster war alles, wohin er blickte.

Während er so mit seinem geistigen Auge dieses düstere Gemälde betrachtete, war es ihm plötzlich, als erhelle ein schwacher Lichtstrahl den dunkeln Hintergrund. Neben der in ihren Schmerz versunkenen Jeanne stand Claudine, mutig und stark wie immer, die Seele voll kräftiger Trostesworte. Er rief ihren Namen in die traurige Stille des dumpfen Raumes hinein, und dem Rufe gehorsam, mischte sich das geliebte Bild unter die schwer gebeugten Gestalten des trüben Bildes, »Du wenigstens bleibst mir treu, immer, immer!« Und die geliebte Stimme antwortete: »Ja, immer.«

»Du, ja, du wirst Rat und Hilfe finden – einen Ausweg – eine Rettung.« –

Die Morgensonne verbreitete jetzt ihren goldenen Schimmer über die Ebene. An Bahnhöfen und Dörfern sauste der Zug vorüber; man näherte sich Paris. Nun erwachte auch der Wärter, streckte sich gähnend, beugte sich über den noch immer schweigsamen Laurier und sagte: »Er ist ja ganz ruhig.«

Clarencés qualvolle Bangigkeit aber kehrte zurück.

* * *

Inzwischen hatte Claudine ihren Auftrag erfüllt.

Sofort nach Empfang der Depesche lief sie in die Avenue Kléber, ohne sich vorher zu besinnen, wie sie der armen Frau die traurige Nachricht mitteilen wolle. Wahrscheinlich hoffte sie, daß ihr durch Jeannes passive Ruhe die Aufgabe nicht allzu schwer gemacht würde. Sie fand das Haus wie immer im Zustand peinlichster Ordnung. Als sie sich in dem geschmackvollen Salon auf einen hübschen kleinen Lehnstuhl niedergesetzt hatte, trat Paula in hellem Sommerkleidchen herein und begrüßte artig als wohlerzogenes kleines Mädchen den Gast.

»Guten Tag, gnädige Frau, Mama schickt mich, Ihnen einstweilen Gesellschaft zu leisten. Sie wird gleich kommen.«

»Geht es deiner Mama gut?« fragte Claudine.

»O ja, ganz gut, ich danke.«

Da Frau Bréant, von ihren Gedanken hingenommen, schwieg, übernahm Paula die Kosten der Unterhaltung.

»Papa ist verreist – er wird jedoch bald zurückkommen – er ist krank gewesen, aber es geht ihm jetzt viel besser. Mama freut sich sehr, ihn wiederzusehen – ach, und ich erst!«

»Du liebst deinen Papa wohl sehr?«

Die großen Augen leuchteten auf, und in heller Begeisterung rief Paula: »O ja, das will ich meinen, Papa ist aber auch so gut, ach, so gut!«

Nun erschien Jeanne, aufs sorgsamste gekleidet wie immer, mit ruhigem Gesicht, klarem Blick und ihrem gewohnten höflichen, zurückhaltenden Wesen. Claudine aber durchfuhr der wenig freundliche Gedanke: »Die begreift sicherlich langsamer als ihre Tochter!« Und ohne weiteres begann sie: »Ich habe Ihnen etwas mitzuteilen, liebe Frau Laurier.«

Mit ruhiger Aufmerksamkeit richteten sich die blauen Augen auf Claudine, die in leiserem Tone fortfuhr: »Vielleicht wäre es besser, die Kleine fortzuschicken.«

Paula hatte jedoch verstanden, und ein Ausdruck der Angst flog über ihr Gesichtchen. Jeanne aber drückte, kaum merklich zusammenschauernd, auf die Glocke und übergab das Kind dem Dienstmädchen, das dem Rufe gefolgt war. Hierauf wandte sie sich mit jener schönen Harmonie der Bewegungen, die sie stets beibehielt, von neuem der tief erregten Claudine zu, die wiederholte: »Ich bringe Ihnen schlechte Nachrichten, liebe Frau Laurier – Sie werden viel Mut nötig haben.«

Jeannes Züge verzogen sich schmerzlich, ihre Augen schlössen sich.

»Ist er tot?«

»Nein, nein, tot ist er nicht.«

Großer Gott, wie sollte sie das Entsetzliche in Worte kleiden?

»Herr Clarencé, der bei ihm ist, telegraphierte mir, daß er ihn mit zurückbringe. Eine ernste Krisis sei eingetreten.«

»Eine Krisis? Was für eine Krisis?«

Da war sie, die direkte Frage, der nicht auszuweichen war. Claudine suchte nach mildernden Ausdrücken: eine geistige Krisis – nervöse Erregung – Delirien – aber die Worte wollten ihr nicht recht über die Lippen. Ohne zu antworten, ergriff sie Jeannes Hand und drückte sie teilnehmend.

»O mein Gott!« stöhnte die junge Frau, die dies entsetzliche Schweigen richtig deutete. »Ich ahnte es längst!«

Das sonst so friedliche, jetzt ganz verzerrte Gesicht verriet einen solch namenlosen Schmerz, daß Claudine die Tränen in die Augen stiegen.

»Ja, es ist schrecklich,« stammelte sie. »Aber Sie dürfen die Hoffnung nicht aufgeben.«

»Sagen Sie mir alles,« bat Jeanne.

»Das Telegramm des Herrn Clarencé« enthält keine Einzelheiten – das Wenige, was ich weiß, habe ich Ihnen schon gesagt. Er bringt Ihren Gatten morgen früh zurück – er trägt mir auf, Sie zu benachrichtigen – mehr steht nicht darin.«

Jeannes Hand, die Claudine noch immer umfaßt hielt, machte sich sanft los, um die endlich hervorbrechenden und langsam über die Wangen herabrieselnden Tranen abzuwischen, während die halb unterdrückte dumpfe Klage wiederholt von ihren Lippen kam: »Der arme liebe Mann! Der arme liebe Mann!«

Nur um ihn litt sie, nicht ein Gedanke galt ihrem eigenen Schmerze. Nachdem sie dann lange, halb in den Armen der Frau liegend, die sie kaum kannte, die ihr bis dahin nicht einmal sympathisch gewesen war, und deren Wesen sie nicht begriff, geweint hatte, versuchte sie, zu sprechen und dem Ausdruck zu geben, was ihre Seele erfüllte.

»Es war nicht anders zu erwarten – das Unglück – ich ahnte es längst – ich sah es kommen. Dieses empfindsame Gemüt – wie hätte es einem solchen Schlage standhalten können? Wo hatte er die seelische Kraft hernehmen sollen? Mein Gott, warum habe ich sie ihm nicht einzuflößen vermocht?«

Dieser Ausspruch rührender Selbstverleugnung traf Claudine bis ins tiefste Innere ihres leidenschaftlichen, zu Eifersucht und Heftigkeit neigenden Wesens. War es Seelengröße oder Schwäche, die ihm zu Grunde lag?

»O!« rief sie lebhaft, »Sie waren ja die Güte, die Nachsicht selbst – mehr konnten Sie nicht tun. Wie viele an Ihrer Stelle –«

Sie vollendete den Satz nicht, den Jeanne indes trotzdem beantwortete: »Vielleicht – aber gewiß hätten ihn andre besser verstanden und ihm auf richtigere Art verziehen; ich tat wohl, was ich konnte, allein – eine solche Leidenschaft – sie lag mir so fern.«

Dann fuhr sie zwischen ihren Tränen hindurch fort: »Er ist ja mein Gatte – wir sind fürs Leben vereint – ich habe nur ihn –. Wie hätte ich ihm lange grollen können? Wenn Sie wüßten, wie gut er war, als meine Eltern damals ins Unglück kamen! Wenn Sie wüßten, wie Paula an ihm hängt! O glauben Sie mir, um die Bande, die uns drei verknüpfen, zu zerreißen, dazu brauchte es mehr als – einer Verirrung, eines Fehltritts. Der Tod allein vermag uns zu trennen. Was jetzt noch über uns kommt –«

Ein Schauder erschütterte ihren zarten Körper vom Scheitel bis zur Sohle, allein mit Gewalt nahm sie sich zusammen.

»Was jetzt noch über uns kommt – das Entsetzliche, es macht diese Bande nur fester – inniger. In Zukunft hat er ja niemand mehr als mich – alle andern werden sich vor ihm fürchten, ihn meiden – ich aber bleibe bei ihm. Hoffentlich werden sie ihn mir lassen – o, sprechen Sie, nicht wahr, man wird ihn mir nicht nehmen?«

Voll Inbrunst preßte Claudine die junge Frau an sich und küßte ihr Stirn und Haare.

»Wie groß, wie edelmütig Sie sind! Wie bewundere ich Sie!«

»Nein, nein, sagen Sie das nicht! Ich bin nicht anders als alle Frauen. Wenn ein solcher Schlag uns trifft – mein Gott, wie nichtig sind dann alle andern kleinen Kümmernisse! Bedenken Sie doch, wer sollte ihn pflegen, wenn ich ihn verließe? Mein Leben gehört ihm. Es ihm widmen dürfen, ist alles, was ich verlange.«

»Freunde aber werden Sie wenigstens in Ihrer Nähe haben,« sagte Claudine, »Freunde, die Ihnen nach besten Kräften beistehen wollen.«

Endlich war Claudine auf den Grund dieser sanften, heldenmütigen Seele gekommen, die sich so fest vor jedermann verschlossen hatte, daß es eines Keulenschlags vom Schicksal bedurfte, um sie zu öffnen. All ihr Stolz war in sich selbst zusammengestürzt, angesichts einer solchen Aufopferung, die ihr plötzlich in grellem Lichte zeigte, was sich an Selbstsucht in ihre eigene Liebe mischte.

»O Jeanne,« sagte sie noch einmal, »wie gerne würde ich Ihnen helfen, Ihren Kummer zu tragen, aber Sie sind so gut und edel, daß ich es kaum wage, mit Ihnen zu weinen.«


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