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Viertes Kapitel.

Am nächsten Morgen war Clarencé noch nicht mit Anziehen fertig, als Antoine mit einer Visitenkarte hereinkam.

»Schon wieder!« empfing ihn sein Herr ärgerlich. »Sie wissen doch, daß ich keine Besuche annehme.«

»Es ist aber ein Verwandter des Herrn Clarencé,« erklärte er, ohne sich einschüchtern zu lassen. »Ein Neffe, ein sehr seiner, junger Herr.« Dabei hielt er seinem Gebieter die Karte hin, auf der geschrieben stand: Jacques Clarencé, Schriftsteller.

Die Wirkung war peinlich. Clarencé mochte es dabei ähnlich zu Mute sein, wie jenen Märchenhelden beim Zusammentreffen mit ihren Doppelgängern, die sie vergeblich abzuschütteln versuchen. Ein Augenblick des Nachdenkens genügte Clarencé übrigens zur Feststellung der Personalien dieses vergessenen Neffen. Er war ein Sohn seines einzigen Bruders Moritz, dem Clarencé seinen Anteil an dem väterlichen Erbe überlassen hatte, und den er seit dem Tode seines Vaters nicht wiedergesehen hatte.

»Er soll hereinkommen.«

»Ins Arbeitszimmer?«

»Nein, hier herein. – Einen Neffen kann man schon in Hemdärmeln empfangen.«

Deutlich sah Clarencé das alte Bauernhaus wieder vor sich, an dem die Jahre gewiß spurlos vorübergerauscht waren: sein großes Dach, unter dem die Ernte des Jahres aufbewahrt wurde, seinen hölzernen, durchbrochenen Balkon, zu dem eine Freitreppe hinaufführte, das ungeheure Scheunentor, den alten Nußbaum im Hof, den Gemüsegarten, zwischen dessen Beeten Balsaminen, Ringelblumen, Bocksbart, Sonnenblumen und duftendes Geißblatt blühten, und darüber das Stückchen Weinberg, dessen Trauben nur in guten Jahren zur Reife gelangen. Auch alte, halb vergessene Gestalten tauchten wieder auf und belebten das ländliche Bild. Clarencé aber blieb keine Zeit mehr, sie alle zu erkennen, denn Antoine öffnete die Türe, um den Gast eintreten zu lassen.

Jacques war ein hübscher, großer, schlanker Bursch, der durchaus keinen schüchternen, höchstens einen noch etwas ungewandten Eindruck machte. Sein brünettes, hageres Gesicht mit dem energischen Kinn trug die Spuren anstrengenden Studiums; auf der schmalen Oberlippe sproßte ein nach oben gedrehtes Schnurrbärtchen, unter dem beim Sprechen kräftige, gesunde Zähne zum Vorschein kamen. Gleich auf den ersten Blick konnte man ihm ansehen, daß er zu jenen willensstarken, berechnenden Menschen gehörte, die mit kühnem Mute ins Leben hinaussteuern und den sich ihnen in den Weg stellenden Hindernissen mit Energie und Ausdauer entgegentreten. Deutlich las Clarencé in den scharfen, klugen braunen Augen seines Neffen die Frage: »Wird mein Onkel mir von Nutzen sein? Werde ich auf seine Hilfe zählen können?«

Sich ehrerbietig verneigend, trat der junge Mann auf Clarencé zu und sagte, ihm die Hand entgegenstreckend: »Guten Tag – lieber Onkel.« Er hatte einen Augenblick gezögert, ob er sich diese Anrede wohl erlauben dürfe. Clarencé aber ergriff die ihm dargebotene weiche und doch kraftvolle, muskulöse Hand, deren allzufester, selbstbewußter Druck ihn indes von neuem unsympathisch berührte. Trotzdem antwortete er herzlich: »Guten Tag, lieber Neffe.«

Jacques schien zu fühlen, daß sein sicheres Auftreten keinen guten Eindruck machte, denn er änderte sein Benehmen sofort mit bewunderungswürdiger Geschmeidigkeit, indem er in bescheidenerem Tone fortfuhr: »Verzeihen Sie die Störung. Seit mehreren Tagen schon wollte ich Sie um einen Platz für Ihre Premiere bitten, wagte es aber nicht und versuchte, mir einen solchen anderweitig zu verschaffen. Allein es war unmöglich. Da aber der Wunsch, Ihnen meinen Beifall zollen zu können, meine Schüchternheit noch überwog, bin ich gekommen, Sie um eine Eintrittskarte zu bitten, und wäre es auch nur für einen Stehplatz.«

»Ich habe meine Freibillette noch nicht,« antwortete Clarencé, »allein ich werde dir eines schicken, du kannst dich darauf verlassen.«

»Ich danke Ihnen sehr für Ihre Freundlichkeit, denn einen solchen Onkel zu haben, und ihm nicht einmal Beifall klatschen zu können, wäre doch unerhört!«

»Nun aber sage mir,« fuhr Clarencé, ihm einen Sitz anweisend, fort, »seit wann bist du denn eigentlich schon in. Paris?«

»Seit einigen Wochen.«

»Wie, und schon – Schriftsteller?«

»Nun ja, wenigstens will ich es werden.«

»Zweifel und Bedenken gibt es also bei dir keine, das lasse ich mir gefallen! Aber wie kommt es, daß du mich erst heute besuchst? Warum hast du mir nicht schon früher Nachrichten von den Deinigen gebracht?«

»Ich wußte, daß Sie von Ihrem neuen Stück sehr in Anspruch genommen waren. Es stand ja in allen Zeitungen, und da fürchtete ich, Sie zu stören.«

»Aber ein Neffe!«

»Kann ein Neffe wissen, wie er von seinem Onkel aufgenommen wird, wenn dieser ein berühmter Mann ist? Sie kannten mich noch nicht, denn ich war noch ganz klein, als Sie nach Großvaters Tode zu uns kamen. Seitdem haben wir Sie nicht wiedergesehen, und mein Vater pflegte zu sagen: ›Paul hat uns vergessen‹.«

»Ich bin allerdings nicht wieder nach Prône gekommen,« erwiderte Clarencé, »und geschrieben habe ich deinem Vater auch nicht, der übrigens ebenso saumselig ist. Inzwischen vergeht die Zeit, die Jahre fliehen, und eines schönen Tages entdeckt man, daß die Jugend dahin ist. Mit dieser Erkenntnis tauchen dann auch diejenigen wieder vor uns auf, die man so lange nicht mehr gesehen hat, und die sich, wie du sagst, von uns vergessen glauben.«

Clarencé gab sich alle Mühe, den unsympathischen Eindruck, den das selbstgefällige Wesen seines Neffen auf ihn machte, zu überwinden. Dennoch forderte er den jungen Mann auf, auch seinerseits das verwandtschaftliche Du zu gebrauchen, und erkundigte sich voll Teilnahme nach Eltern und Geschwistern.

»Ich danke, es geht ihnen gut,« antwortete Jacques, ohne weiter auf die Frage einzugehen.

»Wieviel Geschwister seid ihr eigentlich?«

»Fünf. Ich habe zwei Brüder, die auf dem Felde arbeiten, und zwei Schwestern; die jüngste, die nach dir Pauline genannt wurde, ist erst acht Jahre alt.«

»Bist du der Älteste?«

»Nein, der Zweite.«

»Ich möchte dieses Nest voll junger Clarencés wohl einmal sehen!«

»Das hängt nur von dir ab, lieber Onkel,« rief Jacques, den dieses freundliche Entgegenkommen nun doch etwas zutraulicher machte. »Dein Besuch würde alle mit stolzer Freude erfüllen. Du ahnst es nicht, wie viel zu Hause von dir gesprochen wird. So oft mein Vater deinen Namen in der Zeitung liest, sagt er: ›Ja, ja, der hat seinen Weg gemacht!‹ Und dabei trifft uns ein Blick, der sagen will: ›Folgt seinem Beispiel!‹ Seit meiner frühesten Jugend habe ich das mit angehört, und da sagte ich denn zu mir selbst: ›Warum soll ich es schließlich nicht auch so weit bringen als Onkel Paul? Wenn man nichts andres braucht, als schreiben zu können, gut, so werde ich's lernen.«

Auf ein Wort der Ermutigung wartend, hielt er inne.

»Nur weiter,« sagte Clarencé.

»Wenn sonst in einer Familie wie der unsrigen ein Kind eine solche Geschmacksrichtung zeigt, so wird das als ein Unglück angesehen, nicht wahr? Bei uns aber war, deines Beispiels wegen, gerade das Gegenteil der Fall. Eines Tages kam unser Dorfschulmeister zu meinem Vater und sagte ihm, daß ich klug sei, daß meine Aufsätze ihn in Erstaunen setzten, kurz, daß ich mich zum Studium eigne. Ich befand mich gerade im Zimmer und hörte natürlich mit gespitzten Ohren zu. Mein Vater rieb sich das Kinn, dachte nach, machte vielleicht einen Kostenüberschlag und sagte dann: ›Nun denn, so soll er in die Fußstapfen seines Onkels Paul treten, anstatt sich mit unserm Boden abzuquälen, der doch nichts Rechtes mehr trägt. Wer etwas gelernt hat, weiß sich immer durchzubringen.‹«

Das sichtliche Interesse, mit dem sein Onkel ihm zuhörte, ermutigte Jacques zu weiteren Geständnissen: »Der Vater fügte dann noch hinzu: ›Und außerdem bin ich überzeugt, daß dein Onkel dir zu deinem Fortkommen behilflich sein wird, denn es muß ihm doch Freude machen, einen Neffen zu haben, der seinem Beispiel folgt.‹ Damit war meine Laufbahn entschieden. In Besançon habe ich meine verschiedenen Examina absolviert, und nun bin ich hier. Was ich jetzt eigentlich beginnen soll, weiß ich vorläufig indes noch nicht. Ich habe bereits das Terrain sondiert und gesehen, daß es schwierig und alles überfüllt ist, aber schadet nichts, ich will den Mut nicht verlieren.«

»Du sprichst goldene Worte, mein Junge,« sagte Clarencé, bei dem sich das Interesse mit Mitleid zu paaren begann. »Vorwärts, ist also deine Losung, das ist ein schöner, ein herrlicher Wahlspruch, der Wahlspruch eines Helden. – Aber, vorwärts, nach welcher Richtung, nach welchem Ziele? Das möchte ich gerne wissen, denn nur Söldner und bezahlte Knechte kämpfen unbekümmert um das Wie und Was, die andern haben einen Zweck, ein Ideal. Wie heißt das, dem du zustrebst?«

Diese Frage brachte Jacques nun doch aus der Fassung. Sein Ideal gipfelte darin, es überhaupt zu etwas zu bringen, das Wie und Was kam bei ihm erst in zweiter Linie. Aber er war zu klug, dies einzugestehen, und so sagte er in überzeugungsvollem Tone: »Mein Ideal ist, ebenso schone Werke zu schaffen, wie die deinigen, ein Werk zum Beispiel wie das, dem man in einigen Tagen Beifall klatschen wird.«

»Armer Junge!« murmelte Clarencé. Gerne hätte er diesem Sohne desselben Bodens und derselben Vorfahren seine Bedenken entgegenrufen, ihm die Beschwerden vor Augen führen mögen, die selbst eine vom Glück begünstigte Dichterlaufbahn mit sich bringt. Allein wozu? Würde er auf ihn hören? Schon zeigte sich ein mißtrauischer Zug auf Jacques' Gesicht, jener Ausdruck, den der Bauer annimmt, wenn man ihm sein Feld, sein Schwein, oder seine Kuh heruntersetzen will. So begnügte sich Clarencé denn damit, ohne weitere Erklärung zu wiederholen: »Armer Junge!«

Und nun sahen sich Onkel und Neffe einen Augenblick schweigend an.

»Entweder ist er ein Schwächling, oder ein eingebildeter Mensch,« beurteilte ihn Jacques, »oder macht er sich über mich lustig. Wahrscheinlich aber will er mir nur imponieren, ohne selbst ein Wort von dem zu glauben, was er mir sagt. Aber wie aufrichtig er dabei aussieht, und was für ein famoser Schauspieler er ist!«

Clarencé dagegen sagte sich, den jungen Mann beobachtend: »Sein Gesicht erinnert mich an meine Jugend, sein Wesen an meinen Vater. Ja, ja, wir sind wohl Zweige desselben Stammes. Ob ich einst auch so war wie er?«

Jacques unterbrach zuerst die etwas peinlich werdende Stille, indem er sich erhob und in beinahe herablassendem Tone sagte: »Du scheinst etwas angegriffen zu sein, lieber Onkel, was vor einer Premiere ja auch nicht zu verwundern ist. Übrigens versichert mir jedermann, daß die ›Löwenbraut‹ einen glänzenden Erfolg haben werde. Und nun vollends nach jenem kleinen Abenteuer in der Rue Saint Ferdinand.«

»Sprich mir nur davon nicht!« rief Clarencé fast zornig. »Du weißt nicht, was für eine Saite du damit berührst.«

Sprachlos stand Jacques dieser unerwarteten Heftigkeit gegenüber, Clarencé aber fand bald seine Ruhe wieder und fügte in sanftem Tone hinzu: »Weißt du, mein Junge, es gibt Dinge, die dir noch fremd sind, und die du doch verstehen mußt, wenn du Schriftsteller werden willst. Komm also nach meiner Premiere einmal zu mir zum Essen, dann wollen wir zusammen plaudern. Heute bin ich beschäftigt, du hast mich schon allzulange aufgehalten.«

Sobald sich Jacques nach überschwenglichen Äußerungen seiner Dankbarkeit entfernt hatte, fuhr Clarencé zu Laurier. Was für neue Gemütsbewegungen mochten dort seiner warten? Arme kleine Jeanne! Wie sie wohl das schwere, unverdiente Unglück trug, sie, das reizende, trotz seiner dreißig Jahre noch fast kindliche Geschöpf, das nur fürs Glück geschaffen zu sein schien, das heftige Leidenschaften nicht kannte, und nun doch von ihren Wirkungen nicht verschont blieb? Wie war es nur möglich gewesen, daß dieses in den kleinbürgerlichen Kreisen von Paris aufgesproßte Pflänzchen, dieses still dahinfließende Bächlein Lauriers überschwengliche, schwärmerische Seele hatte anziehen können? Clarencé war es immer unbegreiflich gewesen. Ein leichtes Hindernis, der Widerstand der Eltern, guter Bürgersleute, die ihre Tochter an keinen Künstler verheiraten wollten, sowie ein im Hintergrund auftauchender zweiter wohlhabender Bewerber – das hatte genügt, die Phantasie des Malers zu erregen und ihn in einen Zustand unglücklicher Liebe zu versetzen, in den er sich derart hineinsteigerte, daß er mit Selbstmord und Entführung drohte. Jeanne, deren Seele er so viel Romantik eingeflößt hatte, als sie zu fassen vermochte, lächelte liebevoll, die Eltern gaben nach, und das eheliche Leben begann. Nur ein trauriges Ereignis trübte es bald. Der Zusammenbruch eines Bankhauses verschlang sämtliche Ersparnisse der guten Rentiersleute, die Laurier zwar sofort in sein Haus aufnahm, die aber ihr Unglück nicht lange überlebten. Von diesem Ereignis abgesehen, verdunkelte nicht eine Wolke das häusliche Glück, das durch die Geburt eines gesunden Kindes noch erhöht wurde. Man hätte glauben können, das Schicksal scheue sich, den Frieden dieser ruhigen, sanften Frauenseele zu stören. Clarencé hatte Jeanne manchmal das Wiesenblümchen genannt. Wohl beugen die zarten Pflänzchen im Gewittersturm ihre Stengel, aber nicht alle erheben sich wieder. Laurier hatte zwar gesagt: »Sie ist großmütig«, aber wie weit mochte diese im ersten Augenblick bewiesene Großmut gehen? »Sie stirbt vielleicht daran,« sagte sich Clarencé, und ihm fiel dabei die Ruhe ein, mit der sein Freund noch vor wenigen Tagen in Gegenwart seiner Gattin den gewohnten Satz mit angehört hatte: »Du hast die rechte Frau gefunden, wohl dir!« Nicht mit dem leisesten Zucken der Wimper hatte ihm Laurier damals widersprochen, und auch seine zärtliche Aufmerksamkeit für seine Gattin war unverändert geblieben. »Wie er sich verstellen kann!« dachte Clarencé. Sofort aber berichtigte er sich selbst: »Doch nein, wer weiß? Mit seinem phantastischen Sinn und seinem liebebedürftigen Herzen war er wahrhaftig im stande, zwei Frauen zu lieben.«

Laurier war ausgegangen, Jeannes Jungfer Justine führte Clarencé in den kleinen Salon, indem sie mit geheimnisvoller Miene sagte: »Frau Laurier fühlt sich nicht ganz wohl, soll ich Sie trotzdem anmelden?«

»O ja, gewiß.«

Der hübsche kleine Raum mit den hellen Möbeln im Stile Ludwigs des Sechzehnten und den tausend geschmackvollen Kleinigkeiten, die selbst abzustauben der sorgsamen Hausfrau ein tägliches Vergnügen bereitete, trug sein gewöhnliches Aussehen. Voll Rührung bemerkte Clarencé ein Sträußchen Vergißmeinnicht, die traurig die Köpfchen senkten. André hatte sie vor dem Unglück mitgebracht, und Jeanne gab ihnen kein Wasser mehr.

Und nun trat sie herein, sorgfältig gekleidet wie immer, in einem hübschen Morgenanzug, blau wie die Farbe ihrer Augen. Gänzlich unverändert, mit ihrer gewohnten herzlichen Anmut begrüßte sie Clarencé, so daß dieser dachte: »Sie glaubt, ich wisse von nichts, und beherrscht sich.« Jeannes erste Worte belehrten ihn indes sofort eines andern.

»Sie sind natürlich von allem unterrichtet?«

Kaum daß ein leises Beben die klare Stimme durchzitterte. Ja so ruhig klang sie, daß Clarencé die junge Frau fast gefragt hätte: »Und Sie selbst, wissen, begreifen Sie denn das Schreckliche?« Sie wartete seine Frage indes nicht ab, sondern fuhr fort: »Der arme André ist schon wieder ›dorthin‹ gegangen. Die ganze Nacht hat er geweint, er ist sehr unglücklich.«

Diesmal aber entfuhr Clarencé nun doch die Frage: »Und Sie, Jeanne, Sie selbst?«

»Ich,« antwortete sie, den zuerst unruhig umherirrenden Blick wieder voll auf Clarencé richtend, »ich habe mich sehr, sehr gegrämt, wie Sie sich wohl denken können, mein lieber Freund, umsomehr, als der Schlag mich so ganz unerwartet traf. Wohl schien mir André seit einiger Zeit verändert; er war zerstreut, viel auswärts – er vernachlässigte mich ein wenig, allein ich war seiner Liebe so sicher, ach, so sicher.«

Eine Träne glänzte an den langen Wimpern, aber sofort senkten sich die Lider und die Träne war verschwunden.

»Dann aber habe ich mir die Sache zurechtgelegt.« Das reizende Kindergesicht nahm plötzlich einen tiefernsten Ausdruck an, der es förmlich verwandelte. »Zuerst dachte ich an unsre Paula. Sie kennen ihre lebhafte Phantasie und rasche Auffassungsgabe, und da sagte ich mir: ›Niemals darf sie etwas von der Geschichte erfahren.‹ Ach, und André! Ich sah seine Verzweiflung – er ist ohnedies schon so grausam bestraft – bedenken Sie doch, ein solcher Tod!« Ein Schauder schüttelte ihre zarte Gestalt. »Was sollte ich tun? Unser Kind an mich nehmen und mit ihm fortgehen, den Unglücklichen sich selbst überlassen? Dieser Gedanke kam mir wohl, ich gestehe es, o ja, ich hatte Anfälle von Zorn und Rachsucht. Dann aber, als ich das Kind und den Vater wieder vor mir sah, da sagte ich zu André: ›Ich verzeihe dir!‹ Und ich will ihm nicht nur halb, nicht nur äußerlich verzeihen, nein, ich verspreche es Ihnen. Alles was ich kann, will ich tun, um ihn zu trösten und ihm den Schmerz überwinden zu helfen.«

»Wissen Sie, Jeanne, daß das sehr schön, sehr edel ist?«

»Vor allem ist es vernünftig,« murmelte sie mit verlorenem Blick.

»Nur eine großherzige Natur kann so fühlen,« sagte er warm.

»Oder eine ruhig Überlegende.«

Die Wahl ihrer Worte für eine Handlung, die ihm als etwas Erhabenes erschien, war ihm unverständlich. Jeanne aber fuhr in ihrer verständigen Weise fort: »Was ich da sage, wundert Sie wohl? Sie sind eben auch eine Künstlernatur wie er. Ihr beide lebt immer in einer andern, in einer eingebildeten Welt. Schon während wir verlobt waren, habe ich das bemerkt und mich oft darüber beunruhigt, denn ich selbst bin ganz anders angelegt. Seit gestern aber habe ich plötzlich über Dinge nachdenken müssen, die mir früher nie in den Sinn kamen, auch nicht beim Romanelesen. Nun fielen mir auf einmal all jene Eifersuchts- und Liebesszenen, wie sie in den Büchern geschildert werden, wieder ein. Aber ich fühlte es wohl, eifersüchtig war ich nicht – vielleicht, weil das Mädchen tot ist. Sie kann uns ja jetzt nichts mehr zuleide tun – wie sollte ich ihr da noch zürnen? André aber bleibt mir trotz alledem, er ist mein Gatte, wir sind fürs Leben vereint. Und ich will ihn nicht von mir lassen, sondern ihm helfen wieder froh und glücklich zu werden. Dann wird sich vielleicht auch mein schwerer Kummer allmählich mildern – so wie sich jeder Kummer mildert.«

Leise, nur noch wie ein Hauch, klangen die letzten Worte.

»O Jeanne,« rief Clarencé, »wie bewundere ich Sie! Wie richtig Sie das Leben ansehen, ohne jemals darüber gegrübelt zu haben!«

Etwas wie ein Lächeln flog über den traurigen Blick der großen, nachdenklichen Augen.

»Auf eine solche Auffassung waren Sie wohl nicht von mir gefaßt, mein lieber Freund? Ich gehöre nun aber eben einmal nicht zu den Menschen, die sich zu hochtragischen Handlungen aufzuschwingen vermögen. Ich habe jetzt nur noch den einzigen Wunsch, daß wir am Ende des Trauerspiels angekommen sein möchten, und unser Leben wieder in ruhige, friedliche Bahnen lenken können. – Helfen Sie mir in diesem Sinne, ich bitte Sie. Aber seien Sie vorsichtig, vergessen Sie, daß Sie ein Schriftsteller sind, und seien Sie ganz nur Mensch! Reißen Sie Ihren Freund aus seinen romanhaften Ideen heraus und führen Sie ihn in die Wirklichkeit zurück – das ist der wahre Liebesdienst, den Sie – vielleicht nur Sie allein – uns erweisen können, denn Sie kennen André von Grund aus und werden ihm gegenüber am ehesten die rechten Worte finden.«


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