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Erstes Kapitel.

Es war gegen fünf Uhr abends, als Clarencé nach beendigter Probe das »Moderne Theater« in Begleitung des Direktors verließ, der ihm, neben seinem Viktoriawagen stehend, zu wiederholtem Male versicherte: »Hoffentlich sehen auch Sie jetzt voll Zuversicht der Aufführung Ihres neuen Stückes entgegen? Was mich anbelangt, so war ich kaum je eines Erfolges so vollkommen gewiß, als diesmal. Es wird nicht nur für Sie, sondern auch für unser ganzes Theater ein Ehrentag werden.«

Nachdenklich hatte Clarencé ihm zugehört.

»Ich danke für Ihr Vertrauen,« antwortete er, »Möchten Sie recht haben! Ich selbst bin nicht mehr im stande, ein klares Urteil zu fällen.«

»Nervöse Erregung des Dichters, natürlich,« erwiderte der Direktor lächelnd. »Darüber aber, daß die ›Löwenbraut‹ Ihr Meisterwerk ist – wenigstens bis jetzt – sind wir alle einig. Sie können also ruhig schlafen! – Soll ich Sie nach Hause bringen?«

»Nein, ich danke, das Gehen ist mir Bedürfnis, ich mache den Weg lieber zu Fuß.«

»Gut, also auf morgen! Nicht wahr, Sie vergessen die kleine Änderung im zweiten Akt nicht?«

»Nein, nein, morgen bringe ich sie mit.«

Noch ein freundschaftlicher Händedruck, dann sprang der Direktor in seinen Wagen. Clarencé schaute ihm einen Augenblick nach und schöpfte dann tief Atem, als wolle er seine Lungen von der schlechten Luft, die sie mehrere Stunden lang eingeatmet hatten, befreien. Langsam ging er über den belebten Theaterplatz und schlenderte dann die Boulevards entlang. Gern hätte er seine Gedanken mit dem fröhlichen Leben und Treiben beschäftigt, das ihn an diesem schönen Frühlingstage unter dem lichtblauen Himmel umgab. Allein die lange Probe hatte ihn abgespannt; einige Stellen in seinem Stück, die Art, wie die Künstler sie wiedergaben, beschäftigte ihn – das Stück überhaupt quälte und verfolgte ihn. War der Erfolg wirklich so sicher? Bekanntlich täuschen sich die Theaterdirektoren fortwährend in ihrem Urteil trotz ihrer Erfahrung. Er jedenfalls war jetzt wie vor jeder Erstaufführung seiner Stücke von Zweifeln erfüllt, ohne freilich dem damit verbundenen, fast körperlichen Unbehagen eine allzugroße Bedeutung beizumessen. Kannte er doch jenes beklemmende Gefühl, das den Dichter vor der Veröffentlichung seiner Schöpfungen zu ergreifen pflegt: jenen schmerzlichen Vergleich, den dieser in solchen Augenblicken anstellt zwischen dem erträumten und dem zur Ausführung gebrachten Werke, an dem er jetzt tausend Mangel und Schwächen entdeckt. Ein Umstand besonders beunruhigte Clarencé: noch in keinem seiner acht früheren Dramen – sozialen Fragen fernstehenden Liebesdramen –, denen er seinen jungen Ruhm verdankte, hatte er die Macht der Liebe mit solcher Kühnheit geschildert als in diesem letzten Werk. Und doch war die anfängliche Konzeption des Stückes durch deren Ausgestaltung gemildert worden, denn als Clarencé zum ersten Male die Grundidee zu einem neuen Wert durchs Hirn schoß, da war es jenes abstoßende Thema, in dem sich die krankhafte Phantasie eines Euripides, Alfieri und Shelley gefielen: die leidenschaftliche Liebe eines Vaters zu seiner Tochter. Durch einen Zufall war Clarencé auf jenen Gedanken gekommen, gelegentlich eines Besuches bei einem seiner Freunde, bei dem er eine unnatürliche Steigerung des väterlichen Gefühls zu bemerken geglaubt hatte. Dieser Freund, ein talentvoller Maler Namens André Laurier war überhaupt eine allzu weichliche, empfindsame und übermäßig leidenschaftlich angelegte Natur, deren geheimste Regungen Clarencé zu kennen glaubte, und der, ohne es zu ahnen, dem Dichter schon manchen Zug für seine Liebeshelden geliefert hatte. Ein flüchtiger Ausspruch nur, der nach dem Essen im kleinen Familienkreise von den Lippen des Freundes gefallen war, hatte den Gedanken geweckt. Die kleine sechsjährige Paula, Clarencés Patenkind, war plötzlich vom Schoß ihres Vaters herabgeglitten, um auf den des Freundes, der sich häufig mit ihr abgab, zu klettern.

»Ei, ei,« rief Clarencé lachend, »sie liebt schon die Abwechslung, das nenne ich früh anfangen!«

Ebenfalls scherzend antwortete Laurier: »Sollte man's glauben, daß ich immer ein wenig eifersüchtig bin, wenn sie so wie jetzt von mir fort und zu jemand anderm geht? Wie wird das erst werden, wenn sie sich einmal verheiratet? Ich hasse meinen künftigen Schwiegersohn schon jetzt.«

»Dieser Ausspruch sieht dir wieder recht ähnlich!« rief Clarencé lächelnd, während er mit den schönen lockigen Haaren der Kleinen spielte, die ihre großen dunkelgrauen Augen fragend auf ihn gerichtet hielt. Dann fügte er hinzu: »Was du da eben sagtest, erinnert mich an ein Gedicht Chamissos, an das ich lange nicht mehr gedacht habe. Die Tochter eines Löwenbändigers ist Braut. Zum letzten Male betritt sie den Käfig des Löwen, der sich zärtlich zu ihren Füßen niederkauert. Sie erzählt ihm von ihrer bevorstehenden Abreise und sagt ihm lebewohl. Der Bräutigam tritt heran, ruft ihr, will sie mit fortführen, der Löwe aber kann sich nicht von ihr trennen – er stürzt sich auf sie, zerreißt sie und legt sich dann demütig zu Boden, um den Todesstoß zu erwarten.«

»So weit würde ich es nun nicht treiben, das verspreche ich dir,« sagte Laurier lachend.

Mit einem etwas verächtlichen Ausdruck, den sie meist anzunehmen pflegte, wenn die beiden Männer, ihren Künstlernaturen folgend, phantastische Reden führten, war Frau Laurier der Unterhaltung gefolgt. Was für eine Ideenverbindung konnte man denn zwischen diesem überschwenglichen Gedicht und dem Scherzworte ihres Gatten finden, der doch gewiß nichts von einer Löwennatur an sich hatte?

»Ich kann keinen Zusammenhang entdecken,« bemerkte sie.

»Die Eifersucht tritt eben in tausenderlei Formen auf,« antwortete Clarencé; »man kann nie wissen, wie sie sich äußert.«

»Ja, ja, er hat ganz recht,« warf Laurier ein, »ich habe meine Tochter entschieden allzusehr ins Herz geschlossen. Wer weiß übrigens, ob dieser Fall nicht häufiger vorkommt, als man glaubt!«

Fast unmittelbar darauf war Clarencés Phantasie mit Windesflügeln auf dieser Fährte davongeeilt. Sie hatte das kleine, im Herzen seines Freundes glimmende Fünkchen, wo es sich wohl niemals weiter entwickeln würde, zur Flamme, zur verzehrenden Lohe angefacht und ein Trauerspiel aufgebaut, das in seinem modernen Rahmen und der modernen Art äußerer Übertünchung noch fürchterlicher wirken mußte, als jene Dramen aus dem Altertum und Mittelalter. Bald aber war es Clarencés zum Bewußtsein gekommen, daß er die Schöpfung seiner Phantasie der öffentlichen Meinung anpassen, ihre krassesten Momente streichen und mit den Empfindungen des modernen Lebens rechnen müsse. So wurde aus dem Vater ein Schwiegervater und aus der Tochter eine Schwiegertochter. Obwohl auf diese Weise der abstoßendste Teil aus dem Trauerspiel entfernt war, so blieb es doch immerhin noch düster und schauerlich genug. In ergreifender Weise wurde darin der tragische Verlauf einer unerlaubten Leidenschaft geschildert, die zuerst ängstlich geheimgehalten wird, schließlich aber, durch Eifersucht angereizt, in der friedlichen Umgebung kleinbürgerlichen Lebens mit ihrer ganzen elementaren Gewalt losbricht, den Helden zum Mörder macht und die Geliebte gegen seinen Willen ins Verderben reißt.

Die Grundidee des Stückes war bereits durch die Berichte von Reportern in die Öffentlichkeit gedrungen, so daß die Zeitungen eine aufregende »Premiere« anzukündigen vermochten, Sie fügten zudem noch einmütig hinzu, daß an einem durchschlagenden Erfolg des Stückes nicht zu zweifeln sei, da Clarencé den einen als geschickter »Macher« galt, während die andern den Kämpfer in ihm erkannten, dessen Kraft über alle Schwierigkeiten triumphiert.

Der bereits mit Ruhm gekrönte Schriftsteller stand in seinem vierzigsten Lebensjahre. Kaum daß noch ein kleiner Rest von linkischem Wesen und Schüchternheit die bäuerische Abkunft bei ihm verriet. Auch hatte er nicht die kraftvolle, untersetzte Gestalt der Bergbewohner des Jura, dem er entstammte. Er war im Gegenteil eher schlank und hoch gewachsen und verdankte einem nahezu zwanzigjährigen Aufenthalt in Paris eine weiße Hautfarbe und eine gewisse großstädtische Eleganz. Der Ausdruck seines hübschen, regelmäßigen Gesichts mit der hohen Stirne und dem fast gar zu ernsten Blick, in dessen klarer Tiefe sich der rasche Flug der Gedanken widerspiegelte, schien fortwährend zu wechseln. Obwohl sich seine Haare schon etwas zu lichten begannen, wiesen sie doch noch das glänzendste Schwarz auf. Der spitz zugeschnittene Vollbart dagegen war bereits fast ganz weiß, so daß er bei flüchtiger Betrachtung leicht über das Alter seines Trägers täuschen konnte.

Soviel Clarencé auch in der Pariser Gesellschaft verkehrte, so war er doch kein Weltmann geworden. Er sprach wenig, suchte nicht zu glänzen; auch galt er für keinen unterhaltenden Gesellschafter und Tischgenossen, und obwohl ihm die Erfolge seiner Theaterstücke mit der Berühmtheit frühzeitig auch den Wohlstand eingebracht hatten, lebte er dennoch einfach in seiner hübschen, aber bescheidenen Wohnung der Rue Boccador, die er schon jahrelang innehatte, und wo sein Diener Antoine und dessen Frau Juliette für seine täglichen Bedürfnisse sorgten. Seine Laufbahn war nicht hart gewesen. Zu Anfang hatte ihm sein alter Vater, der als Bauer wohl wußte, daß es ohne Saat auch keine Ernte gibt, ohne Knauserei die notwendigen Existenzmittel zukommen lassen. Später verschaffte ihm die Aufnahme seines ersten Stückes bald die Unabhängigkeit, so daß er sich frei entwickeln konnte, ohne niederdrückende Nahrungssorgen, Zwangsarbeit und die Bitterkeit eines erfolglosen Strebens kennen gelernt zu haben. Wenn er trotzdem ebenso »nervös« als irgend einer seiner vom Glück weniger begünstigten Kollegen war, so kam dies von der fortgesetzten Anspannung einer über dem Boden der Wirklichkeit arbeitenden Phantasie und von dem Feuer, mit dem er seine eigene Seele in die Seelen seiner Geschöpfe hineinlegte, deren Leiden und Kämpfe er bei ihrer Ausgestaltung ganz und gar mit durchlebte. Diese fortgesetzte Verschmelzung von Wirklichkeit und Dichtung, die sich ohne sein Wissen in ihm vollzog, hatte ihn allmählich in einen Zustand innerer Erregung versetzt, die mit den Jahren zunahm. Die peinlichsten Bedenken quälten ihn nach jeder vollendeten Seite, immer wieder wurde jeder Satz auf seine Wirkung geprüft, umgeändert und von neuem begonnen. Und auch seitdem »Die Löwenbraut« nun in ihrer fertigen Gestalt vor ihm stand, grübelte er, von Zweifeln gepeinigt, fortgesetzt darüber nach. Eine Frage besonders, die sich zuerst nur leise in ihm geregt hatte, ihm aber bald eine wahre Herzensangst verursachte, verfolgte ihn: »Wie,« so fragte er sich, »muß ein solches Stück auf die Zuhörer wirken? Mit was für Gefühlen kehrt das Publikum, nachdem es ihm Beifall gezollt hat, nach Hause zurück? Was für geheime, vielleicht im tiefsten Grund der Seele schlummernde Laster vermag ein zu Herzen gegangenes Trauerspiel nicht aufzurühren?« So energisch er diese Frage zuerst auch mit Beweisgründen, wie sie den Künstlern geläufig sind, zurückwies, so wurde sie doch immer wieder durch zufällige Ideenverbindungen wachgerufen, ja, sie verdrängte allmählich alle andern den Stil und die Inszenierung betreffenden Bedenken, um sich nach jeder Probe wie ein Kehrreim von neuem einzustellen. Besonders den letzten Akt mit seinen hochgesteigerten, leidenschaftlichen Liebes- und Mordszenen vermochte Clarencé schließlich nicht mehr anzuhören, ohne dabei etwas wie Gewissensbisse zu fühlen. Gerade an dem Tage, da der Direktor des »Modernen Theaters« ihm einen glänzenden Erfolg versprach, war diese Empfindung ganz besonders stark. Ohne Unterlaß summten die feurigen Liebesworte in seinen Ohren, und anstatt ihm Freude zu machen, hinterließen sie einen bitteren, peinlichen Nachgeschmack in ihm, bis endlich das Urteil, das bisher nur unklar seinen Geist erfüllt hatte, ihm deutlich auf die Lippen trat.

»Ein solches Werk ist fast ein Verbrechen,« murmelte er.

Sofort aber erfuhr die Schärfe seines Urteilsspruches auch wieder eine Milderung in seinem Innern.

»Ach was!« fügte er, die Achseln zuckend, halblaut mit einer heftigen Bewegung, die einen Vorübergehenden veranlaßte, sich umzuwenden, hinzu: »Ermüdung, Nervenüberreizung, nichts weiter. Ist einmal die ›Premiere‹ vorüber, dann vergehen die Grillen von selbst.«

Er befand sich jetzt in den Champs Elysées, wo es ihm denn endlich auch gelang, sich wenigstens für kurze Zeit an den jungen Blüten der Kastanienbäume, an dem hinter dem Arc de Triomphe sich blutrot färbenden Abendhimmel und an all den schönen Dingen, die der Frühling mit sich bringt, zu erfreuen, so daß sich seine Erregung fast gelegt hatte, als er, vor seiner Wohnung angelangt, auf den Knopf der elektrischen Klingel drückte.

Antoine öffnete ihm; sein gutmütiges, dickes Gesicht mit dem wohlgepflegten grauen Kotelettebart aber drückte Verlegenheit und Furcht aus. Die Hände unter seiner Schürze versteckt, stammelte er: »Drinnen im Arbeitszimmer ist ein Herr, ein Herr, der –«

»Na, wer denn?«

»Ein Zeitungsschreiber,« gestand der Diener, die Augen niederschlagend.

Ärgerlich stieß Clarencé mit dem Stock auf den Teppich des Vorplatzes.

»Ich hatte Ihnen aber doch so bestimmt gesagt, daß ich in diesen Tagen keinen derartigen Besuch empfangen wolle.«

»Ich versuchte es auch, ihn fortzuschicken,« entschuldigte sich Antoine, »er wich aber nicht von der Stelle, sondern sagte, es handle sich um eine für Sie sehr wichtige Sache, Sie würden es sicherlich bedauern, ihn nicht gesprochen zu haben. Und da dachte ich –«

»Sie hätten eben nicht denken sollen, Antoine.«

Trotzdem entnahm er den Händen des Dieners eine Visitenkarte, auf der ein ihm fremder Name stand.

»Philipp Merton,« sagte er. »Kenne ich nicht.«

Unschlüssig betrachtete er die Karte noch einen Augenblick, dann murmelte er mit einem ergebenen Seufzer: »Nun er einmal hier ist, bleibt mir wohl nichts andres übrig, als ihn zu empfangen.«

Die Handschuhe ausziehend, ging er durchs Vorzimmer, legte Hut und Stock auf ein Tischchen und trat in sein Arbeitszimmer.

Dort fand er einen noch fast bartlosen, ziemlich schlecht gekleideten jungen Mann vor, der offenbar Studien zur Beschreibung des Zimmers machte, das übrigens in den Schaufenstern der Photographen vor aller Augen lag. Eine schwierige Aufgabe aber war dies jedenfalls nicht, denn die hier herrschende außerordentliche Einfachheit bildete einen auffallenden Gegensatz zu dem bekannten Luxus so vieler Wohnungen berühmter Männer. Clarencé vermied absichtlich die übertriebene Eleganz der modernen Einrichtungen, deren tausenderlei Einzelheiten nur zerstreuen und die Aufmerksamkeit ablenken. Altertümliche, geschnitzte, aber derbe, einfache Bauernmöbel bildeten die Ausstattung seiner Wohnung. Das mit dunkelgrünem Plüsch bezogene Kamin trug als Schmuck nur eine Florentiner Büste nach Donatello und zwei antike, stets mit den Blumen der Jahreszeit gefüllte Vasen. Die ebenfalls dunkelgrünen Wände verschwanden größtenteils hinter hohen, mit einfach eingebundenen Büchern angefüllten Schränken. Nur zwei Felder waren freigelassen, das eine für ein großes, schönes Frauenportrat in Pastell, das andre für die Kopie eines bekannten Bildes, den Tod darstellend, der sein Herz als Opfergabe darbietet – ein Sinnbild menschlicher Schmerzen – und das hier aufgehängt zu sein schien, um den in diesem stillen, dämmerigen Räume entstehenden Werken gleichsam den Stempel aufzudrücken. Merton hatte es betrachtet, ohne nach seiner Bedeutung zu forschen, dagegen hafteten seine Blicke mit um so größerer Neugierde auf dem Frauenbildnis. Wäre er in der Pariser Gesellschaft weniger fremd gewesen, so hätte er ohne Mühe das Original erkannt, oder es doch wenigstens erraten, denn Clarencés Beziehungen zu Frau Claudine Bréant waren für niemand ein Geheimnis. So aber wußte er nichts von diesem Verhältnis, reimte sich jedoch irgend einen andern kleinen Roman auf eigene Faust zusammen. Beim Geräusch der sich öffnenden Türe wandte er sich hastig ab, als sei er auf einer Indiskretion ertappt worden, dann begann er nach verschiedenen Verbeugungen umständlich zu erklären, daß er in seiner Eigenschaft als Berichterstatter der Zeitung »L'Etoile« gekommen sei.

Stehend, ohne ihm einen Sitz anzubieten, hörte Clarencé an, bald aber unterbrach er ihn ziemlich schroff: »Ich kann Ihnen nichts über mein neues Stück mitteilen. In drei bis vier Tagen wird man es ja zu sehen bekommen, dann mag jeder darüber urteilen wie er will.«

Etwas aus der Fassung gebracht, zupfte Merton verlegen an den sprossenden Härchen seines Schnurrbarts, dann antwortete er in einschmeichelndem Tone: »Es handelt sich nicht um die ›Löwenbraut‹, verehrter Meister, wenigstens nicht direkt, sondern um einen Artikel, der unter den ›Vermischten Nachrichten‹ erscheinen soll, und worin auch Ihr Name genannt werden wird.«

Clarencé erbebte.

»Mein Name? Und unter den ›Vermischten Nachrichten‹?«

»Ja gewiß,« antwortete der Reporter. »Sie werden übrigens den Bericht in allen Abendblättern finden. Ein junges Mädchen Namens Céline Bouland, Tochter eines in der Rue Saint Ferdinand Nr. 60 wohnhaften Subalternbeamten, hat sich vergangene Nacht das Leben vermittels Kohlenoxydgases genommen. Sie scheint mit einem verheirateten Manne, dessen Name noch nicht ermittelt ist, eine Liebschaft gehabt zu haben. Was zwischen den beiden vorgegangen ist, weiß man nicht; vielleicht, daß ihre Beziehungen entdeckt worden sind, oder aber, daß er sie verlassen wollte, jedenfalls hat sie sich mit Kohlenoxydgas erstickt.«

Ein zweites Mal unterbrach ihn Clarencé, erstaunt über die ausführliche Erzählung einer ihm fernstehenden Geschichte.

»Bitte, mich nur weiter anzuhören. Neben dem Bett des jungen Mädchens fand man ein Exemplar Ihres bewundernswerten Dramas ›Liebe und Tod‹, worin zahlreiche Stellen angestrichen waren. Sie mußte es also vor ihrem Tode wieder und wieder gelesen haben. Ohne Zweifel sah sie zwischen ihrem eigenen Kummer und dem der poesievollen Heldin des Dramas eine gewisse Ähnlichkeit. Sie können sich wohl denken, daß dieser Fall in die Öffentlichkeit kommen wird, umsomehr, als Sie in diesem Augenblick eine vielgenannte Persönlichkeit sind. Aus diesem Grunde kam mir der Gedanke, Ihnen die Sache sofort mitzuteilen und Sie um Ihre Meinung zu fragen. Die Idee gefiel meinem Chef – und ich gestehe offen, daß ich auf Ihren Beistand rechne – denn,« fügte er mit leiserer Stimme hinzu, »ich bin auf den Erfolg meiner Arbeit angewiesen.«

Als der junge Mann das Interesse bemerkte, das seine Erzählung erregte, legte er sofort seine Schüchternheit ab, und nachdem Clarencé sich gesetzt hatte, tat er, eine Antwort abwartend, desgleichen. Da diese jedoch ausblieb, fuhr er mit jugendlichem Ungestüm fort: »Nicht wahr, es ist ein recht seltsames Ereignis, unwillkürlich fällt einem dabei Alfred de Vigny ein, dessen ›Chatterton‹ bekanntlich eine wahre Epidemie von Selbstmorden nach sich gezogen hat. Eine solche Wirkung aber ist ja stets nur schmeichelhaft für den Dichter.«

»Finden Sie das?« rief Clarencé. »Ja, finden Sie das wirklich?«

Merton führte seinen Gedanken weiter aus: »Jedenfalls beweist es, daß der Dichter Eindruck gemacht hat.«

Den Bleistift in der Hand, wartete er geduldig auf Clarencés Entgegnung. Dieser schwankte einen Augenblick zwischen der Klugheit, die ihm zu schweigen gebot, und dem ihm angeborenen Drange nach freimütiger Aussprache.

»Sie finden also, daß ein solches Ereignis schmeichelhaft für den Dichter ist?« wiederholte er. »Ich aber, ich sage, es ist demütigend, grausam. Ich weiß zwar nicht, wie Alfred de Vigny über die seinem ›Chatterton‹ folgenden Selbstmorde gedacht hat, niemals aber werde ich glauben, daß er angenehm davon berührt worden ist. Ich für meine Person muß sagen, daß wenn man mir den Beweis liefert, mein Stück ›Liebe und Tod‹ sei in irgendwelchem Zusammenhang mit jenem Unglücksfall, so würde mich dies aufs tiefste und schmerzlichste bekümmern, das gestehe ich Ihnen ganz offen.«

Immer lebhafter, sich selbst vergessend, fuhr er, ohne den rasch übers Papier fliegenden Bleistift Mertons zu beachten, fort: »Für Sie, ja da mag das traurige Ereignis ein interessanter Fall und ein glücklich entdecktes Thema für einen Zeitungsartikel sein, für mich aber ist es eine Gewissens- und Herzenssache. Wohl hat es schon vor meinen Dramen Liebespaare gegeben, die sich selbst das Leben genommen haben. Ich habe auch nicht die Kohlenbecken erfunden. Die Unglücklichen selbst sind, auch ohne meine Hilfe, in ihrer Verzweiflung auf dieses Mittel verfallen. Aber wie soll man aus der in ihrer Einfachheit so ergreifenden Geschichte herausfinden, wie weit echte Liebe und wie weit die durch Lektüre überreizte Phantasie mit im Spiele war. Die erste ist eine Naturgewalt wie Wasser, Feuer und Wind. Seitdem die Erde besteht, zieht sie dieselben Verheerungen nach sich und treibt die von ihr erfaßten unglücklichen Paare demselben Endziel entgegen – man ist ihr gegenüber machtlos, wie gegen ein Gewitter oder gegen Ebbe und Flut. Mit der Phantasie dagegen ist es etwas andres. Über sie sind wir die Herren, wir können sie im Zaume halten, ihr die Herrschaft über uns verwehren. Die Schilderungen der Liebe aber, die sind es vor allem, die die Phantasie erregen, und zwar um so tiefer und nachhaltiger, je poetischer das Gewand ist, in dem sie uns vorgeführt werden. Noch einmal frage ich Sie: Wie sollen wir bei der Liebesgeschichte jenes armen Mädchens entscheiden, welche der beiden Gewalten die größere war? Dazu müßte man jede Einzelheit des Vorfalls kennen und das arme Herz, das zu schlagen aufgehört hat, in seinen Tiefen ergründen. Das aber liegt außerhalb unsrer Macht.«

Merton wunderte sich, während er seine Notizen machte, nicht wenig, solche Worte von den Lippen eines großen Dichters zu vernehmen, diesen mit einer so tiefen Erregung über ein Problem sprechen zu hören, das ihm selbst mit seinen zwanzig Jahren, vom praktischen Standpunkt aus betrachtet, durchaus nicht als wichtig erschien. Da sein Gegenüber indes innehielt, bemerkte er: »Ich hätte niemals gedacht, daß Ihnen ein Unglück, das Sie nicht persönlich berührt, dem Sie als ein Fremder gegenüberstehen, so nahe gehen könnte.«

Lebhaft, als könne er seine Selbstangriffe nicht rasch genug wieder aufnehmen, entgegnete Clarencé: »Als ein Fremder? Ich wiederhole es, wie kann man den Fall richtig beurteilen und von der vollendeten Tatsache auf deren Ursache schließen? Wie kann man ahnen, was in dem Kopf jenes Mädchens vor sich gegangen ist, während sie mein Buch in der bebenden Hand hielt? Ein Fremder! Aber darf denn ein Dichter für seinen Leser ein Fremder sein? Darf er sich gleichgültig darüber hinwegsetzen, wenn er mit seinen Schöpfungen einen unheilvollen Eindruck auf sie ausübt?«

Unwillkürlich ruhte Clarencés Blick bei dieser Frage auf Merton, so daß dieser im Glauben, sie sei an ihn gerichtet, antwortete: »Ach was, Unheil! Auch Leute, die nichts lesen und in kein Theater gehen, lieben und sterben wie die andern. Und selbst, wenn jenes Mädchen sich wirklich fälschlicherweise Ihre Heldin zum Vorbild genommen hätte, welche Schuld könnte Sie dabei treffen?«

»Die Schuld, das Stück überhaupt geschrieben zu haben.«

Clarencé hatte diese bedeutungsvollen Worte gesprochen, ohne ihre Tragweite zu berechnen. Merton, der nicht wissen konnte, daß sie der Ausdruck langer, innerer Kämpfe waren, fuhr überrascht auf, um dann lächelnd eine abwehrende Bewegung zu machen, als ob er andeuten wollte, daß er seine fünf Sinne beisammen habe und sich kein X für ein U machen lasse.

»Das ist eine Ansicht, die natürlich niemand teilen wird,« antwortete er endlich mit einem verbindlichen Lächeln, »dafür bürge ich Ihnen. Bedenken Sie doch, was will der Tod jenes unbedeutenden Mädchens gegenüber dem großen Werke bedeuten, dessen Schöpfer Sie sind, das Ihrem Zeitalter, Ihrem Vaterlande zur Ehre gereicht, und das Ihnen die Unsterblichkeit sichert.«

Einen Augenblick lang ließ Clarencé den klaren, sanften Blick seiner schönen Augen auf dem jungen Manne ruhen, dann sagte er: »Sie sind noch sehr jung, mein Freund, Darum können Sie auch nicht wissen, von welch geringem Werte ein noch so glänzendes Phantasiebild im Vergleich zu dem allerunscheinbarsten Leben ist. Was nützt oder schadet die Dauer eines Namens oder eines Gedankens? Auf das Unheil, das man angerichtet hat, aus das Gute, das man hätte wirken können und nicht gewirkt hat, darauf allein kommt es an.«

»Mir scheint aber doch, daß die Rechte der Kunst –« wollte Merton einwerfen, Clarencé aber unterbrach ihn lebhaft: »Nein, nein, ich bitte Sie, kommen Sie mir nur damit nicht. Die großen, wahren Dichter haben sich niemals mit ihren Rechten zu verteidigen gesucht, sie wußten überhaupt nichts von Rechten, ihnen kam vor allem niemals in den Sinn, diese Rechte von den allgemeinen Menschenrechten zu trennen. Der Begriff Dichterrechte ist nur eine Erfindung eingebildeter, unfähiger Toren –«

Er hielt einen Augenblick inne, dann fragte er in plötzlich verändertem Tone: »Sagen Sie, wissen Sie etwas Näheres über das arme Mädchen?«

»Nicht mehr, als ich Ihnen bereits mitgeteilt habe: ihren Namen und ihre Adresse. Es wird wohl eines jener Geschöpfe gewesen sein, wie es heutzutage eine Menge gibt, die zu gebildet sind für den Kreis, in dem sie leben, und die, da sie in Ermangelung einer Mitgift nicht zum Heiraten kommen, anderweitig Ersatz suchen. Gerade solche nehmen gewöhnlich ein schlimmes Ende.«

»Hatte sie einen Bruder oder eine Schwester?«

»Ich glaube nicht.«

»Aber doch Eltern?«

»Ja, die leben noch.«

»Die armen Leute! – Wer weiß, ob sie mich nicht ebenso verwünschen als den Verführer?«

Aus Hochachtung für sein Gegenüber unterdrückte der Zeitungsreporter die abfällige Antwort, die ihm über jene kleinen Leute auf den Lippen schwebte, auch wagte er keine weitere Frage an den scheinbar ganz in sich versunkenen Dichter zu richten, der indes nach kurzer Pause fortfuhr: »Und doch war es meine Bestimmung, Liebestragödien zu schreiben. Eine innere Notwendigkeit trieb mich dazu. Die in mir lebenden Bilder drängten gewaltsam nach außen, nach Form und Gestalt. Sorglos, in freudiger Schaffenslust folgte ich jahrelang dem inneren Triebe, ohne daß mir auch nur einmal der Gedanke an jene Frage gekommen wäre, die in dein Zeitungsberichte nunmehr ihre traurige Antwort gefunden hat. Und doch find Sie nicht der erste, der diese Gedanken in mir anregt. Eines Tages, ich weiß nicht, wie es kam, da stiegen sie plötzlich in mir auf. Begreifen Sie jetzt deren wahren Sinn und den tiefen Ernst, den sie in dieser Stunde für mich annehmen? Können Sie es verstehen, was im Gewissen eines ehrlichen Mannes vor sich gehen muß, wenn es ihm mit einem Male klar wird, daß er vielleicht für ein gewaltsam geendetes Leben verantwortlich ist, jedenfalls aber einem schweren Unglück nicht ganz schuldlos gegenübersteht? Solche Bedenken kennt freilich die heutige Jugend nicht mehr. Ihr sprecht nur immer von den Rechten, den Forderungen und von der Religion der Kunst. Ja, ja, man kann sich wohl lange mit dieser Religion begnügen, sie sogar für sehr edel und erhaben halten und mitleidig auf denjenigen herabsehen, der sie verachtet und verschmäht. Eines schönen Tages aber, da entdeckt man, daß die Glaubenslehren jener Religion hohl klingen, daß der Gott, den man so hoch gehalten, nur ein falscher Götze war. Woher diese plötzliche Sinnesänderung? Man hat eben den Ernst des Lebens an sich selbst erfahren, man hat das Leiden persönlich kennen gelernt und sein Herz der Menschlichkeit geöffnet. Nun beginnt man die Welt mit andern, mit sehenden Augen zu betrachten und entdeckt bald, daß es noch etwas Höheres gibt als Bücher, Verse, Trauerspiele und Dichtkunst. Dieses Höhere aber – es ist das einfache und in seinen Wechselfällen doch so großartige wirkliche Leben, das Leben der armen, unglücklichen Menschen, die, manchmal Henker, aber viel öfter Opfer, so oft der Schmied ihres eigenen Unglücks sind, oder die von jenem unbarmherzigen Erzieher, dem Schicksal, gepeinigt und grausam hin und her geschleudert werden. Wie viele, die sich mit einem ausschließlichen Kultus für die Kunst in den Kampf begeben haben, haben nach errungenem Siege nur die Liebe zum Guten mit heimgebracht. – Sie machen große Augen, junger Mann, und ich errate Ihre Gedanken: spießbürgerliche Kleinlichkeit, engherziges Streben, das glauben Sie, sei die Folge von solchen Skrupeln, und Verachtung erfüllt Sie, davon bin ich überzeugt. Heute abend im Bierhaus, da werden Sie zu Ihren Kameraden sagen, dieser Clarencé ist nichts weiter als ein alter Schwachkopf. – Nein, nein, widersprechen Sie mir nicht, ich vergebe Ihnen im voraus. Später aber, wenn Sie einmal Ihren Weg gemacht haben, dann werden Sie vielleicht an meine Worte zurückdenken. Und ist dann wirklich ein Mann aus Ihnen geworden, so werden Sie einsehen, daß ich recht habe.«

Zum ersten Male hatte Clarencé den Gedanken, die ihn seit einiger Zeit quälten, bestimmten Ausdruck verliehen. Zugleich aber fühlte er auch, daß sie, nun sie einmal Gestalt in ihm gewonnen hatten, nicht mehr aus seinem Innern zu verdrängen seien, sondern daß er künftighin mit ihnen werde zu rechnen haben. Merton aber, er mochte den Dichter verstanden haben, oder nicht, hatte ein Artikelchen in petto, wie man es sich schöner nicht denken kann, einen Artikel, der seinen Ruf als ein glänzender Reporter zu begründen im stande war. Jetzt kannte er nur noch den einen Wunsch, diese köstliche Errungenschaft so rasch als möglich niederzuschreiben. Er erhob sich also, um sich eiligst zu verabschieden, indem er sagte: »Haben Sie Dank, verehrter Meister, für Ihre vertraulichen Mitteilungen, die meine kühnsten Erwartungen übertroffen haben. Nie viele Leute aber werden durch Ihre Ansichten in Erstaunen versetzt werden!«

Diese unvorsichtigen Worte erinnerten Clarencé erst wieder daran, daß seine Äußerungen schwarz auf weiß erscheinen sollten, und sofort bereute er seine Offenherzigkeit.

»Allerdings,« antwortete er, »allein ich wünsche nicht, daß sie veröffentlicht werden. Ich habe nur für Sie und für mich gesprochen, und nicht für Ihre Leser.«

»Wie,« rief der junge Mann erschrocken, »ich bin als Reporter zu Ihnen gekommen, Sie haben mich als solchen empfangen, ich habe andächtig Ihren Worten gelauscht, mir Notizen gemacht, und nun verlangen Sie, daß –«

»Ich verlange gar nichts,« unterbrach ihn Clarencé, »ich habe kein Recht, etwas zu verlangen. Ich bitte nur um Ihre Verschwiegenheit, denn ich habe mich einer großen Unklugheit schuldig gemacht. Wir leben in einer Welt, wo man nicht laut denken darf. Auch im Kampf eines Dichters um seinen Ruhm gibt es Gesetze, und das allererste gipfelt darin, daß er sich nicht selbst widerspricht. Ich aber habe den doppelten Fehler begangen, erstens zu reden, anstatt zu schweigen, und zweitens mich selbst anzuklagen, anstatt mich mit einem Glorienschein zu umgeben. Der Zufall wollte es, daß Sie sich zu einer Stunde hier bei mir befanden, wo man, von seinen Gedanken überwältigt, sich selbst vergißt. Sie werden so edelmütig sein, diesen Zufall nicht auszunützen.«

»Aber was soll dann aus meinem Artikel werden?«

»Sie behalten ihn für sich.«

»Ich bin erst seit kurzem bei meiner Zeitung angestellt und fand bisher noch keine Gelegenheit, einen Beweis meiner Fähigkeiten abzulegen. Mit einem solchen Artikel hätte ich nun mein Glück gemacht. Was aber wird mein Chef sagen, wenn ich statt dessen mit leeren Händen zurückkomme?«

»Die Verantwortung bei Ihrem Chef, der ein alter Bekannter von mir ist, werde ich auf mich nehmen. Sagen Sie ihm, daß ich ihn morgen besuchen werde. Ich bürge Ihnen dafür, daß er Ihnen keinen Vorwurf macht, auch werden Sie Ihr Schweigen nicht zu bereuen haben.«

Clarencés Worte schienen ihren Eindruck auf Merton nicht zu verfehlen. Sei es nun, daß er sich eine naheliegende vorteilhafte Berechnung in seinem Kopfe zurechtlegte, sei es, daß er wirklich einer edelmütigen Regung folgte, jedenfalls gab er nach, wenn auch nicht ohne einen Seufzer des Bedauerns.

»Ich werde also Ihrem Wunsche gemäß schweigen,« sagte er. »Aber schade ist es doch um den schönen Artikel, den ich Ihnen zu verdanken gehabt hätte.«

»Beruhigen Sie sich, mein junger Freund, ganz verloren wird er trotzdem nicht für Sie sein. Die Frage, die wir gestreift haben, stellt sich uns jeden Tag in wechselnder Form entgegen. Weittragender, als Sie glauben, wird sie ein Blatt der Zukunftsgeschichte füllen. Heute aber war sie noch beschränkt und persönlich, an den engen Kreis jenes Unglücks und an mein Trauerspiel gebunden, das eben doch nichts weiter als ein Spiel ist. Wer weiß, wie diese Frage morgen auftreten wird. Der literarische Übelstand unsrer Zeit, dem die arme kleine Céline, die mit ihrem Selbstmord etwas Schönes und Herrliches zu vollbringen glaubte, zum Opfer fiel – ist er nicht einer jener verborgenen Krebsschäden, unter denen wir leiden? Früher oder später wird man ihn wohl entdecken, und dann –«

Der Satz blieb unvollendet, Merton aber wandte sich in Erwartung einer Prophezeiung auf der Schwelle noch einmal um.

»Und dann?« wiederholte er.

Clarencé aber schüttelte, von Zweifeln erfüllt, den Kopf.

»Ich weiß es nicht,« sagte er. »Ich besitze keine sibyllinischen Bücher. Ich hoffe nur, daß, wenn das Übel einmal aufgedeckt ist, auch nach einem Gegenmittel geforscht werden kann. Männer meines Alters freilich werden es nicht finden. Euch, die ihr nach uns kommt, wird die Aufgabe des Suchens zufallen.«


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