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Achtes Kapitel.

Clarence an Claudine Bréant.

Prône, den 16. Juni.

Geliebte Freundin!

Endlich ist Laurier bei seiner Mutter, einer brauen alten Frau, untergebracht. Viel Verständnis für den Zustand ihres Sohnes wird sie wohl nicht haben, aber wer weiß, ob nicht gerade sie in ihrer schlichten Einfalt einen wohltuenden Einfluß auf sein Gemüt ausübt. Das ist noch meine letzte Hoffnung, denn unser armer Freund befindet sich in einem weit schlimmeren Zustand, als wir glaubten. Ich gewann diesen Eindruck auf der Reise, die recht beschwerlich war, so beschwerlich, daß ich nicht umhin konnte, einen leisen Seufzer der Erleichterung auszustoßen, als ich mich von dem Unglücklichen verabschiedet hatte. Mehr möchte ich Dir heute lieber nicht von ihm erzählen, sondern versuchen, die traurigen Erinnerungen möglichst aus meinem Gedächtnis zu bannen.

Von Saint-Tandre aus fuhr ich mit der noch immer existierenden alten Postkutsche hieher. Es ist ein länglicher, schmutziggelber Rumpelkasten, ohne Federn und mit entsetzlich harten Sitzen, Der Postillon trägt auch durchaus keine malerische Uniform, sondern die gewöhnliche graue Bluse der Fuhrleute; nur die mit einer roten Borte eingefaßte Mütze verrät seine Würde als Staatsangestellter. Wie oft blieb ich als Kind am Straßenrand stehen, um diesem altmodischen Verkehrsmittel nachzublicken, das der Fortschritt noch nicht durch etwas Neues ersetzt hat, das aber eine im Bau befindliche Eisenbahn demnächst unter den alten Plunder verbannen wird. Für mich war die alte Postkutsche damals ein Bote aus jenen fernen, märchenhaften Landen, nach denen sich mein kindliches Herz sehnte, und die ich mir so ganz anders dachte, als das kleine Stückchen Erde, das ich täglich vor Augen hatte. Seither habe ich allerlei gesehen, fremde Länder, Städte, Meere und Flüsse, auch die Menschen habe ich beobachtet, und dabei ist es mir manchmal gegangen wie einem Schauspieler, der, ohne selbst eine Rolle zu haben, ein Theaterstück von den Kulissen aus betrachtet. Ihm sind die Fehler und Schwächen der Schauspieler nicht verborgen, er kennt ihre Kniffe und Intrigen, all den jämmerlichen Trug und Schein, der sie umgibt. Er hört den Souffleur, der sich in seinem Kasten den Schweiß von der Stirne wischt, sowie die Flüche des unzufriedenen Direktors, auch weiß er, daß der Verfasser des Stücks allabendlich kommt, um sich nach der Einnahme zu erkundigen. Ist es da zu verwundern, daß er dem Stücke mit weniger Illusionen und weniger Vergnügen folgt als der harmlose Zuschauer im Parkett? In einem ähnlichen Falle befinde auch ich mich. Denn gar zu viel haben mich die Menschen schon hinter die Kulissen sehen lassen. Ich habe die Kehrseite ihres trügerischen Äußeren, ihre Ränke und Kniffe allzu genau beobachtet, und mit den Illusionen ist auch die Belustigung verschwunden.

Das ungefähr waren meine Gedanken, während ich im Postwagen hin und her geschüttelt wurde. Mit ihnen tauchte auch eben jenes wissensdurstige Kerlchen vor mir auf, das einst von sehnsüchtigen Wünschen erfüllt am Straßenrand stand und der alten Postkutsche nachschaute, in die er für sein Leben gern hineingeklettert wäre, um sich ein Stückchen von der großen, weiten Welt anzuschauen. Deutlich sehe ich den kleinen Burschen vor mir in seiner blauen Bluse mit den in derben Schuhen steckenden bloßen Füßen und dem für einen Bauernjungen allzu blassen Gesicht. Mir war es plötzlich, als setze der kleine Mann sich neben mich, wobei seine kindlichen Züge einen seltsam altklugen Ausdruck annahmen. Folgendes Zwiegespräch entspann sich nun zwischen uns.

»Na, sprich, mein Junge, was ist aus all dem Sehnen und Wünschen geworden, dem du einst auf dieser Landstraße nachhingst?«

»Es ist mir entschwunden.«

»Alles?«

»Ja, ich glaube.«

»Ist wirklich gar keiner von den Wünschen übrig geblieben?«

»Nur der eine, diese Gegend wiederzusehen, und bald wird ja auch der erfüllt sein.«

»Das klingt ja, als ob du dich über diese Erfüllung beklagtest. Das ist recht undankbar gegen das Schicksal. Vergleiche dich doch mit deinen Kameraden, die dich einstens durchprügelten, wenn du deine Aufgabe allzugut gelernt hattest, Sie waren von denselben Wünschen erfüllt wie du, auch sie hatten gerne die Welt gesehen, und doch haben sie hinter der hohen, finstern Mauer des Jura ausharren müssen, wo ihre Tage einförmig dahinflössen. Wahrscheinlich werden sie. dich auch jetzt noch ebensosehr beneiden wie damals, als du den ersten Platz in deiner Klasse gepachtet zu haben schienst. Hoffentlich aber strafst du die Dummköpfe mit der gleichen Verachtung wie damals.«

»Ob sie mich beneiden, weiß ich nicht. Das aber weiß ich, daß ich weit davon entfernt bin, sie zu verachten, denn wahrscheinlich haben sie in ihrer Einfalt manches gelernt, was nur fremd ist. Bin ich denn darum besser als sie, weil ich mehr in der Welt herumgekommen bin, mehr gesehen, mehr erlebt habe?«

»Deine Worte beweisen wenigstens, daß du den Rat des Schulmeisters befolgt und deinen Geist erweitert hast.«

»Was hilft mir das? Wird das Herz dadurch besser?«

»Du hast deinen Geist aufs glänzendste bereichert.«

»Vielleicht, aber womit?«

»Mit Gedanken, Empfindungen, Kenntnissen, kurz mit allem, was einen Mann erst zum echten Manne und zu einem würdigen, führenden Mitglied der menschlichen Gesellschaft macht.«

»Habe ich dadurch mehr Gutes gewirkt als andre?«

»Gutes wirken? Was für ein kleinliches Streben! War das denn dein Zweck, als du in die Welt hinauszogst?«

»Jedenfalls bereue ich jetzt bei meiner Rückkehr, daß ich dieses Streben nicht früher gekannt habe.«

So sprach der kleine Kerl an meiner Seite, und bei den letzten Worten wuchs er plötzlich empor und glich mir so sehr, daß ich ihn nicht mehr von mir selbst unterscheiden konnte: zugleich wurde mir auch klar, daß es in der überfüllten Postkutsche recht ungemütlich wurde. Ich versuchte, mich nun dadurch, zu zerstreuen, daß ich meine Blicke der Gegend zuwandte, allein der Rücken des Postillons und der Hut eines Geistlichen verhinderten mich daran, einen rechten Eindruck von all dem Schönen um mich her zu gewinnen. Trotzdem konnte ich hie und da ein Stückchen von den hinter uns liegenden Alpen oder von der dunkeln Jurakette vor uns entdecken. Zu beiden Seiten der Straße prangten blühende Hecken, wogende Kornfelder und duftig grüne Bäume. Der ganze Zauber des in den Sommer übergehenden Frühlings lag über der lachenden, von Jugendfreude, Sonnenglanz und Blumenduft berauschten Erde ausgebreitet.

Mein Bruder holte mich in seinem Sonntagsanzug am Halteplatz des Postwagens ab. So lange hatte ich ihn nicht gesehen, daß ich ihn kaum wiedererkannte. Er ist ein kräftiger, stämmiger Mann mit sonnverbranntem, bärtigem Gesicht und großen, schwieligen, braunen Händen. Aber obwohl ich neben ihm fast verschwinde, so besteht dennoch eine gewisse Ähnlichkeit zwischen uns. Jawohl, ich erkannte sofort meine Züge in den seinigen wieder und sagte zu mir selbst: »So hättest du auch aussehen können, wenn – wenn – Ach, wie viele Wenn trennen mich von diesen muskulösen Armen, von diesem Stiernacken und dem schlichten, beschränkten Ausdruck dieser Züge! Und wer weiß, ob er, während er meine weiße Haut, meinen eleganten Reiseanzug und meine Handschuhe musterte, sich nicht ebenfalls die Frage stellte: »So hätte ich auch werden können, wenn –« Aber wir beide sind nun eben einmal so, wie wir sind, und so betrachteten wir uns gegenseitig voll Verwunderung.

Ich hatte die Absicht, im Hotel abzusteigen, dessen Küche sich nebenbei eines berechtigten Rufes erfreut, allein es war unmöglich. Schon beim ersten darauf bezüglichen Wort nahm Moritz' Gesicht den Ausdruck beleidigter Würde an, der jede weitere Erörterung abschnitt, ja, ich mußte mich sogar noch entschuldigen.

»Ich fürchtete, euch lästig zu fallen, denn das Haus ist doch nicht sehr groß, und ihr seid eine zahlreiche Familie.«

»Was schadet das. Man kann sich immer einrichten.« Damit war die Sache abgetan.

Nun machte mein Bruder, der niemals ein überflüssiges Wort spricht, einem hinter uns stehenden Burschen, einem meiner Neffen, ein Zeichen, mein Gepäck zu nehmen, und führte mich dann in seine Wohnung, das heißt in das väterliche Haus, wo ich das Licht der Welt erblickt, wo meine Eltern und Großeltern geboren und gestorben sind, in die Heimat, die auch die meinige hätte bleiben, wo ich hätte leben und sterben können, wenn – da ist schon wieder ein Wenn, meine geliebte Freundin. Mein Gott, wie sie mich umschwirren, diese unzähligen Wenn!

Haus und Garten waren noch immer die alten, nur den großen Birnbaum am Eingang zum Weinberg, der immer so herrliche Früchte trug, vermißte ich – er ist tot. Die andern Bäume schienen mir seit meinem letzten Besuche kaum gewachsen zu sein. Was sind auch zwanzig Jahre im langsamen, engbegrenzten Leben heranwachsender Bäume. Einen um den andern betrachtete ich, und fast jeder weckte irgend eine Erinnerung in mir, vor allem der alte Nußbaum. Wie oft bin ich auf den untersten Ast dieses mächtigen Baumes geklettert, um in seinem kühlen Schatten meine lateinischen Vokabeln zu lernen.

Meine Schwägerin, die ich zum ersten Male sah, erwartete mich mit ihren beiden Töchterchen auf der Schwelle des Hauses. Sie ist groß und hager, hat ein scharfes, energisches Profil und eine graugelbe Hautfarbe, Mit feierlicher Miene führte sie mich ins Haus, wo noch alles unverändert am alten Platze steht. In der Küche dieselben derben Rohrstühle, unter dem gewaltigen Kamin, wo die Schinken geräuchert werden, dieselben Töpfe. Eine Verwandlung hatte nur die sogenannte gute Stube erfahren, das heißt der Raum, wo bevorzugte Gäste empfangen werden, und wo sich die Familie niemals ohne zwingenden Grund aufhält. Ihr sieht man das bescheidene, wenn auch nicht recht geglückte Streben nach Eleganz an. Sie allein mit ihrer modernen Tapete, mit den neu überzogenen Möbeln und den Bildnissen von Carnot und Felix Faure, die an Stelle Napoleons des Dritten und der Kaiserin getreten sind, legen Zeugnis ab von dem Fortschritt des Jahrhunderts.

Noch vieles hätte ich Dir zu erzählen, teure Freundin. Von mir selbst aber und von meinen Gefühlen für Dich will ich lieber nicht sprechen, denn Neues könnte ich Dir ja doch nicht berichten. Nur so viel, daß ich Dein bin auf immer.

Claudine an Clarencé.

... Du fürchtest, mir schon Gesagtes zu wiederholen, teurer Freund. Glaubst Du wirklich, daß ich solche Dinge weniger gern höre, als etwas andres? Denkst Du am Ende gar, Du müssest mich mit interessanten Neuigkeiten traktieren wie Deine schönen Leserinnen? Bedenke doch stets, daß ich nichts weiter bin als ein Weib, das Dich über alles liebt und das nichts von Dir verlangt, als daß Du ihr Deine liebevolle Gesinnung bewahrst. Wage Deine Worte nicht ängstlich ab, suche nicht nach schönen Bildern und Ausdrucken, sondern sage mir nur das, wozu Dich Dein Herz drängt: erzähle mir, womit Du Deine Tage ausfüllst, und vor allem vertraue mir Deine Gedanken und Empfindungen an.

Der Schluß Deines Briefes beunruhigt mich, denn er bestärkt mich in einer Sorge, die mich in letzter Zeit häufig, wenn auch bis jetzt nur flüchtig, heimgesucht hat. Ich kann sie nicht näher bezeichnen oder erklären, sie äußert sich in einem unklaren Angstgefühl vor etwas Neuem, Fremdem. Was aber ist dieses Fremde? Ich weiß es nicht, und doch graut mir davor. Das eine nur ist mir klar, daß es trennend zwischen uns steht, gleich einem unsichtbaren Feind, gegen den man machtlos ist, weil man ihn nicht ergreifen kann. O glaube mir, das ist ein qualvoller Zustand für diejenige, die Dir ihre ganze Liebe, ihr ganzes Sein und Wesen rückhaltlos zu eigen gegeben hat. Und wenn ich Deine Erzählungen lese von der alten Postkutsche, von Deinen Kindheitseindrücken und von dem Vaterhause, das Du mit fast frommer Rührung wieder betrittst, nachdem Du ihm so lange gleichgültig ferngeblieben warst, so ist es mir, als bereuest Du Deine Laufbahn und als schauest Du voll Geringschätzung auf den Teil Deines Lebens zurück, der mit mir verknüpft ist. Zwischen Deinen Zeilen, ja selbst in Deinem Bestreben, mir einen schönen, wohlgeordneten Brief, den man veröffentlichen könnte, zu schreiben, fühle ich eine Sehnsucht, ein Heimweh heraus, das Dich quält, mit dem aber meine Person nichts zu tun hat. Und das macht mich namenlos traurig. Wirst Du mir antworten, daß auch ich jetzt an grundlosen Einbildungen leide? Und wenn Du dies tust, werde ich Dir glauben können?

Du siehst, mein Freund, diesmal bin ich es, die Dir etwas Neues mitteilt, denn Zweifel, Mißtrauen und Vorwürfe sind in der Tat etwas Neues zwischen uns beiden. Ich hatte mir zwar fest vorgenommen, meine Empfindungen für mich zu behalten, aus Angst, Dich damit zu kränken, allein es war mir unmöglich. Du machst Dir keinen Begriff, wie schwer Deine Abwesenheit diesmal auf mir lastet. Wie kommt das nur? Wir waren doch schon mehr als einmal voneinander getrennt. Aber damals fühlte ich mich eben zu jeder Stunde von Deinen Gedanken umgeben, nichts stand zwischen uns als eine kleine örtliche Entfernung (was übrigens auch schon immer zu viel ist) und jeden Augenblick konnten wir sie aufheben. Heute aber erscheint mir diese Entfernung größer, unüberbrückbarer als bisher. Ich bin nicht sicher, Dich nach Deiner Rückkehr so wiederzufinden, wie Du mich verlassen hast. In weite Ferne scheinst Du mir entrückt, und wer weiß, ob nicht jeder Tag Dich mir noch mehr entfremdet? Wieder und wieder habe ich Deinen Brief gelesen und nach einem beruhigenden Worte gesucht, aber vergebens. – Doch genug davon. Du siehst, auch ich kann von trüben Gedanken verfolgt werden, aber ich will mir alle Mühe geben, sie bis zu Deinem nächsten Briefe aus meinem Herzen zu verbannen, vielleicht daß dieser mir dann bessere Kunde bringt.

Teurer Freund, liebst Du mich denn wirklich noch?

Clarencé an Claudine Bréant.

Muß ich Deine letzte Frage beantworten? Bedarf es dessen wirklich? Ist unsre Liebe denn nicht ein geheiligter Zufluchtsort, in den die nicht mit ihr zusammenhangenden Gedanken und Sorgen des Lebens weder eindringen dürfen, noch können? Die Stürme, die auch unsre Liebe durchzumachen hatte, gehören der Vergangenheit an, unbedingtes, gegenseitiges Vertrauen hat sie allmählich beruhigt. O laß das Deinige doch jetzt nicht wankend werden! Du bist eine etwas eifersüchtig angelegte Natur, Claudine. War denn nicht gerade Deine, wie Du weißt, stets ungerechtfertigte Eifersucht die einzige Veranlassung zu den wenigen Mißhelligkeiten in unserm Zusammenleben? O, gib solchen Empfindungen jetzt keinen Raum, gönne mir dieses erneute Durchleben meiner bescheidenen Kinderzeit, das mich um mehr als ein Vierteljahrhundert verjüngt? Du selbst hast es mir ja als Heilmittel empfohlen. Und sind solche Jugenderinnerungen nicht eben die Quelle, aus der unser Innenleben seine Nahrung schöpft? Glaubst Du, daß ich der Liebe, wie ich sie für Dich empfinde, fähig gewesen wäre, wenn meine fernste Vergangenheit mich nicht eben zu dem gemacht hätte, was ich bin? Weißt Du noch, wie Du eines Tages zu mir sagtest, daß Du mich nicht hättest lieben können, wenn ich heiteren, leichten Sinnes gewesen wäre? Das waren Worte, die Dir und Deinem liebreichen Herzen so recht ähnlich sehen. Und weißt Du auch, was mich zu dem ernsten Grübler gemacht hat? In erster Linie diese Gegend, die ich in der langen Zeit der Abwesenheit fast vergessen hatte, deren heimliche, aber tiefe Einwirkung ich jetzt erst so recht begreife.

Ja, ich bin wohl der echte Sohn dieses Landes, dessen melancholischer Charakter meinem ganzen Leben seine Färbung gegeben hat. Ein Zug unbeschreiblicher Schwermut liegt auf dieser Gegend, die Du leider nicht kennst. Hinter den Hügeln, an die sich unser Häuschen anschmiegt, zieht sich die lange, massige Kette des Jura hin mit ihren schwarzen, tannenbewachsenen Abhängen und ihren hohen, kahlen Felsengipfeln. Mir erschien dieser finstere, schwarze Jura immer wie die Mauer eines Gefängnisses, denn sie trennte mich von der weiten Welt, deren Geheimnisse zu ergründen meine Seele ein glühendes Verlangen trug. War es da zu verwundern, daß ich ihr um ihrer düstern, schroffen Höhe willen grollte?

Zu Füßen dieses finstern Gesellen dehnt sich aber dann eine freundliche, belebte Ebene aus. Halb unter Bäumen versteckt, oder an sonnigen Abhängen lachen uns liebliche Dörfer mit ihren Kirchtürmen entgegen. Die goldene Pracht der Kornfelder wechselt mit Weinbergen ab, deren Reben sich auf kahlem Boden hinranken. Rauchende Schlote erheben sich an den Ufern der Rhône, die sich zwischen steilen Ufern hinwindet und sich mit kleinen Nebenflüssen vereinigt, deren Lauf durch lange Reihen von Weiden oder Pappeln verraten wird. Im Grunde aber hat auch dieses Landschaftsbild, ebenso wie der Jura, etwas Hartes, Strenges, Schwermütiges an sich, mit dem Unterschied nur, daß es diesen ernsten Charakter eher einmal ablegen und in strahlender, unvermuteter Heiterkeit aufleuchten kann. An einem hellen Tage, wenn hinter der niedrigen, dunkeln Kette des Saléve die Alpen ihre Häupter entblößen, wenn der Montblanc zum Vorschein kommt, dann strahlt die plötzlich wie verwandelte Gegend in den leuchtendsten, purpurnen und violetten Farben. Bis in die düstersten Straßen eines ärmlichen Städtchens, bis in die Tiefe eines betrübten Herzens hinein dringt nun das siegreiche Licht, und mit erheitertem Gemüte betrachtet das Auge die Schönheit der Natur.

Plötzlich aber steigen Wolken auf, und verschwunden ist das zauberhafte Blendwerk; nur ein tiefes, schmerzliches Bedauern bleibt zurück und die Sehnsucht, jenes herrliche Naturspiel von Licht und Glanz noch einmal zu durchleben. Aber der Wunsch bleibt unerfüllt, der Herbst bricht an, trübe Regentage folgen, Nebel kriechen an den Bergen hin und hüllen die Landschaft in schwermütige Trauer.

Diesmal wirst Du nun hoffentlich nicht wieder sagen, daß ich Dich mit effekthaschenden Naturbeschreibungen traktiere. Du mußt es ja fühlen, wie meine Worte der Ausdruck meines eigensten Wesens, meiner innersten Empfindungen sind. Denn ich wiederhole es Dir, meine geliebte Freundin, ich bin der echte Sohn dieser Landschaft. Wohl kennt auch mein Gemüt Augenblicke, wo die Sonne herrscht und Licht und Freude verbreitet; erlischt sie aber, so bleibt nur schmerzliches Wünschen und Sehnen nach ihrer heitern Lebenslust in mir zurück. Meine Begegnung mit Dir war solch ein heller Sonnenstrahl für mich. Zu dieser Stunde freilich, ich gestehe es Dir offen, da steigen Wolken auf und verdüstern sein Licht, aber wenn auch verhüllt, ist die Sonne deshalb doch nicht verschwunden. Dich selbst trifft ja keine Schuld, ich kann nur sagen und bitten: verzeihe mir und habe Geduld.

Und nun laß mich wieder zu meiner Kinderzeit zurückkehren. Ich war ein träumerischer, empfindsamer Knabe, und diese ernsten Naturschauspiele verfehlten nicht, ohne daß ich mir darüber Rechenschaft zu geben vermocht hätte, ihren Einfluß auf meine weiche Seele auszuüben. Viel später erst klärte mich ein kleines Gedicht Heines, das Du sicherlich auch kennst, über meine Empfindungen auf. Ich war der einsame Fichtenbaum, der unter nordischem Himmel von Morgenland, Sonne und von einer Palme träumt. – Eine traurige, unsern Familienkreis betreffende Begebenheit trug vollends dazu bei, mich zu dem zu machen, der ich bin. Ein Schlaganfall warf meine Mutter noch während meiner Kindheit aufs Krankenlager. Langsam siechte sie dahin, und ich pflegte sie.

Ach, wie viele teure Erinnerungen knüpfen mich an sie! Deutlich, als habe ich ihr Bild vor Augen, steht sie vor mir in ihrem grauen Kleide, ihrer Mütze, wie die Bäurinnen sie hier tragen, und in ihrem braunen, gestrickten Umschlagtuche. Ich sehe den schmerzlichen Ausdruck ihrer Züge, die großen, nachdenklichen Augen und die arme gelähmte, geschwollene linke Hand, Und was für gute Freunde wir waren! Lief ich einem Schmetterling nach, so folgte ihr Blick jeder meiner Bewegungen, und brachte ich das gefangene Tierchen triumphierend zu ihr hin, so bewunderten wir wohl miteinander den samtartigen Schimmer der goldenen Flügel, dann aber sagte meine Mutter: »Nun mußt du ihm seine Freiheit wiedergeben.« Gehorsam ließ ich ihn los, und taumelnd schwang er sich in die Luft.

Häufig aber lief ich nicht davon, sondern saß still und unbeweglich neben meiner Mutter. Dann legte sie wohl ihre rechte Hand, die sie allein noch zu bewegen vermochte, sanft auf meine Haare, und etwas von der tiefen Zärtlichkeit, die sie für mich empfand, strömte auf mich über. Manchmal auch weinte sie still vor sich hin. Fragte ich sie dann nach dem Grunde, so antwortete sie: »Ich weiß es nicht,« und auch meine Augen wurden feucht wie die ihrigen.

Wie hätte in solcher Umgebung ein heiteres, sorgloses Wesen sich in mir entfalten können? Mag uns auch das spätere Leben noch so viel Schönes und Herrliches bringen, nichts ist im stande, die ersten Kindheitseindrücke zu verwischen.

Du siehst es nun, teure Freundin, ich bin der Sohn einer melancholischen Landschaft und einer kranken Mutter. Ist es da zu verwundern, daß ich kein fröhliches Gemüt habe? Du aber sagst ja, daß Du mich gerade deshalb habest liebgewinnen müssen. Voll Dankbarkeit denke ich an all das, was Du während der letzten zehn Jahre für mich gewesen bist, was ich an Kraft, Energie und Lebensmut aus Dir geschöpft habe. Wieder und wieder lese ich Deinen Brief, der mich beunruhigt. Sollte ich Dich am Ende in den trüben Kreislauf meiner Gedanken hineingezogen, Dich mit meiner Schwermut angesteckt haben? O Claudine, scheuche sie von Dir, räume ihr keinen Platz in Deinem Herzen ein! Wenn ich auch manchmal von Hamlets finsterem Geiste gequält werde, so glaube mir, daß ich wie er mit voller Wahrheit zu Dir sagen kann: »Zweifle an der ganzen Welt, am Leben, an Gott, aber niemals an meinem Herzen, das nur Dir gehört.«

P.S. Hast Du etwas von Jeanne gehört? Du versprachst mir doch, nach ihr zu sehen. Sie muß in großer Sorge sein; ich bitte Dich, nimm Dich ihrer ein wenig an.

Claudine an Clarencé

Mein geliebter Hamlet!

Hätte Ophelia mein Alter und meine Erfahrung gehabt, so würde sie Dir wohl folgendermaßen geantwortet haben: »Wenn man glauben soll, mein lieber Prinz, so muß man rückhaltlos glauben können, um an die Liebe zu glauben, muß man an die Sonne glauben, und wenn Ihr mir sagt, daß ich an allem zweifeln dürfe, nur nicht an Eurer Liebe, ach, so fühle ich mich leider versucht, gerade an ihr zu allererst zu zweifeln.«

Die Geschichte lehrt, daß Ophelia zu einer solchen Antwort wohl berechtigt gewesen wäre.

Um aber auf uns zurückzukommen, glaubst Du wirklich, daß unsre Liebe ein Zufluchtsort sein könnte, wo andre Gedanken nicht einzudringen vermögen? Gibt es überhaupt in unserm Innern solche geweihte Stätten? Jedenfalls scheint mir die unsrige, wenn sie überhaupt vorhanden ist, seit einiger Zeit von allerlei häßlichen Schmarotzerpflanzen überwuchert, so etwa wie ein verödeter Tempel. Du widersprichst mir – nun denn, so höre mich an.

Wir beide waren doch stets der Ansicht, daß wir das Recht hätten, uns zu lieben, ohne uns gegen irgend jemand darüber verantworten zu müssen. Wir haben die gesetzlichen Formen verschmäht, ohne uns um das Urteil der Welt und um das Morgen zu kümmern. Als stolze, unabhängige Wesen, die kein Joch auf sich dulden, haben wir gehandelt. Ich behaupte noch heute, daß wir recht daran getan haben. Wie denkst Du darüber? Das ist jetzt die Frage, die mich fortgesetzt beschäftigt. Wenn Du meine Grillen, wie Du sie nennst, verscheuchen willst, so antworte mir frei und offen. Aber verstehe mich wohl: ich glaube ja gewiß nicht, daß Du mich verlassen willst, o nein, ich zweifle weder an der Treue Deiner Gefühle, die Dich an mich fesseln, noch an der Aufrichtigkeit Deines Wortes, dessen Wert ich wohl zu schätzen weiß. Aber ich sehe Dich einen Weg betreten, auf dem ich Dir nicht zu folgen vermag. Ich sehe, wie Du bis zur Krankhaftigkeit von Fragen und Bedenken gequält wirst, für die mir das Verständnis abgeht, und die Du versucht bist, in einem Sinne zu lösen, der unsern bisherigen gemeinsamen Begriffen geradezu zuwiderläuft. Worin liegt nun der Grund dieser vollständigen Umwandlung?

Und doch, wie viele würden sich an Deiner Stelle glücklich preisen! Daß Du es nicht bist, das eben quält und schmerzt mich vor allem, denn mein Leben gäbe ich freudig hin, könnte ich Dich dadurch erheitern. Ich bin zu jedem Opfer bereit, um Dir die unsichtbare Last, die Dich niederdrückt, zu erleichtern; selbst Dir entsagen wollte ich willig, wüßte ich, daß Du ohne mich glücklicher wärest. Unaufhörlich sind meine Gedanken bei Dir, ich leide darunter, Dich nicht bei mir zu haben, ich sehne mich nach Deiner Nähe, möchte Dich zurückrufen. Dabei fürchte ich mich vor dem, was in Dir vorgeht, während Du fern von mir bist, ich fürchte mich vor dem Kummer, der Dich quält, und vor den Erinnerungen, die Du heraufbeschwörst. Wohl war ich es, die Dir diese Kur verordnet hat, nun aber bereue ich sie, denn nur zu gern bist Du meinem Rate gefolgt. Ach, wenn Deine Vergangenheit, Deine Erinnerungen Dich mir raubten! Schon sprechen Deine Briefe nicht mehr von »uns«, sie sind voller Eindrücke, die wir nicht gemeinschaftlich erlebt haben, voller Gefühle, denen ich fernstehe. Wenn Du hier bist, verscheucht ein Wort, ein Kuß alle Mißverständnisse – nun aber bist Du so weit, ach so weit! Und Deine Briefe vergrößern nur die Entfernung, anstatt sie aufzuheben. Sie enthalten Sätze, die in einer mir fremden Sprache geschrieben zu sein scheinen – in einer Sprache, in der wir nie miteinander gesprochen haben. Glaube mir, wenn ich der warnenden Stimme in meinem Innern gehorchen wollte, so würde ich Dich jetzt anflehen, ohne Aufschub zu mir zurückzukommen. Aber beruhige Dich, ich höre nicht auf sie, ich will nicht, daß Du mich für launisch und wankelmütig hältst. Bleibe also fern, so lange Du es für gut findest. Kehrst du dann aber zu mir zurück, so komm als der Freund wieder, dem ich mein Herz geschenkt habe, und der sich selbst und seinen Ansichten treu geblieben ist. Bis dahin aber vertraue mir frei und offen alles an, was Dich bewegt.

Fast hätte ich Dein Postskriptum vergessen. Nein, ich habe Frau Laurier noch nicht wiedergesehen. Ich kann mir aber auch gar nicht denken, was ich ihr sagen sollte. Du weißt es ja, mein ganzes Mitleid wendet sich dem Manne zu, der um seiner Liebe willen leidet. Sie kennt ja die Liebe nicht! Daß sie ein gutmütiges Frauchen, auch eine gute Mutter und sorgsame Gattin ist, das will ich gerne zugeben. Aber ich kann mir nicht helfen, ich habe nun einmal kein Verständnis für solch passive Naturen, und ich bin fest davon überzeugt, das entsetzliche Ereignis hat ihr mehr Unannehmlichkeit als persönlichen Kummer gebracht. Zudem glaube ich, daß sie nicht viel Sympathie für mich empfindet. Mir ist es immer, als betrachte sie mich mit einer gewissen – fast verletzenden Neugierde. Nein, nein, sie verlangt nicht nach meinem Troste. Trotzdem werde ich sie demnächst besuchen, wenn Dir etwas daran liegt. Kenne ich doch nichts Lieberes, als Deine Wünsche zu erfüllen.

Clarencé an Claudine.

Wie töricht und grundlos doch Deine Besorgnisse sind, teure Freundin! Ich bin auch jetzt Dir ebenso nahe, als in Paris, wo ich nur einige Schritte zu machen brauche, um an Deine Tür zu klopfen, und auch brieflich spreche ich ebenso offen mit Dir, als wenn ich bei Dir in Deinem kleinen Salon säße.

Noch habe ich Laurier nicht wiedergesehen, obwohl uns nur wenige Kilometer trennen. Ich rede mir selbstsüchtigerweise vor, daß, wenn er nicht zu mir kommt, er meiner auch nicht bedarf, und schließe daraus, daß sich sein Gemüt in der Stille seines Dorfes allmählich beruhigt. Vielleicht ist es eine Selbsttäuschung, jedenfalls verschiebe ich meinen Besuch, der diese Täuschung zerstören könnte, von einem Tag zum andern. Du siehst, daß ich Dir nach besten Kräften gehorche und so viel als möglich meiner »Kur« lebe. Was nun aber meine Erinnerungen anbelangt, so hast Du ihretwegen wirklich nichts zu befürchten. Wohl habe ich, und zwar mit tiefer Rührung, in dem Buche der Vergangenheit zu blättern begonnen, aber diese Rührung legt sich allmählich wieder. Wenn Du wüßtest, welche schroffe Scheidewand die lange Trennung von der Heimat zwischen mir und meiner ganzen Umgebung, meinen Verwandten, ihren Lebensanschauungen und ihrem Charakter aufgerichtet hat! Nicht das geringste geistige Band besteht noch zwischen mir und jenen Wesen, die doch demselben Stamm entsprossen sind. Ja, wir sind so verschieden wie zwei einander feindliche Tiergattungen, und wenn wir uns nicht gegenseitig zerfleischen, so kommt es nur daher, weil die in uns Menschen vorhandenen tierischen Triebe von der Zivilisation gemildert worden sind. Freude und Genuß kann ein Zusammenleben mit ihnen also weder mir noch ihnen bringen. Als Ersatz schließe ich mich um so inniger an das Land selbst an. Sein stiller, erhabener Ernst tut mir wohl, und ich glaube, wenn ich Dich hier bei mir hätte, so wäre ich vollkommen glücklich. Sollte das denn aber unmöglich sein? Du bittest mich, Dir alles zu sagen, was ich denke, nun so erfahre denn auch den Plan, oder vielmehr den schönen Traum, den ich mir neulich ausgedacht: Du verzichtest auf Paris, auf Deine Unabhängigkeit und auf einige Deiner Ansichten; wir beugen uns den allgemeinen Gesetzen, kaufen uns eine hübsche Besitzung auf einem Fleckchen Erde wie dieses hier, gründen eine Familie und erziehen unsre Kinder zu anspruchsloser Bescheidenheit, zu Tugend und Weisheit, Du übst Dein musikalisches Talent nur noch zum Vergnügen aus, und ich schreibe harmlose, unschädliche Werke. Mit dem beruhigenden Bewußtsein, niemand Ärgernis gegeben, sondern der Menschheit im Gegenteil eher genützt zu haben, könnten wir dann dem Alter entgegengehen. O wie schön wäre das!

Das Leben schreitet vorwärts, meine liebe Freundin, die Jahre fliehen. Überlege Dir meinen Vorschlag reiflich bis zu meiner Rückkehr und betrachte ihn ja nicht als eine vorübergehende Laune. Welch ein Glück, wenn Du dann zu jener Lösung gelangtest, die ich schon so lange herbeisehne!

Claudine an Clarencé.

... Nachdenken soll ich über den Vorschlag, den Du mir am Schluß Deines Briefes unterbreitest? Aber mein Freund, Du weißt es ja längst, wie ich über diesen Punkt denke. Ich habe meine Ansicht seither nicht geändert, werde es niemals tun, das bleibt ein für allemal gesagt. Sich dem allgemeinen Joche beugen, wenn man das Glück gehabt hat, es abzuschütteln. Gott soll mich davor bewahren! Bedenke doch, das hieße ja so viel, als zugeben, daß wir uns getäuscht haben. Die zehn durch ungetrübte gegenseitige Liebe verklärten Jahre, auf die ich so stolz bin, sie müßten ja dann in unsern eigenen Augen plötzlich als ein Irrtum, als ein Unrecht erscheinen, das wir durch eine gesetzmäßige Heirat wieder gut machen wollen. Könntest Du Dich wirklich zu einem solch demütigenden Geständnis herablassen? Ich für meinen Teil wäre es nicht im stande, dazu bin ich denn doch zu stolz. Dann erst würde ich mein Leben – unser Leben – für befleckt halten, dann würde ich vor mir selbst erröten. Die ganze Sache erscheint mir übrigens so klar, so selbstverständlich, daß ich nicht weiter darüber rechten mag, und hoffentlich wirst Du bei Deiner Rückkehr nicht wieder darauf zurückkommen.

Was nun Deinen Plan, unsern Wohnsitz auf dem Lande aufzuschlagen, anbetrifft, so weiß ich nicht, ob ich ihn wirklich ernsthaft nehmen soll. Womit würden wir dann aber unsre Tage ausfüllen? Du weißt, wie sehr eine ernsthafte Beschäftigung mir Lebensbedürfnis ist, und in die Rolle einer Gemüse und Blumen züchtenden Gärtnerin kann ich mich nicht hineindenken. Du selbst aber würdest ohne Deine Bücher, Dein Theater und Deine literarischen Aufregungen vor Langeweile zu Grunde gehen. Wohl will ich gern glauben, daß Deine augenblickliche Schwärmerei für ein Leben auf dem Lande von Herzen kommt, der Wunsch aber, für immer dort zu sein, ist eine Selbsttäuschung. Du bist scharfsichtig genug, um einzusehen, daß ich recht habe. Wenn ich mich aber trotzdem täuschte, wenn Dein Wunsch, Dich aus dem öffentlichen Leben zurückzuziehen, wirklich ernst wäre, wenn es nur einer Zustimmung zu Deinem Plane meinerseits bedürfte, um Dich glücklich zu machen, so weißt Du wohl, daß ich dazu bereit bin. Verlange von mir, Dir bis ans Ende der Welt zu folgen, und ich werde es tun. Fordere jedes Opfer – es gibt keines, das mir für Dich zu schwer dünken würde, nur das eine Opfer verlange nicht, das ich dir nicht bringen könnte, ohne mich vor mir selbst zu erniedrigen.

Wie langsam doch die Tage dahinschleichen! Findest Du es nicht auch?

Clarencé an Claudine.

... Als ich gestern in der Richtung der nach Gex führenden Landstraße auf einem Seitenpfade dahinschlenderte, traf ich plötzlich mit unserm unglücklichen Laurier zusammen, das heißt ich fand ihn, unbeweglich im Schatten eines Nußbaumes ausgestreckt, am Wegrande liegen; den Blick hielt er starr gen Himmel gerichtet. Ohne daß er mich bemerkte, blieb ich neben ihm stehen, und zweimal mußte ich ihn beim Namen rufen, um ihn aus seinem Dahinbrüten zu wecken. Endlich schien er zu erwachen, einen Augenblick sah er mich an, dann sagte er: »Ah, du bist es!«

Seine Stimme hatte ihren hellen Klang verloren, und noch lange wird mich der seltsame Ton verfolgen, mit dem er die Worte sprach: »Ah, du bist es!«

Nun stand er auf, besann sich und fuhr dann fort: »Ja, richtig, du bist bei deinem Bruder – bei deinem Bruder Moritz – in Prône, nicht wahr?«

»Gewiß, du weißt doch, wir sind ja zusammen hergekommen.«

»Ja, ja, ich erinnere mich.«

Er sah matt und angegriffen aus, die Augen waren starr, Bart und Haare ungepflegt. Obwohl ich meinen schmerzlichen Eindruck kaum zu verbergen vermochte, sagte ich trotzdem: »Du siehst besser aus. Sicherlich hat dir der Landaufenthalt schon gut getan.«

Den Kopf schüttelnd, faßte er nach der Stirne.

»Nein, nein, die Gedanken sind noch immer da – nichts vermag sie zu verscheuchen.«

»Du hast aber doch deine Mutter.«

»O ja, sie ist gut gegen mich – sehr gut. Aber sie versteht mich nicht – – immer wieder sagt sie: ›Du mußt wollen, du mußt gesund werden wollen, mußt handeln wollen!‹ – Ach, und ich kann es doch nicht.«

Lange blieb ich bei ihm, ich versuchte ihn zu zerstreuen, Kindheitserinnerungen in ihm zu erwecken und seine Gedanken auf die Natur zu lenken. Alles umsonst. Höchstens daß der Künstler hin und wieder in ihm aufblitzte, wenn ich ihn auf einen besondern Lichteffekt aufmerksam machte. So hoffte ich, vielleicht damit einen Anknüpfungspunkt gefunden zu haben.

»Wie wäre es, wenn du zu arbeiten versuchtest?« sagte ich, »es gibt ja schöne Motive in dieser Gegend.«

Mit verschleierten Augen schaute er um sich.

»Arbeiten?« wiederholte er, als suchte er nach dem Sinn eines fremden Wortes, »arbeiten? – Nein, nein, ich arbeite nicht. Ich muß mich ausruhen.«

»Das ist ja ganz gut, und du hattest die Ruhe auch sehr nötig, aber um einen Schmerz zu überwinden, ist Arbeit noch besser als Ruhe. Du solltest dich wirklich wieder daran machen.«

»Ich sollte – ja, ich sollte wohl – vielleicht, aber –« Eine müde Bewegung, die seine entsetzliche Geistesverwirrung deutlicher ausdrückte, als Worte es im stande gewesen wären, beschloß den Satz.

»Wenn du aber nicht einmal zu arbeiten versuchst, was tust du denn dann den ganzen Tag?«

»Du sahst es ja, ich lege mich nieder – schlafe – denke –«

Der Abend brach herein. Ermüdet kehrten die Bauern mit ihren Gerätschaften auf dem Rücken vom Felde heim, während ich meinen armen Freund bis in die Nähe seines Dorfes begleitete.

»Du darfst deiner Schwäche nicht so sehr nachgeben,« sagte ich beim Abschied zu ihm. »Zerstreue dich doch, besuche mich morgen in Prône. Nicht wahr, morgen?«

»Morgen? Nein, da kann ich nicht, ein andermal – nächste Woche.«

Schließlich willigte er ein, am nächsten Sonntag zu kommen. Ob er sich seines Versprechens wohl erinnern wird?

Auf dem Rückwege machte ich mir bittere Vorwürfe über meinen Optimismus, der mich so lange von dem Ärmsten ferngehalten hatte. Wie vieler Pflichten entledigt man sich auf diese Weise aus Feigheit, unter dem Vorwand, daß keine zwingende Notwendigkeit vorliege. Wie viel Gutes könnte man tun, wenn man seiner Trägheit nicht so häufig nachgäbe! Fast vergessen hatte ich den armen Menschen, mich fast über sein Ergehen beruhigt, während das Übel doch unaufhaltsam weitergeschritten war. Und nun sind auch in mir all die alten eingeschlummerten Gewissensbisse von neuem erwacht. Ich sehe sie wieder vor mir, die arme Céline, die mit meinem Buche in der Hand gestorben ist. Die ganze traurige Geschichte mit all ihren erwiesenen und möglichen Folgen steht wieder vor mir. Wie soll man sich von solch qualvollen Gedanken, wenn sie einmal Wurzel gefaßt haben, befreien? Vergebens frage ich es mich.

Mehrere Gruppen von Bauern, die schweigend und teilnahmlos für ihre Umgebung des Weges zogen, überholten mich. Beim Vorübergehen nahmen sie den Hut vor mir ab, einige wandten sich auch um und warfen mir einen neugierigen Blick zu. Wahrscheinlich dachten sie: »Das ist einer von den Reichen und Glücklichen, der braucht sich nicht anzustrengen.« Ich aber sagte mir wie schon oft, daß ihr einfaches Dasein mit seinen körperlichen Anstrengungen das einzig Richtige sei, denn sie allein befolgen im wahren Sinne des Wortes das ernste, wohlbegründete Gebot: Im Schweiße deines Angesichts sollst du dein Brot essen.

Aber wahrscheinlich wirst Du mir antworten, daß das nur leere Worte sind, denen Du nicht beistimmen kannst.

Claudine an Clarencé.

... Weißt Du auch, mein armer Freund, daß Du mir nicht mehr allzu weit von Lauriers fixer Idee entfernt zu sein scheinst? Dein sonst so klarer Geist umdüstert sich. Deutlich fühle ich aus Deinen Worten heraus, daß ein Kampf in Deinem Innern vor sich geht, der Dich noch tiefer erschüttert, als Du es mir eingestehst, und es ist hohe Zeit, daß ich ernstlich mit Dir darüber spreche. Denn nicht nur das Gleichgewicht Deines Geistes steht in Gefahr, sondern auch das Deiner Seele, und damit die Ruhe und der Frieden unsers Lebens. Lauriers Unglück ist zu einer bösen Stunde über Dich hereingebrochen, es hat eine Seelenkrisis in Dir zum Ausbruch gebracht, die sich schon lange vorbereitet haben muß, ohne daß wir beide etwas davon geahnt haben. Wohin wird sie Dich führen? Ich weiß es nicht, aber bebende Angst erfüllt mich, denn werde nicht ich dieser Verwandlung zum Opfer fallen müssen?

Nun ist es ausgesprochen, das Wort, das mir so schwer auf dem Herzen liegt, die Sorge, die auch bei mir zur fixen Idee zu werden droht. Diese Angst ist um so qualvoller, als ich weder an Deiner Rechtlichkeit, noch an Deinem Herzen zweifle. Und doch fühle ich, wie Du Dich mehr und mehr von dem Punkte entfernst, wo unsre Seelen sich zusammenfanden, und ich habe nicht die Macht, Dich zurückzuhalten. Du verlierst Dich in Regionen, wohin ich Dir nicht zu folgen vermag, wo es keinen Platz für mich gibt, wo ich vielleicht nur eine Last oder ein Hemmschuh für Dich bin.

O mein Freund, wenn ich Dich richtig durchschaut habe, so sage es mir. Uns verbindet ja keine unlösbare Kette. So wollen wir uns doch diese Freiheit zu nutze machen, auf die ich, wie Du weißt, so stolz bin! Wenn Du mir wirklich innerlich entfremdet bist, wenn Du mein Dasein als eine Last empfindest, wenn Du mich weniger liebst, so flehe ich Dich an, sage es mir ehrlich. Du bist frei. Ich verlange nur das eine, daß Du Dir selbst und Deinem wahren, offenen Charakter treu bleibst. Ein leiser Wink genügt, und ich verschwinde für immer von Deinem Lebenswege. Unaufhörlich grüble ich über die Frage nach, wo wohl Dein Glück fern von mir zu finden wäre, doch ich weiß es nicht. Dir aber wird es vielleicht gelingen, ein solches Glück zu finden – und wer weiß, ob es Dir nicht schon gelungen ist? Enthülle mir Deine innersten Gedanken, niemals soll ein Vorwurf Dich treffen, denn niemals werde ich etwas von Dir verlangen, was Du mir nicht aus eigenem Antriebe geben willst.

Bange Zweifel haben mich gequält, ob ich diesen Brief abschicken soll. Eine innere Stimme warnte mich davor, und doch muß es sein, denn haben wir je irgend ein Geheimnis voreinander gehabt? Der Brief geht also ab, und voll Ungeduld warte ich auf Deine Antwort.

Clarencé an Claudine.

... Du übertreibst das Übel, dessen Vorhandensein ich nicht ableugnen kann, vor allem aber verbindest Du damit eine persönliche Sorge, die durch nichts gerechtfertigt ist. Du bist und bleibst für mich, was Du mir immer warst, heute ebenso wie gestern: ein Leben ohne Dich ist für mich undenkbar. Nicht eine Stunde am Tage vergeht, ohne daß meine Gedanken bei Dir weilen. Fast schäme ich mich, Dir all das zu wiederholen, was Du doch längst wissen solltest. Wenn ich jetzt darauf zurückkomme, so geschieht es nur, um Deine schwarzen Gedanken zu verscheuchen. O, gönne ihnen keinen Raum in Deinem Herzen. Sie haben kein Recht, sich dort einzunisten.

Nicht wahr, nun sind sie verschwunden, und ohne ihre Rückkehr fürchten zu müssen, kann ich jetzt frei und offen über den Punkt in Deinem Briefe sprechen, der eine gewisse Wahrheit enthält? Ich will Dir nicht verheimlichen, daß Du eine Wunde berührt hast, die nicht von heute stammt, sondern nur durch die Ereignisse der letzten Zeit wieder aufgerissen und zum Bluten gebracht worden ist. Eigentlich wollte ich eine Aussprache darüber bis zu meiner Rückkehr aufschieben, Dein Brief aber veranlaßt mich, schon jetzt zu sprechen.

Unser Bündnis ist frei, sein Bestehen hängt einzig und allein von unserm Willen ab. Du rufst mir dieses Abkommen von neuem ins Gedächtnis zurück und findest darin Grund zu stolzer Genugtuung, Nun denn, bei mir ist das Gegenteil der Fall: es erfüllt mich mit tiefer Besorgnis. Du weißt, daß ich von jeher gewünscht habe, unser Verhältnis vor der Welt sanktioniert zu sehen, Du aber hast Dich meiner Bitte stets widersetzt. Heute nun ist dieser Wunsch mehr denn je in mir rege, weil ich die Überzeugung gewonnen habe, daß wir dem wichtigsten sozialen Gesetz zuwider handeln, demjenigen, das zwar unsre persönliche Freiheit einschränkt, dem wir uns aber um des Gemeinwohles und um des Beispiels willen fügen müssen.

Wir haben uns bis jetzt nur von unsern eigenen Ansichten leiten lassen und kühnen Mutes dem Urteil der Welt getrotzt. Lange Zeit war auch ich in dem Wahne befangen, wir seien im Rechte, nun aber glaube ich, daß wir einen großen Irrtum begangen haben. Ja, ich glaube es nicht nur, sondern ich bin fest davon überzeugt, weil mir mit den Jahren auch das Verständnis für die wohlbegründeten Forderungen, die das öffentliche Leben an uns stellt, aufgegangen ist, weil ich einsehen gelernt habe, daß unsre Gedanken und Handlungen von unberechenbaren Folgen für unsre Umgebung sein können, weil ich die Notwendigkeit anerkenne, unsre persönlichen Gefühle der allgemeinen Meinung, so unvollkommen sie uns auch erscheinen mag, unterzuordnen.

Du siehst, meine liebe Freundin, eine Wandlung ist allerdings mit mir vorgegangen. Warum aber sollte sie sich mit unserm Leben nicht vereinbaren lassen? Meine einzige Antwort auf Deinen Brief ist also die flehentliche Bitte an Dich, unsern Irrtum wieder gutzumachen, indem Du auch vor der Welt als diejenige erscheinst, die Du in Wirklichkeit schon seit zehn Jahren für mich bist. O weise sie nicht zurück, denn meine ganze Zukunft knüpft sich an die Erfüllung dieser Bitte. Du begreifst, daß ich nach dem, was vorgefallen ist, nun andern Zielen als bisher zustreben muß, das soll aber nicht heißen, daß ich meinen Beruf als Schriftsteller aufgeben werde. O nein, aufs Schreiben könnte ich ebensowenig verzichten, als der Baum auf seine Frucht und die Pflanze auf ihren Samen. Aber in anderm Sinne soll es geschehen. Und ich fühle deutlich, daß, wenn meine neue Tätigkeit fruchtbar werden soll, zwischen meinen Ideen und meinen Handlungen auch Einklang herrschen muß. Diese Einheit aber vermagst nur Du allein herzustellen. Dein Verstand wird sich wohl gegen meine Bitte auflehnen, aber ich kenne auch Dein Herz, und auf dessen Stimme mußt Du hören, dann werden die geringen Meinungsunterschiede, die heute zwischen uns stehen, von selbst verschwinden.

Claudine an Clarencé.

Mein lieber Freund!

Es wird wohl nicht anders gehen, als daß wir nach Deiner Rückkehr die betreffende Angelegenheit besprechen, da sie Dich in solch hohem Grade aufregt und beunruhigt. Aber ich bitte Dich inständig, laß sie wenigstens bis dahin ruhen. Denn Mißverständnisse verschärfen sich gewöhnlich im brieflichen Verkehr, und so bin ich auch überzeugt, daß jedes weitere Wort, das wir schriftlich über jenen Punkt verlieren, uns nur noch mehr voneinander entfernt. Bist Du erst wieder hier in meinem kleinen Salon, an Deinem gewohnten Platze, dann können wir unsre verschiedenen Beweisgründe gegeneinander abwägen, und ich glaube, daß sie uns dann beiderseits weniger schroff erscheinen als heute.

Jetzt aber will ich Dir zu Deiner Zerstreuung etwas vom Pariser Klatsch erzählen, denn Deine Gedanken drehen sich allzuviel um Dich selbst. Es wird Dir guttun, mein Freund, wenn Du ein wenig aus diesem Kreislauf heraustrittst und wir von Dingen sprechen, die uns nicht näher berühren ...

Clarencé an Claudine.

Gestern war ich bei Laurier, das heißt eigentlich sollte ich sagen bei seiner Mutter, denn der Unglückliche hat meine Gegenwart kaum beachtet, keine vier Worte konnte ich aus ihm herausbringen. Der Eindruck, den ich über seinen Zustand mit mir nahm, war so traurig, daß ich mich verpflichtet fühlte, Jeanne, deren Anwesenheit bald notwendig sein wird, etwas vorzubereiten. Ob sie jetzt schon von Nutzen wäre, weiß ich nicht. So viel Energie und Klugheit das arme Frauchen in diesem traurigen Falle auch bewiesen hat, dem unsichtbaren Feinde gegenüber, dessen Näherkommen man wohl fühlt, aber nicht zu bekämpfen vermag, könnte auch sie nur hilflos gegenüberstehen. Gegen Fieber, Typhus oder Schwindsucht gibt es doch wenigstens Mittel. Man kämpft gegen ein bestimmtes Leiden an, beschränkt es auf seinen Herd und hemmt das Fortschreiten. Was aber soll man gegen jene Verzehrung des Geistes machen, die sich aus Reue, Gewissensbissen, Verzweiflung und fixen Ideen zusammensetzt? Man ist umso machtloser dagegen, als der Kranke selbst zu jeglichem Widerstand unfähig zu sein scheint und sich willenlos seinem Leiden und der Sehnsucht nach dem Tode überläßt.

Lauriers alte Mutter, der ein solcher Zustand etwas vollständig Neues ist, beobachtet ihn mit dumpfer Angst, aber ohne Verständnis. Lange Zeit hatte sie den Sohn nicht wiedergesehen, trotzdem aber war sie stolz auf ihn, denn sie wußte ja, daß er es zu »etwas gebracht« hatte. Sie liebte ihn aus der Ferne, ohne Ansprüche an ihn zu erheben, ohne sich über seine Vernachlässigung ihrer Person zu wundern, denn auch ihre andern Kinder sind in die Welt hinausgezogen. So ging sie einsam dem Alter entgegen, zufrieden, die Ihrigen wenigstens gut versorgt zu wissen. Und nun ist der Einzige, der zu ihr zurückkehrt, nur noch ein elender Schatten seiner selbst. Wenn er über den Marktplatz des Dörfchens geht, so sehen sich die Männer auf der Terrasse des Wirtshauses verwundert an und sagen: »Wie, das ist Mutter Lauriers Sohn? Ei, ei!«

Übrigens läßt man es nicht bei dieser allgemeinen Bemerkung bewenden, sondern fragt die arme Frau mit jener grausamen Neugierde aus, die die Bauern füreinander an den Tag legen!

»Was fehlt denn Eurem Jungen! Er sieht ja ganz krank aus. Warum ist er überhaupt hier? Und warum hat seine Frau ihn nicht begleitet?«

Da allerlei unklare Gerüchte über Lauriers Leben bis hierher gedrungen sind, suchen die Leute der Sache durch arglistige Fragen auf den Grund zu kommen.

»Ist es wahr, daß die beiden sich scheiden lassen? Es hat wohl Verdruß zwischen den Gatten gegeben?«

Tapfer hält die gute Frau den Angriffen stand. Sie widerlegt, erklärt, verteidigt die traurige Tatsache und verbirgt nach besten Kräften ihren Kummer. Bei mir aber hat sie freilich etwas davon durchblicken lassen, weil sie weiß, daß ich von allem unterrichtet bin. Sie hat sogar verschiedene Fragen an mich gestellt, denn von ihrem Sohne erhält sie kaum eine Antwort. Auch schien sie nicht besser von der Sache unterrichtet zu sein, als die Klatschbasen des Dorfes.

»Es ist also eine wirkliche Krankheit, an der er leidet? Wie heißt man sie denn? Können die Ärzte wirklich gar nichts dagegen tun? – Und das alles wegen einer elenden Dirne? – Ein Mann, der es schon so weit gebracht hatte im Leben! Denn was den Geldpunkt anbelangt, da geht es ihm doch gut, nicht wahr? Von dieser Seile ist doch nichts zu befürchten?«

Ich habe sie beruhigt, ohne ihr indes zu verheimlichen, daß André von dem Ertrag seiner Arbeit lebe.

»Aber wie steht es denn mit seiner Frau, hatte die denn kein Geld?«

»Ihre Eltern haben ihr ganzes Vermögen verloren.«

»Es hieß aber doch immer, daß er mit seinen Bildern so viel Geld verdiene?«

»Ja, aber er brauchte auch viel.«

»Legte er denn nichts zurück?«

»Leider Gottes, nein.«

»Das ist aber unverantwortlich, wenn man Weib und Kind hat. Ich bin nur eine einfache Bäurin und verstehe nichts von solchen Geschichten, aber ich muß doch sagen: wie kann ein Mann so handeln!«

»Machen Sie ihm keine Vorwürfe. Vor allem muß er nun wieder gesund werden.«

»Freilich, aber wie? Manchmal, wenn ich nicht mehr an mich halten kann, dann predige ich ihm Vernunft, aber da ist's, als ob man einen toten Baum schüttle. Ein andermal koche ich ihm seine Lieblingsspeise, er aber merkt's nicht einmal, und wenn ich mit ihm spreche, bekomme ich meistens keine Antwort. – Du lieber Gott, was soll man da machen?«

»Ja, was soll man da machen?« war alles, was ich zu erwidern wußte.

Hier wurde ich von meinem Bruder unterbrochen, der in mein Zimmer hereinkam. Ich sah sofort, daß er mir etwas Besondres zu sagen hatte, und so legte ich meine Feder nieder. Und richtig, nach der gewohnten Einleitung über Regen und schönes Wetter, fragte er mich: »Ist es wahr, was man sagt?«

»Was denn?«

»Daß du gestern zu jenem Maler nach Saint-Tandre gegangen bist?« (Du siehst, keinen Schritt kann ich machen, ohne daß nicht jedermann es erfährt.)

»Ja, allerdings.«

»So kennst du ihn also?«

»Natürlich, wir waren ja zusammen auf dem Lyzeum in Besançon.«

»Ah so!« Nach einer Pause fuhr er fort: »Was ist denn mit ihm vorgegangen?«

»Ich glaube, er hat einen schweren Kummer durchzumachen gehabt.«

Neues Schweigen. Diese unklare Antwort befriedigte Moritz keineswegs. Da er jedoch sehr gut merkte, daß ich mich nicht weiter einlassen wollte, so suchte er nach einem Mittel, mich wider meinen Willen zum Sprechen zu bringen.

»Pah, Kummer!« brummte er. »Kummer! So etwas heißt ihr also Kummer?« Wieder schwieg er, um endlich heftig hervorzustoßen: »Man sagt nämlich, daß er Frau und Kind elendiglich habe sitzen lassen, um einem Frauenzimmer nachzulaufen, das ihn habe umbringen wollen.«

Meine erste Regung war, voll Empörung diese Entstellung der Tatsachen zu berichtigen, allein ich gab ihr nicht nach. Wozu auch? So begnügte ich mich, in kaltem Tone zu antworten: »Ganz so verhalt sich die Sache denn doch nicht.«

Herausfordernd, die Hände in den Hosentaschen vergraben, stellte sich mein Bruder vor mich hin.

»So, also anders ist die Sache. Nun wie denn?«

Wie hätte ich diesem Manne wohl Célines Liebesgeschichte erzählen sollen, ihm, der weder Verständnis für deren Tragik, noch für deren Poesie gehabt hätte. Ich machte auch gar keinen Versuch, sondern antwortete nur, daß ich nicht genau Bescheid wisse und auch lieber nicht über die Angelegenheit spreche. Er dachte einen Augenblick enttäuscht nach, strich seinen langen Bart und sagte: »Na, jedenfalls sind derartige Geschichten immer schmutzig.«

Daraufhin fing er an, seine Ansichten über das Familienleben und die Ehe preiszugeben, und schließlich über die Leute in Harnisch zu geraten, die immer »etwas Besondres« haben wollen. Seinem praktischen, materiellen Geiste ersetzte der Grundsatz »tun wie andre Leute« den kategorischen Imperativ des Philosophen. Dieser Grundsatz ist der Gipfelpunkt seiner Weisheit, die Basis seiner Moral, das entscheidende Gesetz, an dem nicht gerüttelt wird. Und wer weiß, ob mein Bruder, der derbe Bauer, sehr weit von der Wahrheit entfernt ist?

Als wir am Abend wie gewöhnlich vor dem Hause saßen, um frische Luft zu schöpfen, machte auch meine Schwägerin einen Versuch, etwas von mir über Lauriers eigentümliches Wesen zu erfahren. Sie tat es mit noch größerer Heftigkeit und mit der Grausamkeit jener Frauen, die sich keinen »Fehler« vorzuwerfen haben. Wie eine Furie ist sie über die arme kleine Unbekannte hergefallen, die ihrer Ansicht nach nichts andres sein kann als eine – eine – Sie schreckte vor keinem häßlichen Wort zurück, trotz der Anwesenheit ihrer beiden Töchterchen, die erstaunt die Augen aufrissen, während mein Bruder seiner Gattin voll Eifer zustimmte. Mir aber riß schließlich doch die Geduld.

»Wie sehr ihr im Irrtum seid!« rief ich. »Das arme Mädchen war gar nicht so, wie ihr denkt, sondern ein braves, anständiges Geschöpf.«

»Anständig! O, das ist stark!« schrie mein Bruder auf, streifte mit dem Nagel die Asche von seiner Pfeife ab und fuhr dann empört fort: »Aber so seid ihr Großstädter, ihr wißt nicht einmal mehr das Gute vom Bösen zu unterscheiden. Mit euren verrückten Ideen führt ihr schließlich ein Leben wie die Tiere!«

Ich blieb ihm die Antwort schuldig. Denn war dieses kurz zusammengefaßte Urteil wohl so ganz ungerecht?

Doch nun lebe wohl, meine Liebe! Da Du es mir ja nicht erlaubst, will ich auf die mir am Herzen liegende Angelegenheit nicht zurückkommen. Und doch, wie schön müßte es sein, mit seinen Ansichten und Handlungen im Einklang zu stehen!

Claudine an Clarencé.

Mein lieber Freund!

Ich habe Frau Laurier und ihr Töchterchen besucht. Meine Ansicht über die Mutter aber hat sich nicht geändert. Ihre blauen Augen sind so ruhig wie ein seit Beginn der Welt schlummernder See, auf ihrem Gesicht liegt ein Ausdruck von Sanftmut und Milde, und ihre Stimme klingt noch immer wie die eines sorglosen Kindes. Spricht sie von ihrem Unglück, so hört man aus ihren Worten nichts von jener Herzensangst heraus, die Dich erfüllt. Übrigens fühlte ich deutlich, daß sie kein Zutrauen zu mir hat. Möglich wäre es zwar immerhin, daß sie einen Ehrgeiz darein setzt, mir ihre wahren Gefühle zu verbergen, doch ich glaube es nicht. Ihr Haus befindet sich in tadelloser Ordnung, nicht die kleinste Einzelheit verrät etwas von dem Unglück, das dort eingezogen ist. Dagegen spricht aus Paulas großen Augen eine ängstliche Unruhe, und sobald von ihrem Vater die Rede ist, huscht ein dunkler Schatten darüber hin, als ahne sie irgend etwas Trauriges. Dann gleitet die Hand der Mutter mit einer liebevoll beruhigenden Gebärde über die Haare der Kleinen hin.

Ich bin tatsächlich überzeugt, daß jener Unglücksfall Dich tiefer betroffen hat, als jene brave kleine Frau. Vielleicht wäre es ratsam, Du kämest nun zurück, denn mir scheint, daß der Aufenthalt auf dem Lande Dein seelisches Gleichgewicht eher vollends vernichtet, anstatt es wieder herzustellen. Die von mir angeratene »Kur« hat keine gute Wirkung gehabt. Längst schon habe ich es eingesehen, daß die Einsamkeit Dir schlecht bekommt, denn nun öffnest Du bereitwillig Tür und Tor den schwarzen Gedanken, die sich nur zu gern in Dir breit machen. Der Umgang mit Deinen Verwandten in Prône, mit denen Dich so gar keine geistige Gemeinschaft verbindet, genügt nicht, diese Grillen zu verscheuchen. Mir macht es immer mehr den Eindruck, als seiest Du auf einen verderbenbringenden Abweg geraten und wollest nun mit Vorbedacht darauf weiterschreiten. Deine Nerven sind von anstrengender Arbeit und von den schmerzlichen Eindrücken jenes traurigen Ereignisses in hohem Grade überreizt, daher die unberechtigten Selbstquälereien. Versuche doch endlich, sie abzuschütteln, verscheuche die traurigen Erinnerungen, entschließe Dich, wieder Du selbst zu werden, Deinem Talente zu folgen und schöne, ergreifende Dramen zu schreiben, in denen Du die Herrlichkeit der Liebe preisest. Mach Dir keine Vorwürfe über die erhabenen Schöpfungen Deiner Phantasie, denn die Sittenprediger mögen sagen, was sie wollen, die Liebe ist eben doch, trotz der Verheerungen, die sie hin und wieder anrichtet, die schönste aller Tugenden. Soziale Ordnung? Herkommen? Erfahrungen der großen Menge? Ist es möglich, daß gerade Du mir von solchen Dingen sprichst? All das kommt doch nur in Betracht für Leute, die nichts oder nichts mehr von der Liebe wissen. Wohnt sie aber in unserm Herzen, dann füllt sie nicht nur dieses völlig aus, sondern auch Erde und Himmel. Ich kenne keine andern Gesetze als die ihrigen und ich hoffe, daß auch Du bald alle törichten Hirngespinste, mit denen Du Dich selbst betrügst, vergessen haben wirst. Graute mir nicht vor dem Dorfe, wo Du Deine finstern Gedanken herumschleppst, so würde ich kommen, Dich zu holen, trotz der Grundsätze Deines Schwagers und der bösen Zunge Deiner Schwägerin. Denn es gibt ein unumstößliches Gesetz, das auch ich für richtig halte, und das heißt: »Menschen, die sich lieben, sollen sich niemals voneinander trennen!« Beherzige es, mein Freund, und kehre zu mir zurück.

Tausend Küsse – Deiner liebenswürdigen Schwägerin zum Trotz!

Clarencé an Claudine.

Meine geliebte Freundin!

Wie deutlich spricht Deine warme, treue Zuneigung aus Deinem lieben Briefe! Und doch, Du ahnst es wohl, ich kann Deinen Ansichten nicht beipflichten. Wie willst Du von mir verlangen, daß ich einem Ereignis, das mich bis in den Grund meiner Seele erschüttert hat, und dessen traurige Folgen mich auf Schritt und Tritt begleiten, gegenüberstehen soll, als gehe es mich nichts an. Wie könnten wohl Lehren, wie ich sie erhalten habe, bei einem denkenden und fühlenden Menschen fruchtlos bleiben? Noch einmal laß es mich Dir wiederholen, ich bin ein andrer geworden, und wohl oder übel mußt auch Du diese Wandlung mit mir durchmachen. Du wirfst mir vor, ich sei auf einen Irrweg geraten. Nun denn, meine Liebe, mir scheint viel eher, als ob Du Dir eigensinnig – verzeih das Wort, das mir unwillkürlich in die Feder floß – vorgenommen habest, auf einem lange vorher bestimmten Wege weiterzugehen, ohne Dich von dem beeinflussen zu lassen, was Dir auf diesem Pfade begegnet, etwa so wie man sich im voraus ein Eisenbahnbillett für eine bestimmte Station nimmt.

Allein trotzdem zweifle ich nicht, daß, wenn ich Dir einmal mündlich all das wiederholen werde, womit ich Dich seit drei Wochen schriftlich zu überzeugen versuche, Du mir doch noch recht geben wirst. Sollten meine Worte aber nicht genügen, so wird gewiß irgend ein unerwarteter Zwischenfall mir helfen, Dich zu bekehren. Du siehst, ich klammere mich in recht optimistischer Weise an eine hoffnungsvolle Zukunft fest, denn eines ist sicher: mit dem Mißklang, der jetzt zwischen uns herrscht, könnte ich nicht weiterleben. Und an Dir allein, Claudine, liegt es, die Harmonie wieder herzustellen.

Laurier kam gestern zu mir, oder vielmehr, man hat ihn hergebracht. Mit wütender Miene umkreiste ihn meine Schwägerin, während mein Bruder ihm verächtlich den Rücken kehrte, was Laurier übrigens gar nicht bemerkte. Nach seinem Weggang schalt mich das Ehepaar förmlich aus. Mein Gott, welch eine Kluft trennt mich von ihnen, aber auch zwischen mir und Dir und allen andern Menschen scheint sich mir eine solche aufzutun. Mir ist, als sei ich allein auf der Erde, und diese Einsamkeit lastet entsetzlich schwer auf mir.

Heute wird hier und in der ganzen Gegend ein großes Volksfest gefeiert. Am Eingang ins Dorf ist ein aus Tannenzweigen und mit bunten Papierblumen geschmückter Triumphbogen errichtet, den ich von meinem Fenster aus sehe. Auch eine große Menschenmenge, die sich um ein Karussell drängt, kann ich aus der Ferne beobachten, während die Klänge der Musik bis zu mir herübertönen. Lust und Freude rings umher, und was für eine glückselige Sorglosigkeit!

Auf baldiges Wiedersehen!


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