Joachim Ringelnatz
Die Flasche und mit ihr auf Reisen
Joachim Ringelnatz

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Koblenz und Abstecher

Meine Kameraden suchten in Niederlahnstein Unterkommen. Ich fuhr weiter bis Koblenz, wo ich im Ersten Hotel »Riesenfürstenhof« ganz besonders aufmerksame Aufnahme fand. Der Besitzer hieß Kämpfer, und weil er die Front seines Hauses mit roten Lampen ausgeschmückt hatte, gab man ihm den Spitznamen Rotfrontkämpfer.

Die Musik eines vorbeimarschierenden Vereins weckte mich aus meinem Nachmittagsschlaf. Ich aß als Mittagsmahl ein mitgebrachtes Mettwürstchen mit einer Semmel und verbarg dann sorgfältig Papier, Wursthaut und Krümelchen.

Abends suchte ich die Hubertusweinstube beim Gemüsegäßchen auf. Dort spielte gerade ein herumziehendes Musikerpaar, er Geige und sie Harfe. Ich hätte sie gern gefragt, ob ihnen La Paloma bekannt wäre, aber ich unterließ es doch. Ich unterließ auch ein Ferngespräch mit M., was mich sehr lockte. Ich saß dort allein, unerkannt und ein wenig wehmütig. Dem Musikanten gab ich ein gutes Tellergeld, weil ich daran dachte, daß wir morgen in gar nicht unähnlicher Rolle auf der Bühne stehen würden.

Am nächsten Morgen fuhr ich nach Niederlahnstein, fragte von Wirtshaus zu Wirtshaus nach den sieben Schauspielern, aber es gelang mir nicht, deren Quartiere ausfindig zu machen, obwohl ich stundenlang durch die Straßen ging, La Paloma vor mich hinträllerte und von Zeit zu Zeit laut »Grischa« rief.

Mißmutig darüber kehrte ich nach Koblenz zurück. Erst spät am Nachmittag traf ich auf der Straße die andern, und wir tauschten in einem Café Neuigkeiten aus. Die Kollegen waren schon im Theater gewesen. Das grenzte an die Sektkellerei Deinhard. Kerzen für den dritten Akt waren nicht aufzutreiben usw. Es gab viel zu erörtern, denn wir hatten auch Post vom B.-Nachweis und Privatbriefe erhalten. Das Gastspiel in Frankfurt war nicht zustandegekommen. Dagegen lag ein erfreuliches Telegramm vor »Neunter bis zwölfter Juni Darmstadt Orpheum perfekt«.

Ich fragte, warum niemand aus Niederlahnstein mich einmal im Hotel angerufen hätte. Meine Freunde bereuten das sehr, und es tat ihnen aufrichtig leid, daß ich dort solange vergeblich nach ihnen gefahndet hatte. Wir trennten uns bis zum Abend, weil sie noch Denkmäler und sonstige Sehenswürdigkeiten bewundern wollten. Ich schrieb indessen zwischen Sonntagsspießern bei zwei Glas Moselwein à 25 Pfennig.

Trotz Regen und Kälte war das Theater mit Ausnahme der Galerie schwach besetzt. Man rief uns nach allen Akten mehrmals heraus. Ich wollte mich in der ersten Pause für einen Trunk fortschleichen, fand aber das eiserne Tor verschlossen. So wandte ich mich an die Feuerwehrleute, schilderte die Gefahr, die im Fall eines Brandes durch geschlossene Türen gegeben wäre. Das half sofort. Die gelangweilte Feuerwehr war sichtlich erfreut, einmal einschreiten zu können. In einer kleinen Wirtschaft saß ich bei zwei Liebesleuten. Die hielten mich für einen echten Seemann, aber sie hielten einen hinter mir laut renommierenden Seemann für einen Schwindler, und gerade der war echt.

Ich sah mir ein Stück vom letzten Akt an. Grischa hatte wieder das »seidene Tuch« vergessen. Aber er und alle spielten mit voller Hingabe. Anderntags war das Wetter wieder so kalt und unfreundlich. Ich hatte mir aus dem politischen Teil einer Zeitung schlechte Stimmung angelesen. Nun unternahm ich im Regen kurze, trostlose Spaziergänge, wobei ich von Zeit zu Zeit die Münzen in der kleinen, rechten Rocktasche nachzählte.

Riesenfürsten entdeckte ich nicht in meinem Hotel, aber einmal saß, nach Aussage des Besitzers, Reichskanzler Brüning dort in meiner Nähe.

Eine Dame, die sich auf ihrer Visitenkarte »wissenschaftliche Astrologin und Schauspielerin« nannte, schickte mir einen Band ihrer ersten lyrischen Gedichte. Ich überflog diese ernste Poesie und muß gestehen, daß ich dann den Band in der Mitte einriß und ihn unter den Schminktisch warf. Sitty zog ihn wieder hervor. Er fand, daß die Gedichte sehr unterhaltend wären, zumal, wenn man das eingerissene Heft wie ein Vexierbuch handhabte und die eine halbe Seite des einen Gedichtes über die entsprechende Hälfte des nächsten deckte. So gelesen ergab sich in diesem »Blühen und Verwelken« betitelten Buch z. B. folgendes Poem:

Mein Junge
        Ich döste in leeren Straßen
Und du begegnetest mir.
Fasziniert über alle Maßen,
Lockte ich dich wie ein Tier.
Du bist ein Junge wie andre auch
Mit blonden Locken und trotziger Stirne;
Nur hast du schon ein klein wenig Bauch
Und – es ist möglich – eine weiche Birne.
Blüten bring ich dir von rotem Mohn.
Rot wie Mohn soll deine Neigung brennen.
Alles Gefühl wird Dein Atem mir nennen.
Du: – von plötzlicher Glut beglückt:
Ein japanischer Dolch auf deinen Leib gezückt,
Mach ich mit diri Harakiri.
O verführi, verführi, verführi!

Abstecher nach Bad Ems. Der Theateromnibus beförderte uns gratis. Er führte einen zweirädrigen Anhänger für die Kulissen im Schlepp. Damit war schwierig zu lawieren, aber diese Fuhre war lustig. Der Koblenzer Spielleiter, das technische Personal, die Friseuse, die Souffleuse und die Garderobiere fuhren mit uns. Das Kurtheater entzückte uns. Der Spielleiter führte uns durch das vornehme Kurhaus. Wir tranken Kränchen.

Man sah wenig Publikum im Theater, aber viele Feuerwehrleute hinter der Bühne. Einer von denen schluchzte während der Vorstellung, daß es einen Stein hätte erbarmen können.

In der Pause machte ich wieder Ausflüge in Seemannskluft. Ich war gewiß nie gern gesehen in den Lokalen, die ich so aufsuchte, aber da ich mich ordentlich benahm, wagte niemand, mich auszuweisen. Diesmal in der Altdeutschen Weinstube, nahm sich eine Kellnerin sogar betont herzlich meiner an. Auf meine Frage, ob um diese Zeit noch irgendwas »los wäre«, wo ich mich amüsieren könnte, schaute sie in die Zeitung. »Die Flasche, Eine Seemannsballade. – Das ist etwas für Sie. Die Hälfte ist zwar schon vorbei, aber da gibt's noch genug zu sehen.«

Unsere Einnahmen waren etwas höher als die gestern in Koblenz. Aber Hotel, Verpflegung, Eisenbahn, Porti, Seife, Briefpapier, Bindgarn, Wäsche, Rasierklingen, Schminke usw. Und man nahm auch einmal ein Bad. Und für jeden und jede von uns schlug auch einmal unaufschiebbar die Stunde des Haarschneidens. – Von diesem Haarschneiden wurde dann wie von einem Ereignis gesprochen.

Ich sah nach Schluß der Aufführung Sitty zu, wie er mit erstaunlicher Routine den Funduskoffer packte. Jedes Stück genau angepaßt an seine bestimmte Stelle.

Auf der Rückfahrt ließ ich eine Koblenzer Zeitungskritik herumgehen, die besonders die Leistungen des Fürsten und des Kellners hervorhob, was uns für die freute.

Ich kehrte in Koblenz nachts noch in der »Traube« ein. Außer mir und einigen verstreuten Einzelpersonen saß dort noch eine große Gesellschaft von nicht mehr jungen, aber höchst ausgelassenen Leuten, Dicke und Dünne, Große und Kleine. Anscheinend Rheinländer. Die tanzten nach alter Schule und so komisch, daß ich ein paarmal laut auflachen mußte. Später luden sie mich und die anderen Einzelgäste ein, doch an ihre Tafel zu kommen und an ihrer Fröhlichkeit teilzunehmen. »Schon daran habe ich erkannt, daß ich es mit Rheinländern zu tun habe«, sagte ich zu meiner Tischdame. Aber es stellte sich heraus, daß niemand von der Gesellschaft aus dem Rheinland stammte, sondern daß alle aus Königsberg oder Berlin oder sonstigen rheinfernen Gegenden kamen und sich nur auf einer vom Reisebüro arrangierten Rheinfahrt zusammengefunden hatten.

Auch ich ließ mir die Haare schneiden. Mittags aß ich wieder heimlich Brot mit Wurst auf meinem Zimmer, wobei ich die Wursthaut mit einer Schere entfernen mußte, weil Grischa mein Messer verschlampt hatte.

Ich schlenderte durch die Armutsgassen, die wohl einem Maler oder Dichter etwas bieten mochten, im übrigen aber einen äußerst deprimierenden Eindruck machten. Arbeitslose überall. Mädchen und junge Männer saßen auf den Türschwellen. Ein Mädchen kaufte für sich und ihren Freund zwei Zigaretten. Sie gab ihm die eine schweigend, und dann rauchten sie in tiefen Zügen und blieben ernst und schweigsam. – Kindergewimmel und -geschrei. – Fahrende Spielleute. – Alte, wirrhaarige Weiber, die müßig aus den Fenstern schauten. – Auf den Plätzen große, starke Bengels, die mit lächerlich kleinen Bällchen Fußball spielten. – In einer Hurengasse sprach mich eins von den vielen Mädchen, die sich aus den Parterrefenstern lehnten, mit »Ringelnatz« an. »Woher kennst du mich?« – »Nun, ich lese doch Zeitungen.«

Für den zweiten Abstecher nahmen wir einen Mietomnibus. Diesmal gastierten wir in Bad Neuenahr. Saal, Bühne und Garderoben waren in Ordnung, und ich fand ein Sofa, wo ich ein Schläfchen machen konnte, zugedeckt mit dem Wäsche- und Kleiderkram aus meinem Seesack. Dann spazierten wir durch die hellen Straßen.

Mutter Mewes war eine Zeitlang verschollen, weil eine Klo-Tür sich nicht mehr öffnen wollte. Schließlich befreite sich unsere gute Freundin doch, angeblich mit ihrer ungeheuren, durch Kuchen angegessenen Kraft. Ich gurgelte Brunnen und trank Brunnen. An allen Orten, wo es Heilquellen gab, hatte ich davon getrunken. Ungern, aber prophylaktisch. Ich bildete mir gewaltsam ein, nun gegen Zuckerkrankheit, Herz-, Magen-, Blasen-, Nieren- und Halsleiden, Gicht, Rheuma, Gallenstein, Syphilis, Fettsucht, Frauenkrankheiten und Flöhe gefeit zu sein. Denn ich glaube zwar nicht immer an Gedrucktes, aber an die Macht der Suggestion und Autosuggestion.

Im Kurpark sprachen mich verschiedene Leute an. Alle versicherten mir, daß sie leider kein Geld hätten, »heute Abend ins Theater zu kommen«. Sie sagten das so, als ob sie erwarteten, daß ich das interessant fände und sie bedauerte.

Vor dem Theater kam mir der Fürst entgegen: »Hast du bemerkt? An jeder Ecke und an jedem Baum springt einem der rote Ringelnatz mit der blauen Schrift darum entgegen. Die haben vorzügliche Propaganda gemacht. Und es sind schon 180 Plätze im Vorverkauf weg. Und das eisige Wetter kommt uns zustatten. Und es sind 3000 Badegäste im Ort. Und – – –« Der Fürst sah mein Lächeln und brach gekränkt seine Rede ab.

Alle Kollegen waren trotz Brüderschaft und aller von mir provozierten Intimitäten nach wie vor ausgesucht rücksichtsvoll, hilfsbeflissen und herzlich zu mir, ihrem Häuptling. Mit dem künstlerischen Erfolg waren wir bisher zufrieden gewesen. Warum schien die Sonne nicht auf uns und aus uns? Aber in die Tagebuchbriefe, die ich beinahe täglich an M. sandte, konnte ich doch noch immer ein dankbares Trostwörtchen legen. Und in den fast täglichen Briefen von M. fand ich auch immer eine liebe, fromme Ermunterung. 7. Juni. So schreibend, sitze ich in einem Weinlokal mit dem Blick auf den Theatereingang, um zu beobachten, was dort hineinströmt. Vorläufig sind drei Damen hineingeströmt. Davon konnten zwei Garderobieren sein. Es ist allerdings noch nicht acht Uhr, und die Vorstellung beginnt 15 Minuten nach acht Uhr. Nun taucht der Fürst auf, offenbar ebenfalls, um sich über das Strömen zu unterrichten. Ich winke ihn zu mir zu einem Gläschen Roten.

Meine Kollegen hatten mir eine eigene Garderobe reserviert. Als ich diesen Raum betrat, erblickte ich ein hübsches Fräulein, damit beschäftigt, Petras Kleider und unsere Männerhosen zu bügeln. Ich zog entzückt sofort meine Hosen aus und reichte sie dem holden Kind, mußte dann aber erleben, daß meine Kollegen auffällig oft zu mir hereinkamen, und zwar unter den nichtigsten Vorwänden. Besonders Grischa war nicht abzuweisen. Ich erzählte es später seiner Frau (weil er sich geweigert hatte, eine Bestechungs-Schweigegebühr von 50 Pfennigen in die Sitty-Kasse zu zahlen). Da die Bügelfee sich wenigstens den zweiten und dritten Akt ansehen wollte, erzählte ich ihr rasch den Inhalt des ersten.

Das Publikum in Neuenahr nahm »Die Flasche« freundlich auf. Nur ein Mann im Parkett hielt es für witzig, mir an einer ernsten Stelle »Prost« zuzurufen.

Auf der Rückfahrt sangen wir im Omnibus alle Lieder ab, die uns einfielen und nahmen einen armen Jungen von der Straße mit, der mit Heiligenbildern hausierte und auch nach Koblenz wollte.

Im Riesenfürstenhof lud mich eine fidele Gesellschaft noch zu einer köstlichen Erdbeerbowle ein. Der Kurdirektor von Ems war dabei. Er sagte: »Eigentlich wollte ich Sie und Ihr Ensemble in Ems einladen – –.« Ich hörte ihm gar nicht weiter zu. »Eigentlich wollte« oder »Ja, wenn ich gewußt hätte« oder »Leider konnte ich nicht« waren uns zum Überdruß bekannte Redensarten.

Ich konnte knapp meine Hotelrechnung bezahlen und ein Dampferbillett nach Mainz lösen. Die Kollegen wollten sich in Niederlahnstein auf demselben Dampfer einschiffen. Kurz vor der Abfahrt kam mir ein guter Einfall. Ich eilte nach der Firma Deinhard und ließ mich Herrn Wegeler melden. Ich sagte ihm, meine Kollegen hätten im dritten Akt statt Sekt Apfelstrudel getrunken, obwohl im Nebenhaus Tausende Flaschen von echtem Sekt lagerten. Ich spräche nicht für meine Person, denn ich selbst wäre ja im dritten Akt bereits ertrunken. – – Herr Wegeler nahm mein Anliegen mit Verständnis und Humor auf und ließ sich unsere nächste Adresse geben.

Ich stand auf der Back des modernen und wohlgeführten Dampfers »Hindenburg«. Noch immer war das Wetter kalt, und die Regenwolken gaben dem Wasser eine unfreundliche Färbung. Am rechten Ufer folgte uns eine von »Hindenburg« aufgewühlte Schaumwelle, die sich mißmutig an den Steinen rieb. Aber ich war in bester Stimmung. Von weitem erkannte ich schon meine Gefährten am Landungssteg in Niederlahnstein. Ich schwenkte meinen Hut und rief ihnen ein schallendes »Olaf ahoi!« übers Wasser. Als sie an Bord waren und der Funduskorb mit Sittys auffälliger Lackschrift an Deck stand, gesellte sich ein Fahrensmann vom Personal zu mir, um seine Hochseeerinnerungen anzubringen.

Einen Moment lang verstimmte mich das Gefühl, daß meine Kollegen diese Situation des Wiedersehens an Bord nicht so begeistert und herzlich erfaßten wie ich. Aber die herrliche Fahrt, die billigen Speisen, der billige Wein stimmten uns alle bald so glücklich, daß wir laut sangen. Ich warf plötzlich vor Freude mein weiches Hütchen über Bord und trieb übermütig allerlei Unsinn. Ich »gab an«, wie man sagt. So daß unser stets gesetzter Regisseur einmal die Stirn runzelte.

Wir faßten Beschlüsse über unsern weitern Verbleib an diesem wieder spielfreien Tag. Petra und Grischa wollten bis morgen in Mainz bleiben, um das Grab von Petras Mutter zu besuchen. Den andren riet ich, in Groß-Gerau zu übernachten, wo ein Freund von mir den Gasthof »Zum Adler« besaß. Groß-Gerau lag ganz nahe von Darmstadt, und da zum »Adler«, wie ich wußte, ein großer Saal mit einer Bühne gehörte, so konnten wir dort vielleicht am Sonntag mit einer Nachmittagsvorstellung uns eine unvorhergesehene Nebeneinnahme verschaffen.


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