Joachim Ringelnatz
Die Flasche und mit ihr auf Reisen
Joachim Ringelnatz

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Gotha, Liebenstein, Salzungen, Eisenach

Wir füllten gerade ein Kupee. Obwohl wir leichte und lustige Gespräche führten, waren doch dahinter die Sorgen zu spüren, die uns alle bewegten. Nur der Fürst triumphierte mit einer für uns günstigen Kritik in der nationalsozialistischen Zeitung »Hessische Volkswacht«. Sitty Smile hatte in Kassel noch den Funduskorb mit einer künstlerischen Aufschrift in Spirituslack versehen »Ringelnatz-Tournee Berlin«.

In Gotha fühlten wir uns im Hotel Alt sehr bald wohl. Durch den Garten zog am Nachmittag ein unwiderstehliches Düftchen nach Rostbratwürsten. Eine vornehme Straße mit üppig blühenden Vorgärten führte nach dem Theater. Thüringer Klöße erfüllten uns schwer. Mutter Mewes spähte nach dem berühmten Ersten Krematorium aus, nicht aus Lebensüberdruß, sondern in ihrem nie gelöschten Durst nach abgestempelten Sehenswürdigkeiten. Ich sah mich nach einem Weinstübchen um, weil ich an M. schreiben und etwas dichten wollte.

Die Dekorations- und Beleuchtungsprobe war für drei Uhr bestellt. Aber wir trafen um diese Zeit nur den Kastellan an. Das technische Personal des Theaters war mit dem Stamm der Schauspieler und mit dem Intendanten Curt Strickrodt auf Gastspiel in Eisenach. Diesen Stammtrupp von Schauspielern und technischem Personal ließ Herr Strickrodt mit den nötigen Requisiten dauernd zwischen verschiedenen Städten pendeln, deren Theater alle ihm unterstellt waren. Man erzählte uns, daß er auf diese Weise, nicht zu seinen persönlichen Ungunsten, viel Geld von den behördlichen Theaterzuschüssen ersparte, die er erhielt. Staat und Stadt ließen ihm dabei aus Bequemlichkeit freie Hand. Strickrodts Tochter war bekanntlich mit einem Prinzen von Anhalt verheiratet gewesen. So erzählte man uns. Wir konnten das nicht nachprüfen. Aber daß der Intendant unserer fremden Truppe und unseren kurzen Gastspielen an seinen Theatern wenig Interesse entgegenbrachte, das trat bald drastisch zutage. Als ich abends eine halbe Stunde vor Beginn der Vorstellung das Theater betrat, fand ich meine Kollegen in großer Aufregung. Es stand noch kein Bühnenbild fertig, kein Vertreter des Intendanten war anwesend, keine Souffleuse, keine Friseuse war da. Sitty Smile und der Kellner packten in äußerster Eile den soeben eingetroffenen Funduskorb aus.

Wir überlegten, ob man unter solchen Umständen überhaupt noch eine Vorstellung wagen könnte, entschlossen uns aber einmütig, unseren Ärger herunterzuschlucken und uns mit Eifer dem Spiele zu widmen.

Trotzdem litt die Aufführung begreiflicherweise unter Nervosität, zumal an den vom Hause gestellten Requisiten vieles nicht stimmte. Das Grammophon und Grischas Kopfhörer funktionierten nicht. Ich ging im zweiten Akt versehentlich durch Petras Schlafzimmer statt nach der Straße ab. Und der Fürst versprach sich einmal sehr sinnentstellend. In Ermangelung der Souffleuse war Mutter Mewes, soweit sie frei war, in die »Gedächtnishalle« gekrochen, wie der Fürst den Souffleurkasten nannte.

Meine Abendeinnahme betrug elf Mark.

 

Wieder hatten wir leider einen spielfreien Tag. Wir fuhren nach Liebenstein, und meine Kollegen blieben dort für die nächsten Tage, während ich derzeit meinen Freund W. in Hattorf bei Philippsthal besuchte. Freund mit Frau und Töchterchen verwöhnten mich in jeder Beziehung. Man fuhr mich auch auf Wunsch in einem Privatauto nach Hersfeld in Hessen zu einem Kriegskameraden. Aber ich war anfangs ein recht undankbarer und stimmungsloser Gast, weil mich Geldsorgen bedrückten und weil ich traurig an M.s ärmliche Einsamkeit dachte.

Mein Freund war Bergingenieur, und so fuhr ich unter seiner Leitung am nächsten Morgen in das Kalibergwerk Hattorf ein. Wir wanderten, entsprechend gekleidet, 700 Meter tief in der Erde durch die interessanten, weiten Schächte. Hinterher nahmen wir das notwendige, mir sehr wohltuende Bad. Und ich lernte allerlei Leute von der Führung und von der Belegschaft der Zeche Hattorf kennen, die ich alle mit Glückauf begrüßte und von denen ein großer Teil versprach, abends nach Liebenstein oder am nächsten Abend nach Salzungen zu kommen, um sich »Die Flasche« anzusehen.

Spät nachmittags fuhr mich W. nach Liebenstein. Einige von den Nordhäusern standen vor dem Säulenportal des hübschen Theaters und winkten mir entgegen. Da merkte ich, daß ich in 24 Stunden Getrenntsein Sehnsucht nach ihnen empfunden hatte. Sie waren zufrieden mit ihren Quartieren, freuten sich über das Regenwetter. Und weil an der Abendkasse ein paar wohlgekleidete Herrschaften gestanden hatten, prophezeite der optimistische Fürst uns den Siebenten Himmel. Auf die Frage, wo eigentlich die fünfundzwanzig Zigaretten blieben, die die Theater vertragsgemäß uns für die Bühne stellen mußten, erwiderte er rührend fürstlich: »Achtzehn davon brauche ich natürlich selber. Eine erhält Sitty Smile –«

»Eine ist viel zuviel für Sitty Smile«, unterbrach Grischa. – Um diese Zigaretten rissen wir uns sehr. Eine davon bot mir der Fürst in einer gewissen Szene auf der Bühne an, aber ich hatte jedesmal dasselbe Malheur damit. Denn wenn ich sie gewohnheitsmäßig nach ein paar Zügen im Aschenbecher ablegte, wurden sie unbrauchbar, weil diese Aschenbecher von den Feuerwehrleuten mit Wasser gefüllt waren. Ich rettete dann noch das, was vom Tabak trocken geblieben war und rauchte das in einem ganz kurzen Kalkpfeifenstummel, welche Geste mir sehr charakteristisch für Seeleute erschien. In manchen Orten verbot uns die Feuerwehr auch die fünf Kerzen, die Mutter Mewes im letzten Akt anzünden muß. Wir bedienten uns dann elektrischer Kerzen. Waren solche nicht aufzutreiben – (wie z. B. später in den Münchner Kammerspielen!) – so mußten wir die betreffende Szene weglassen. Das Theater war schwach besucht, das Publikum anerkennend und ergriffen. Ein pekuniärer Erfolg war nicht zu verzeichnen. Wäre ein solcher überhaupt zu erwarten gewesen, dann hätte Herr Strickrodt, dem das Theater unterstellt war, statt unseres sein eigenes Ensemble gastieren lassen.

Weil der Garderobier zu spät eingetroffen war, hatte Grischa bei der Badefrau ein Plätteisen entliehen und unsere Hosen und Petras Kleider gebügelt. Sehr kunstgerecht, denn Grischa hatte ursprünglich das Schneiderhandwerk erlernt.

Mein Freund W. gestand mir: auch er hätte sich im letzten Akt nicht der Tränen erwehren können. Andererseits hatte er komische Bemerkungen im Publikum belauscht. Eine Dame vor ihm hatte ganz ernst und bestimmt berichtet, daß ich ein Sohn des Regierungspräsidenten v. Bötticher in Magdeburg wäre, meinen Adel aber abgelegt hätte.

Auch der letzte Maientag war grau und kalt. Lotte W. schoffierte mich nach Vacha vor der Rhön, wo ich auf der Veranda des Ratskellers dichtete. Auf einer Turmspitze guckte ein Storch aus seinem Nest. Auf dem hübschen Marktplatz spielten wandernde Musikanten. Ein Huhn gackerte dazwischen. Ich geriet vom Dichten ins Dösen und träumte von einem Mäzen, der meinen Kollegen plötzlich eine großzügige Überraschung bereitete.

Freund W. hatte eine Gesellschaft von zirka fünfundzwanzig Personen zusammengetrommelt, die abends nach Salzungen fuhren, um »Die Flasche« anzusehen, alles Herren aus dem Kaliwerk Hattorf mit ihren Damen.

Es regnete langweilig auf den langweiligen Ort Salzungen. Trotzdem wäre das Theater ohne die Hattorfer Gesellschaft nahezu leer gewesen. Es stand auch unter dem Regime des Herrn Strickrodt.

Wir Künstler aber plauderten herzlich in den Garderoben, denn wir waren heiter aus gutem Gewissen heraus.

»Es ist Post für uns verlorengegangen«, erzählte mir Grischa. Dann zeigte er mir die gestrige Abrechnung. Darin waren u. a. »zwei Freikarten für den Bürgermeister von Liebenstein« verzeichnet. Armer Bürgermeister von Liebenstein!

Das Publikum lauschte unserem Spiel mäuschenstill, obwohl die Leute – wie ich hinterher erfuhr – in dem ungeheizten Zuschauerraum sehr froren. Zum Schluß wurde mir ein großer, wunderschöner Blumenstrauß überreicht, den ich unseren Damen schenkte.

Wieder waren wir für einen Tag zu Müßiggang verurteilt. Da ging es mir bei meinen Hattorfer Freunden natürlich besser, als meinen Kollegen in Salzungen. Nach einem Frühschoppen im Kasino »Glückauf« unternahmen wir eine längere Autofahrt durch die Umgebung, wobei mir auffiel, daß die preußischen Straßen sauber und gepflegt, die Thüringer Strecken aber empörend verwahrlost waren.

Ich erhielt einen Brief von M. Sie war deprimiert und schalt auf Strickrodt und auf den B.-Nachweis, der uns an den verschachert hätte.

Auch ich war deprimiert und wartete nervös auf Wäsche. Aber nun kam endlich die Sonne hervor, und da sah die Gegend und alles wieder freundlicher aus.

Auf Wunsch der Hattorfer pinselte ich im Kasino eine Zeichnung und einen Spruch an die Wand.

Auf der Autofahrt nach Eisenach rief mir die anmutige Gegend viele und zum Teil weit zurückführende Erinnerungen wach.

Auch das Eisenacher Stadttheater gehörte zum Machtbereich Strickrodts. Ich traf dort zunächst nur drei von unserer Bande an. Des Fürsten frohe Fanfarentöne betreffs unserer guten Aussichten erhielten einen Dämpfer, als die Bühnenarbeiter sich äußerten. Sie meinten, unser Gastspiel wäre ganz deplaziert, da am selben Abend die Comedian Harmonists in Eisenach gastierten, die uns alles Publikum wegschnappen würden. Dasselbe äußerten alle die Menschen, die mich bis zum Abend auf der Straße oder in Lokalen ansprachen, nur daß die meisten den Namen Comedian Harmonists wegließen, weil sie ihn nicht aussprechen konnten. Einer sagte dafür Christian Science.

Es war natürlich einleuchtend, daß eine Stadt wie Eisenach nicht zwei Premieren an einem Abend vertrug. Wir vom Kollektiv waren sehr verstimmt und schimpften auf einen gewissen Jemand, der uns und das hessische und das thüringische Publikum betrog.

In diesem Theater war das Rauchen sogar auf der Bühne verboten, was uns wiederum verdroß. Nach dem ersten Akt fragte mich ein Feuerwehrmann: »Wie lange dauert denn das Ganze?« – »Nun, etwa bis elf.« – Da sagte er unwirsch: »Na, Ginder, beeild euch mal ä bißchen. Sowas sinn mer hier nich gewehnt.«

Ich flocht in meinen Schlußmonolog des ersten Aktes eine kleine satirische Anzüglichkeit gegen das Rauchverbot ein.

Das wenige Publikum nahm unser Spiel sehr wohlwollend auf. Freund W. hatte nochmals eine Hattorfer Gesellschaft mitgebracht. Aber dennoch erfüllte mich der Gedanke an den spärlichen Theaterbesuch bei uns und an das ausverkaufte Haus bei den Comedian Harmonists (das war mir bereits berichtet) mit ungerechter Wut, so daß ich nach dem zweiten Akt meinen Kollegen sagte, ich würde mich auf keinen Fall dem Publikum zeigen, und ich würde überhaupt nicht zurückkommen, sondern erwartete sie, die Kollegen, hinterher im Zwingerkeller. Sonst pflegte ich mich immer zum Schluß des dritten Aktes noch einmal einzufinden, um bei dem von uns allzu flau betriebenen »Gesang- und Stimmengewirr der nahenden Seeleute« mitzuwirken und um mich eventuell noch »von den Schauspielern herausgezerrt« als Autor zu verneigen. Es gab da jedesmal einen kleinen Kampf zwischen Autor und den Schauspielern, denn diese wollten am liebsten, daß ich sofort nach dem ersten Vorhang mich verbeugte. Aber das ging doch nicht an. Denn ich hatte im letzten Akt gar nicht mitgespielt, sondern war sogar »als Ertrunkener betrauert« worden. Sowie also das Schluß- und Stichwort von Petra fiel »Seeleute kommen«, versteckte ich mich irgendwo zwischen dem phantastischen Kulissen-Schwindelwirrwarr und lächelte, wenn ich bald danach herumeilende Stimmen rufen hörte »Ringelnatz! Wo steckt er denn wieder?« Meist war dann Kellner der Detektiv, der mich in meinem Versteck aufstöberte.

Also ich verließ das Eisenacher Theater in der großen Pause und suchte die Süße Ecke und andere vertraute Plätze auf, wo ich Jahre zuvor manchmal mit glühenden Backfischen und auch mit M. gesessen hatte.

Da blieb auf der Straße ein Ehepaar mir nachsehend stehen, und die Dame rief: »Dort geht ja der Ringelnatz, und wir klatschen uns im Theater die Hände nach ihm wund!« Ich grüßte und schritt versöhnt lächelnd weiter.

Im Zwingerkeller stellte ich mein Ensemble den Bergherren und Bergdamen vor. Die Hattorfer spendierten etwas. Aber die Nordhäuser mußten bald scheiden. Sie fuhren mit einem Sonderomnibus, der billiger war als die Eisenbahn, nach Liebenstein zurück. Wir andern zechten weiter, und die ausgelassene Gesellschaft tröstete mir den letzten Rest von Wut aus der Galle.

Mein Freund W. wurde von auswärts am Telefon verlangt. Wer? Was war geschehen? Das Auto der Nordhäuser hatte eine Panne erlitten. Glücklicherweise nicht mitten auf einsamer Straße, sondern in der Nähe eines Waldlokals »Zum grünen Jäger«. Der getreue W. telefonierte nach allen Himmelsrichtungen, um für die Festsitzenden ein Hilfsauto zu zitieren, aber die Aussichten waren zu so später Nachtzeit gering. Sämtliche Hattorfer stellten sich und ihre Autos zur Verfügung. So brausten wir schließlich – eine weinselige Rettungskolonne von mehreren Wagen – durch die entzückende Nachtlandschaft. Rechts und links lichtgrüne Bäume mit weißen Bauchbinden gegen einen dunkelbraunen Hintergrund, dann zwischendurch von Zeit zu Zeit fahle, leuchtende Geländersteine oder Nebelschwaden.

Wir erreichten die Panne-Gruppe, ein dramatisches Bild von Licht und Schatten, eine laute Diskussion von erregten, aber anständigen Leuten.

Es blieb gerade noch Zeit, um im Grünen Jäger mit einem Schnaps anzustoßen. Dann – »tut – tut –« kam der Hilfswagen. W. hatte telefonisch darauf gedrungen, daß dieses Hilfsauto den Schauspielern keinerlei Unkosten verursachen dürfte.

Wir Hattorfer trennten uns herzlich von den Nordhäusern.

Am folgenden Morgen besichtigte ich noch die Übertagmaschinen des Kaliwerkes, badete noch einmal in dem salzhaltigen Badewasser der Bergleute und ließ mich nach Salzungen bringen, wo ich Abschied von W. nahm und dann mit der Eisenbahn durch ein skandalierendes Gewitter nach Kissingen fuhr.


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