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Schluß

Wir überspringen nun einen Zeitraum von acht Jahren. Mignon war zu einer herrlichen Jungfrau erblüht und, was noch mehr sagen will, sie hatte in jeder Beziehung viel gelernt und war eine Künstlerin geworden, die bereits weit und breit berühmt war durch ihre öffentlichen Vorträge. Frau von Braunfels, ganz stolz auf ihre Pflegetochter, begleitete sie auf ihren Reisen.

Eines Tages wurde Mignon mit ihrem berühmten Lehrer aufgefordert, in Frankfurt ein Konzert zu geben. Sie sagte zu, und so betrat sie ohne ihr Wissen die Stadt wieder, die sie so unglücklich und verzweifelt verlassen hatte.

Ihr wundert euch, liebe Leser und Leserinnen, daß ich sage »ohne ihr Wissen«, und doch war dem so. Damals, als sie die Stadt als achtjähriges Kind verließ, hätte sie wohl den Namen derselben nennen können, aber sie hätte es nicht um die Welt getan, aus Furcht, wieder dorthin zurückgebracht zu werden. Später vergaß sie den Namen durch die vielen fremden Eindrücke, die auf sie einstürmten.

Gegen Abend langten Frau von Braunfels und Mignon in Frankfurt an. In einem Hotel, das am Markte lag, stiegen sie ab. Es war im April und der Frühling lachte bereits auf die Erde nieder. Mignon öffnete die Tür zum Balkon und trat auf denselben hinaus.

Da – mit einemmal – dämmerten traurige, fast vergessene Erinnerungen in ihr auf – hatte sie nicht alles das schon gesehen?

Dort der Brunnen vor dem Rathause, – dort das Eckhaus, – ein Schauder überlief sie bei seinem Anblick, – war es nicht das Bäckerhaus? Sie irrte sich nicht, da war ja das blaue Schild mit den gemalten Bretzeln, – und als sie daraus las: »Bäckerei von Wilhelm Butz«, da schwand auch der letzte Zweifel. Hier war es! Von hier hatte sie einst die Verzweiflung hinweggetrieben, um sie schließlich dem Glück in die Arme zu führen.

Sofort teilte sie Frau von Braunfels ihre Entdeckung mit und bat dieselbe, Christel, die mit einem Male in all ihrer Herzensgüte lebendig vor ihr stand, mit ihr aufzusuchen. Niemals hatte sie das brave Mädchen, das ihr so viel Liebes erwiesen hatte in der furchtbaren Zeit, vergessen, – es trieb sie mit Macht, dieselbe wieder zu sehen.

Gern willigte Frau von Braunfels ein. Aber da Mignon unter keiner Bedingung das verhaßte Haus betreten mochte, so ging sie allein in die Bäckerei, um sich nach Christel zu erkundigen.

Frau Butz saß wie einst am Fenster im Verkaufslokal und strickte; aber sie war in Trauer und statt der roten Haubenbänder trug sie schwarze. Ihr Gesicht war mit den Jahren noch böser geworden, und um den Mund lagen tiefe Kummerfalten.

Auf die Frage nach Christel sah sie die vornehme Dame erstaunt und neugierig an, dann gab sie mürrisch zur Antwort, daß dieselbe lange verheiratet sei und in der Sandgasse wohne.

Das war genug. Frau von Braunfels fuhr mit Mignon in die bezeichnete Straße. Richtig, da war die Bäckerei! In der Tür stand Christel, zwar etwas stärker geworden, aber Mignon erkannte sie sofort.

Sie sprang aus dem Wagen, und ehe die erstaunte Bäckersfrau es sich versah, hing das schöne, elegante Fräulein an ihrem Halse.

»Christel, – meine liebe Christel! Hast du mich denn vergessen?« rief sie aus, und dabei herzte und küßte sie die einfache Frau mit der größten Zärtlichkeit. »Kennst du mich nicht mehr? Ich bin ja dein Minchen!«

Einen Augenblick stutzte die Frau, dann aber schrie sie unter Lachen und Weinen:

»Minchen, – mein goldiges Minchen! – Bist du's denn wirklich? Ach, ich hatte dich für tot gehalten!«

Nun rief sie in ihrer Seligkeit ihren Mann herbei, damit er ihr Minchen, ihr wiedergefundenes Goldkind, bewundere, und dann traten Mignon und die vornehme Dame mit ein in ihr bescheidenes Stübchen. Alles mußte Mignon erzählen, was sie erlebt, und bald lachend, bald weinend hörte Christel ihr zu.

»Es gibt einen gerechten Gott im Himmel; ich habe es immer gesagt! Du mein kleines Minchen, – darf ich dich noch so nennen? – hast wieder eine liebevolle Mutter gefunden, und die böse Frau, die dich ins Elend stoßen wollte, ist selbst elend geworden. Jetzt zahlen es ihr die Kinder heim. Das heißt August nicht, der ist ein braver Junge, – Kurt auch nicht, der ist vor einem Jahre gestorben, aber Bruno, den sie von früh an zu einem schlechten Menschen erzog. – Er kam zu einem Kaufmann in die Lehre und hat die Kasse bestohlen. Jetzt ist er seit einigen Jahren auf und davon, – nach Amerika, glaube ich. Sie ist alt darüber geworden. Nun muß sie auch noch allein die ganze Last und das Unglück tragen, denn ihr Mann ist seit sechs Wochen tot, der Schlag hat ihn gerührt – der Tod war das Beste für ihn.«

»Und August?« fragte Mignon.

»Der wird Musikant. Es hat ihm keine Ruhe gelassen, er konnte nicht vergessen, wie du und er zusammen Konzerte gaben. Weißt du es noch, Minchen? In der Küche! Du auf dem Hackbrett und er mit der Flöte. – Jetzt bläst er sie schon sehr schön, Minchen. Du würdest dich wundern, wenn du ihn hörtest. Schade um die schöne Bäckerei, – die soll verkauft werden! Nun kommt sie in fremde Hände. Ja, wenn man das Geld hätte! – Wir kauften sie gleich.«

Sie erzählte durcheinander noch tausenderlei Kleinigkeiten; dann mußte Mignon wieder aus ihrem Leben berichten, und als Frau von Braunfels endlich zum Aufbruche mahnte, ging sie eilig an ihre Kommode und holte ein kleines Paketchen hervor.

»Da, Minchen,« sagte sie, »nimm es mit, ich habe es immer aufgehoben.«

Mignon wickelte es auf, Augusts Weihnachtsgeschenk, das schöne feuerfarbene Band, leuchtete ihr entgegen.

»Das will ich zum Andenken an das traurigste Christfest meines Lebens aufbewahren,« sagte sie und steckte das Band in ihre Tasche. »Ich besuche dich noch einmal, ehe ich abreise, Christel,« fuhr sie fort und reichte derselben zum Abschiede die Hand. Frau von Braunfels fügte lächelnd hinzu:

»Kommen Sie heute abend um sieben Uhr in den Reichshof und fragen Sie nach mir, – dann will ich Sie zu Mignon führen.« –

Um die bestimmte Zeit erschien Christel pünktlich und wurde von Frau von Braunfels empfangen und in den Konzertsaal geführt. Sie zögerte zuerst, hineinzugehen in den großen, hellen Kerzensaal, aber Mignons Pflegemutter führte sie bis auf die vorderste Reihe. Die Frau im schlichten, schwarzen Kleide hatte ihre Liebe und Achtung gewonnen. Aus Mignons Erzählung hatte sie erfahren, wie edel und gut die einfache Dienstmagd an dem verlassenen Kinde gehandelt.

Sie setzte sich neben Christel, – beklommen sah diese sich nach Mignon um und fragte nach ihr.

»Warten Sie nur, liebe Frau,« sagte Frau von Braunfels, »sie wird bald kommen.«

Das Konzert begann mit einer Ouvertüre. Gleich darauf hatte Mignon etwas vorzutragen. Sie erschien an der Hand ihres berühmten Lehrers.

Begeistert wurde das liebreizende, eigenartig schöne Mädchen begrüßt. Jeder kannte bereits ihr herrliches Spiel, oder hatte von demselben gehört. Bescheiden und anmutig verbeugte sie sich nach allen Seiten.

»Minchen!« rief ziemlich laut die im höchsten Grade überraschte Christel und ergriff unwillkürlich die Hand von Frau von Braunfels. »Herr, du meines Lebens, – was ist aus dem Kinde geworden! Wenn das ihr armer Vater erlebt hätte!«

Und als Mignon spielte, als sie mit Sicherheit und Ruhe die schwierigsten Stücke ganz frei, ohne Noten vortrug, war es so still in dem großen, menschenüberfüllten Saale, daß man eine Fliege hätte summen hören können. Auf allen Gesichtern konnte man die Begeisterung lesen, die ihr seelenvoller Vortrag hervorrief.

Christel zerfloß in Tränen. Als sie nach dem Konzert ihrem Manne eine Beschreibung von Mignon und ihrem Spiele machte, sagte sie, es wäre gerade gewesen, als ob sie im Himmel sei und die Engelein singen hörte, bald jauchzend, bald klagend, und manchmal so traurig, daß sie hätte weinen müssen. Und schön habe sie ausgesehen in dem kostbaren Kleide von schwerer weißer Seide und dem goldenen Reif in den Locken, wie eine Märchenfee.

* * *

»Mama,« sagte Mignon am Abend vor ihrer Abreise, »ich habe eine große Bitte an dich. Ehe wir fortgehen von hier, möchte ich Christel eine Freude machen. Sie war in der traurigsten Zeit meines Lebens mein guter Engel.«

Frau von Braunfels küßte sie aus die Stirn. »Du bist ein gutes Kind,« sagte sie, »daß du die Wohltaten, die man dir erwiesen, nicht vergißt.« Sie erhob sich und schloß ein Kästchen auf. Viele Goldstücke lagen darin. »Sieh, hier,« sagte sie, »das ist alles dein, es ist der Verdienst der letzten Konzerte. Du kannst mit dem Gelde machen, was du willst.«

Jubelnd fiel Mignon ihr um den Hals und herzte und küßte ihre geliebte Pflegemutter.

Früh am andern Morgen nahm Mignon Abschied von Christel. Zuvor ließ sie sich von derselben an ihrer Eltern Gräber führen, um Kränze darauf niederzulegen.

Als sie an dem mit Blumen bepflanzten Grabhügel des Vaters stand, – Christel hatte stets für dasselbe gesorgt, – da erinnerte sie sich deutlich des Verstorbenen und seiner Worte, die er so manchmal vorahnend zu ihr gesprochen hatte, daß sie dereinst eine Künstlerin sein werde.

»Wenn er dich jetzt einmal sehen könnte, Minchen, und dich spielen hörte –«

»Er sieht und hört mich, Christel,« sagte Mignon bewegt, »ja, er war immer bei mir! Ohne ihn wäre ich nicht geworden, was ich bin. Wenn ich die Geige im Arm halte und den Bogen führe, fühle ich stets seine Nähe. Er lächelt mir zu und oft sogar spricht er zu mir, – dann höre ich die Worte, die er so oft zu mir sprach: »Meine kleine Mignon, das hast du brav gemacht!« –

Am selben Tage, als Mignon abgereist war, erhielt Christel einen Geldbrief, begleitet von folgenden Zeilen:

»Meiner lieben Christel das fehlende Geld zum Ankauf der Bäckerei.

Wenn Du in Deinem Hause am Markte sitzest, dann erinnere Dich manchmal des verstoßenen Waisenkindes, das Du so liebevoll an Dein Herz nahmst.

Dein Minchen.«

 

Hier ist nun meine Erzählung zu Ende. Mignon ist eine sehr berühmte Künstlerin geworden und weilt augenblicklich in Amerika, wo sie große Erfolge erzielt. August hat sie noch nicht wiedergesehen, aber sie hat an ihn geschrieben, und er hat ihr glückselig geantwortet. Er ist an einer Hofkapelle angestellt als Flötenspieler. Und Bruno? – Nachdem er fast das ganze Vermögen seiner Mutter verschwendet hatte und sie vor Gram darüber gestorben war, beging er einen Diebstahl und wurde zu einer Gefängnisstrafe verurteilt.

Eines Tages, – Mignon war in New York, – hat er an ihre Türe gepocht und gebettelt. Sie erkannte Bruno in dem zerrissenen, in Lumpen gekleideten Manne und – hat ihm reichlich gegeben.

Erinnert ihr euch, liebe Kinder, wie Frau Butz einst hoffärtig zu Christel sagte: »Meine Kinder brauchen niemals Bettelbrot zu essen.«

Und nun? –

Die Wege des Himmels sind wunderbar!


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