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Der erste Tag in der Bäckerfamilie

Mit dem Kinde an der Hand verließ die Wäscherin die öde, traurige Wohnung, verschloß ihre Stubentür und ging die Treppe hinunter. Gerade wie sie den Hof durchschritten, läuteten die Glocken, denn es war Sonntag. Die Alte blieb einen Augenblick stehen und horchte darauf.

»Hörst du die Glocken läuten?« fragte sie. »Das wird dir Glück bringen. Der liebe Gott segnet deinen Eintritt. Bleib nur immer fromm und gut, dann verläßt er dich auch nicht.«

Nun traten sie in das Seitengebäude, weil dort die Küche lag. Die Frau wollte zuerst mit Christel sprechen, die schon viele Jahre bei Frau Butz diente. Zuvor strich sie noch einmal über Mignons Scheitel, damit auch kein Härchen hervorstand, – aber o weh! Wo war der schöne Zopf geblieben? Er war verschwunden und statt dessen kräuselten sich die dunklen Locken widerspenstiger denn je. Alle ihre Mühe war umsonst gewesen.

Christel spickte einen mächtigen Kalbsbraten, als die beiden eintraten, und tat, als ob sie dieselben nicht sähe.

»Guten Morgen,« redete Frau Steinbach sie an, »da bringe ich das Kind, Christel.«

»Ist nicht meine Angelegenheit,« sagte sie mürrisch und spickte ruhig weiter, »ich mische mich nicht hinein.«

»Aber der Herr hat befohlen, daß ich die Waise bringen solle. Seien Sie nicht so böse, Christel, bringen Sie das Kind hinein.«

»Ich bin nicht böse, nein, gar nicht! Aber warum soll ich mich freuen, wenn ein Zankapfel ins Haus fällt. Es hat schon Spektakel abgesetzt heute früh, Sie hätten es nur hören sollen! Der Herr wollte durchaus, die Frau aber nicht. Sie wolle kein Bettelgesindel ins Haus nehmen, sagte sie. Nun ja, Frau Steinbach, arm sein ist schlimm, das wissen wir beide, aber es ist keine Schande, das wissen wir auch. Bringen Sie das Mädchen nur selbst zur Herrschaft; wenn der Herr es so befohlen hat, hält er auch sein Wort, da hilft der Frau ihr Schimpfen nichts.«

Und sie führte die Frau mit dem Kinde in das Wohnzimmer und blieb einige Augenblicke in der halb offenen Tür stehen, um das Gesicht ihrer Herrin zu beobachten, aber die saß am Fenster und sah sich nicht um.

»Mutter, da ist sie! Die Musikantentrine, das Bettelmädchen!« rief Bruno, der eben im Begriffe war, in die Kirche zu gehen und schon das Gesangbuch in der Hand hielt. Natürlich zögerte er fortzugehen, er mußte doch erst wissen, wie es werden würde, ob der Vater Recht behielt oder ob die Mutter ihren Willen durchsetzte.

»Was willst du denn hier?« fragte er durchdringend und trat dicht vor Mignon hin, die sich ängstlich hinter Frau Steinbach verkroch. »Wir wollen dich nicht haben, mach, daß du fortkommst!«

»Junger Herr,« so mußte der Schlingel von fünfzehn Jahren auf Befehl seiner Mutter genannt werden, – »Sie haben darüber nicht zu bestimmen, Ihre Eltern haben, meine ich, das erste Wort. Sie sollten aber mit dem Gesangbuch in der Hand nicht so böse Worte sagen.«

Jetzt erhob sich Frau Butz. Bis dahin hatte sie unverwandt auf die Straße gesehen und getan, als ob sie das, was im Zimmer vorging, gar nichts anginge. Aber es schien nur so. Kein Wort hatte sie verloren, und was Bruno, ihr Liebling, der mit seinem rötlichen Haar, seinem breiten Mund und den hämischen, hellen Augen das ganze Ebenbild seiner Mutter war, soeben gesagt hatte, war ihr vollständig aus der Seele gesprochen.

»Sie haben meinem Sohne keine guten Lehren zu geben, Frau Steinbach,« sagte sie streng, und blickte die Frau so recht von oben herab an, »verstehen Sie mich? Er hat recht, wie kommen wir dazu, fremder Leute Kind durchzufüttern! Ins Waisenhaus damit, wohin es gehört!«

Ein Blick des Hasses traf Mignon dabei aus ihren Augen, niemals in ihrem ganzen Leben hat sie denselben vergessen. »Komm fort,« bat sie und klammerte sich an Frau Steinbach an, – »die böse Frau tut mir was!«

Kurt und August, die beiden jüngeren Knaben von zwölf und zehn Jahren, saßen am runden Tische und machten ihre Schularbeiten, aber sie sperrten jetzt Mund und Nase auf und verwandten keinen Blick von Mignon.

»Du, die spielt Geige!« flüsterte Kurt und stieß den kleinen August an. »Ein Mädchen und spielt Geige!« kicherte er wieder, es kam ihm gar zu seltsam vor.

August aber verzog keine Miene. Er kaute an seinem Federhalter und mit seinen offenen Kinderaugen sah er ängstlich und teilnehmend bald auf die Mutter, bald auf Mignon.

Frau Steinbach hatte in ihrem Leben mit guten und bösen Menschen verkehrt, aber eine Frau mit einem so harten Herzen, wie es jene hatte, nein! – die war ihr niemals in den Weg getreten.

Was ihr lange nicht vorgekommen war, das geschah ihr heute. Als die Kleine wie hilfesuchend sich an sie klammerte, da traten ihr Tränen in die Augen. Sie legte ihre Hand wie beschützend auf des Kindes Haupt, und ihre Stimme zitterte leicht, als sie sich an die Bäckermeisterin wandte.

»Es soll Ihnen nicht zur Last fallen, Frau Butz, ich will für die Waise sorgen, so gut ich es kann. Ich wasche bei vornehmen Herrschaften – heute noch will ich von einer zur andern gehen und sie bitten, daß sie sich für das arme Ding verwenden, damit es Aufnahme in dem Waisenhause findet. Und bis es soweit ist, bringe ich es zu meiner Tochter, sie hat zwar selbst nichts übrig und muß sich mit ihrem Tischler tüchtig abquälen, um ihre vier Kinder durchzubringen, aber ich weiß, sie wird ohne Besinnen das fünfte an ihrem Tisch mit aufnehmen, wenn ich ihr sage, daß es ganz verlassen ist, – ich kenne ihr gutes Herz!«

»Das hätten Sie gleich tun sollen, das wäre klüger gewesen! Wozu haben Sie erst den ganzen Auftritt gemacht! Ehe man hergelaufene Kinder, von denen man nicht einmal weiß, woher die Eltern eigentlich stammen, anständigen Leuten ins Haus schleppt, da klopft man erst an das Waisenhaus, und wenn da nicht aufgemacht wird, an das Armenhaus. Das konnte Ihnen Ihr kleiner Finger sagen, Frau Steinbach!«

Mignon schluchzte herzzerreißend. Sie wußte eigentlich nicht recht, warum, nur Furcht hatte sie vor der laut zankenden Frau. Was dieselbe sprach, verstand sie nicht, noch nie hatte sie etwas Ähnliches vernommen. Wenn nur ihr Papa käme, der so lieb und sanft zu ihr sprach. Ach! sie konnte noch immer den Gedanken nicht fassen, daß sein Mund ganz verstummt war.

Da wurde plötzlich ihre Hand berührt, August stand neben ihr, sie hatte ihn nicht kommen sehen.

»Du, Mädchen,« sagte er treuherzig, »weine nicht. Wir tun dir nichts. Mutter,« bat er dann, »laß sie doch bei uns bleiben.«

»Dummer Junge,« fuhr ihn Bruno an, »halte deinen Mund! Meinst wohl, das kostet nichts? Mutter, nicht wahr, für die geben wir unser Geld nicht aus, das fehlte noch! Was stehst du denn noch immer da! Mach, daß du fortkommst, hörst du?«

Er war eben im Begriff, ihr einen Stoß zur Tür hinaus zu geben, als sich plötzlich die Hand seines Vaters schwer auf seine Schulter legte. Unbemerkt hatte derselbe bereits einige Augenblicke in der offenen Tür gestanden und jedes Wort mit angehört.

»Du hartherziger Bube!« fuhr er ihn an, »hast du kein Mitleid mit dem Kinde da! Schäme dich! Bist im Begriffe, in die Kirche zu gehen und kannst vorher so gottlos sprechen. Marsch, fort mit dir und bitte deinen Herrgott, daß er dich bessere!« Damit stieß er Bruno unsanft zur Tür hinaus, daß er die paar Stufen hinunterstolperte. Scheu blickte er zur Seite, denn er glaubte, der Vater würde noch ein paar tüchtige Ohrfeigen folgen lassen, und im Nu war er draußen auf der Straße.

»Warte, du Bettelmädchen!« sagte er wütend und machte eine Faust. »Das sollst du mir büßen! Ich will dir's heimzahlen!«

»Und nun, Frau,« wandte sich Herr Butz zu dieser, »ordne an, wo das Mädchen schlafen soll, denn es bleibt hier, das ist mein letztes Wort!«

»Für immer?« fragte August sehr vergnügt.

»Wenn sie niemand von uns fordert, – ja – dann bleibt sie immer bei uns.«

»So!« rief Frau Butz und stand mit solcher Heftigkeit von ihrem Stuhle auf, daß derselbe hintenüberfiel, »also immer! Vor einer Stunde sagtest du anders, da hieß es: bis sie einen Platz im Waisenhause findet; nun ist davon keine Rede mehr. Immer! Als ob es sich von selbst verstände!«

»Ich komme eben von der Anstalt her, Frau. Sie wollen oder können, wie der Herr Vorstand sagt, das Kind nicht aufnehmen. Es müsse fortgebracht werden nach dem Geburtsorte seines Vaters, oder dorthin, wo er Bürger war. Das jammerte mich und ich erklärte kurz: die Waise solle in meinem Hause bleiben von nun an!«

»So, das hast du erklärt! Mich fragst du natürlich nicht, ob ich damit einverstanden bin, – ich bin eine Null und gelte gar nichts! Der Herr befiehlt – die Frau gehorcht! Ob unsre Kinder dadurch an ihrem Eigentum geschädigt werden, das ist gleichgültig, dir wenigstens. Oder denkst du vielleicht, es kostet nichts, das Mädchen großzuziehen? Meinst du, daß Schulgeld – Kleidung, das tägliche Brot nur so vom Himmel herabfallen?«

Mit steigender Wut hatte sie gesprochen, und als sie zu Ende war, drehte sie ihrem Manne den Rücken und trommelte gegen die Fensterscheiben.

»Darüber mach dir keine Sorge, Frau,« versetzte er in Gelassenheit, »das ist meine Sache. Brot gibt es genug bei uns im Hause, und für das übrige wird auch gesorgt werden.«

»Komm her, Kind,« wandte er sich der Kleinen zu und nahm sie Frau Steinbach von der Hand. »Du bleibst jetzt hier und ihr Jungen nehmt euch der Verlassenen an. Vater und Mutter sind beide tot, vergeßt das nimmer. Für euch sorgen die Eltern, für das Kind da niemand!«

Wie der Wind war August von seinem Stuhle herunter und stellte einen andern dicht neben den seinen.

»Da setze dich hin,« sagte er, »hier auf diesen Stuhl. Kannst du allein hinaufkommen, oder soll ich dir helfen?«

Er bückte sich zu ihr hernieder, obgleich er gar nicht viel größer war als sie, und sprach in einem so zärtlich beschützenden Tone zu ihr, als ob er ein kleines Kind vor sich habe.

»Sieh mal, Papa,« sagte er zu diesem, »wie klein sie noch ist, sie reicht kaum an den Tisch. Sie ist viel kleiner als ich, nicht wahr?«

Der Bäcker fuhr ihm durch das blonde, lockige Haar und nickte ihm herzlich zu, dabei warf er einen Blick auf seine Frau, was sie wohl zu Augusts gutem Herzen sage.

Die aber sagte nichts. Sie hatte ihren großen Strickstrumpf in die Hand genommen und strickte grimmig Nadel auf Nadel, daß es klapperte, und als ihr Mann kopfschüttelnd zur Tür hinausging, wandte sich ihr Ärger gegen Frau Steinbach.

»Das haben Sie angerichtet, Frau Steinbach,« fuhr sie dieselbe zornig an. »Nun habe ich die Last auf dem Halse!«

Die Wäscherin stand noch zögernd da. Sie überlegte, ob es nicht besser sei, Mignon wieder mit sich zu nehmen, und ob sie es verantworten könne, dieselbe so unbarmherzigen Händen anzuvertrauen, – aber es blieb ihr keine Wahl, – wohin sollte sie mit ihr?

Sie nickte der Kleinen, die sie in der kurzen Zeit liebgewonnen, noch einmal zu, dann ging sie fort mit recht bekümmertem Herzen.

Habt ihr draußen im Walde einmal ein kleines Vögelchen gefangen, kleine Mädchen, und es zu Hause in einen engen Bauer gesteckt? Ja? Habt ihr gesehen, wie es ängstlich hin und her flattert darin, oder am Boden sitzt, und wie sein kleines Herz bange klopft, wenn ihr den Bauer dicht umsteht und es mit euren Augen anstarrt? Seht, solch ein gefangener Vogel war Mignon. Mit einem Male war sie aus ihrer glücklichen Freiheit, von ihrem lieben Papa fort unter lauter fremde Menschen versetzt, die sie nicht kannte und die sie nicht lieb hatte, vor denen sie sich sogar fürchtete.

Blaß und ängstlich, immer noch mit der Geige im Arme, saß sie neben August, der mit seinen gesunden roten Wangen wie ein Borsdorfer Apfel gegen sie aussah.

»Magst du das haben?« fragte er und schob ihr ein buntes Bildchen zu. »Ich will es dir schenken, nimm es nur.«

Aber sie nahm es nicht, kaum, daß sie es ansah. Mit banger Erwartung blickte sie nach der Tür, durch die Frau Steinbach verschwunden war, und hoffte, daß sie zurückkehren werde. Aber sie kam nicht, und Mignon fing an bitterlich zu weinen.

»Laß mich fort,« bat sie August, »ich will nicht hier bleiben.«

»Das geht nicht,« beruhigte der sie altklug. »Du kommst nicht fort, du bleibst nun immer bei uns. Gelt, das ist hübsch? Nachher spiele ich mit dir, sei nur ganz ruhig. Soll ich dir mein neues Bilderbuch zeigen? Ja?«

»Mach deine Schularbeiten und laß das Mädchen in Ruhe!« donnerte Frau Butz dazwischen.

Mignon fuhr zitternd zusammen, und August tauchte schnell die Feder in das Tintenfaß und schrieb einige Worte; dann hörte er wieder auf und schielte mitleidig nach seiner kleinen Nachbarin, die ihre tränenden Augen unverwandt auf die strenge Frau gerichtet hielt.

»Komm mal hierher, du,« befahl dieselbe. »Wie heißt du?«

Mignon rührte sich nicht und gab auch keine Antwort.

»Mignon heißt sie, Mutter,« antwortete August schnell für seinen Schützling.

»Habe ich dich gefragt, Naseweis? Sie hat selbst einen Mund. Nun, wird's bald?«

Leise und in kläglichem Tone brachte sie endlich hervor: »Mignon.«

»Was, Mignon?« und sie lachte laut und höhnisch. »Dein Vater hätte dir lieber ein paar Taler Geld hinterlassen sollen, als so einen hochtrabenden Namen. Bei uns wirst du ›Mine‹ genannt; für ein Fräulein Habenichts paßt kein vornehmer Name, merk dir das. Was heulst du denn, Mädchen!« kreischte sie plötzlich und warf ihr Strickzeug auf die Erde, daß der Knäuel weithin durch die Stube kollerte, »du machst mich rasend damit! Ich sperre dich ein, wenn du nicht ruhig bist!«

Mitten in ihre zornigen Worte hinein erklangen plötzlich schaurige Mißtöne. Kurt hatte schon lange sein Auge auf die Geige geworfen, und als Mignon mit derselben so dicht bei ihm saß und er nur die Hand nach ihr auszustrecken brauchte, da konnte er der Verlockung nicht widerstehen. Mit einem herzhaften Griffe war die Geige in seiner Hand und er fiedelte lustig drauf los und machte die schönste Begleitung zu der Mutter Gezänk und Mignons erbärmlichem Schluchzen.

Mignon war im Nu von ihrem Stuhle herunter und fing an, mit Kurt um ihre Geige zu zerren.

»Sie gehört mir, Junge! Mein Papa hat sie mir geschenkt!« rief sie außer sich. »Du darfst nicht darauf spielen! Gib her!«

Kurt belustigte sich über den Zorn des kleinen Mädchens, und lachend und neckend schwang er die Geige über seinem Kopfe.

»Nimm sie doch, Mine, – da! Hast du sie?« Dicht hielt er sie vor ihre Augen, und wenn sie zugreifen wollte, – fort war sie! Wieder hoch in der Luft!

Nun mischte auch August sich hinein und hielt Kurt am Arme fest; es wurde eine Balgerei daraus, die aber nur einen Augenblick dauerte und viel schneller zu Ende war, als ich euch dies erzählen kann, denn schon riß Frau Butz die Kinder auseinander und hielt die Geige in ihrer Hand.

»Wie kannst du dir die Frechheit erlauben, im fremden Hause Zank anzufangen!« schrie sie förmlich – »du ungezogenes Mädchen! Marsch in die Ecke! Dort bleibst du stehen, bis die Glocke zwölf schlägt! Ihr beiden arbeitet, das rate ich euch; wer mit dem Mädchen spricht, kriegt nichts zu essen!«

August sah verstohlen nach der Uhr und rechnete aus, daß bis zwölf noch eine volle halbe Stunde sei. – Und Mignon?

Das arme Kind, es kam heute aus den Tränen gar nicht heraus. So unglücklich hatte es sich noch niemals gefühlt. Es war, als müsse ihm das kleine Herz zerspringen vor Kummer und Weh.

Sie stand da in der Ecke, und ohne daß sie es selbst recht wußte, sprach sie mit leiser, schluchzender Stimme: »Mein lieber, guter Papa, ich will zu dir, – hole mich! Sie haben mir meine Geige fortgenommen, nun habe ich keine mehr!«

Dabei hatte sie die Hände ineinandergefaltet und sah so recht aus wie ein armes, ganz verlassenes Waisenkind.

Unbekümmert um des Kindes Jammern, verließ die Bäckerfrau mit einem großen Schlüsselbunde in der einen und der Geige in der andern Hand das Zimmer. Drei Treppen stieg sie in dem Nebengebäude, in welchem die Küche lag, hinauf, schloß die Tür zu dem Boden auf, suchte eine Kiste hervor, öffnete den Deckel derselben und begrub in ihr die Geige – des Kindes letztes Glück.

»So,« sagte sie und legte den Deckel wieder fest darauf, »nun hat die Freude ein Ende, – nun können die Ratten Musik darauf machen.«

Als sie die Treppen, die unter ihren schweren Tritten ordentlich stöhnten und ächzten, wieder herabging, blieb sie an einer Tür, die seitwärts auf dem zweiten Treppenabsatz lag, stehen. Sie öffnete dieselbe und trat in eine kleine Kammer.

Ein niedriges Gemach, kein wohnlicher Aufenthalt war es. Allerhand Gerümpel stand darin umher. Zerbrochene Stühle, ein Spiegelrahmen ohne Glas, Bilderrahmen, Blumentöpfe mit ausgeblühten Hyazinthen und noch viele andre Dinge, die verbraucht und schlecht waren, befanden sich in dem Raume.

Frau Butz schob die Blumentöpfe beiseite, daß sie klirrend in Scherben fielen, und ging gerade auf eine Kinderbettstelle zu, die hinten an der Wand stand und voll Staub und Schimmel war.

»Die ist gut für den Balg,« sagte sie für sich, »zu gut eigentlich – sie wird kein solches Lager gewöhnt sein.« Aus einem Korbe, der dicht neben der Bettstelle stand, nahm sie eine dünne wollene Decke und warf sie auf die Matratze von Seegras. Ein Kopfkissen oder ein warmes Deckbett hielt sie für überflüssig, das harte Keilkissen war mehr als ausreichend.

»Armut darf nicht verwöhnt werden,« sprach sie hart, »jeden Augenblick soll das Mädchen daran erinnert werden, daß es nichts hat und nichts ist! Arbeiten soll es, daß ihm die Finger weh tun, dafür werde ich sorgen.«

Mit diesen bösen Gedanken verließ sie die Rumpelkammer und ging hinab in die Küche.

»Christel,« sprach sie, »schaffe dem Mädchen seine Sachen auf die Rumpelkammer, dort soll es schlafen. Gib ihm den Besen in die Hand, daß es erst auskehrt. Du wirst von jetzt an dafür sorgen, daß es Ordnung hält, ich habe nicht Lust, mich damit zu befassen.«

»Es sind Mäuse in der Matratze, Frau, und haben Löcher hineingefressen, – sie muß erst gemacht werden,« – wandte Christel ein.

Die Frau war schon halb zur Tür hinaus, als sie noch einmal zurückkam.

»Sie bleibt, wie sie ist,« sagte sie streng und entschieden, »nichts wird daran gemacht. Wenn das Mädchen drauf schläft, gehen die Mäuse von selbst fort. Löcher habe ich nicht gesehen, sind welche darin, so macht das nichts aus, – in ihrer Lumpenwirtschaft war sie es nicht anders gewöhnt.«

Christel sagte nichts weiter, aber kopfschüttelnd blickte sie der Frau nach.

»Wie ist es möglich,« dachte sie, »daß eine Mutter, die noch obendrein reich ist, so grausam gegen ein Waisenkind handeln kann!«


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