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Die Flucht

Eine halbe Stunde mochte vergangen sein, da erhob sich Mignon, um hinunterzugehen. Ihre Tränen flossen noch immer, und ihr Gesicht war vom Weinen und von den Schlägen dick aufgeschwollen, sogar ein blutiger Streif zog sich über die Wangen hin und machte ihr Aussehen noch kläglicher.

Ohne recht zu wissen, wohin und was sie wollte, stieg sie die Treppe hinab, ging über den Hof und in die Küche. Nicht um Kartoffeln zu schälen, sie dachte nicht daran, zu Christel zog es sie hin, bei ihr wollte sie Trost suchen.

Aber die war nicht dort, statt dessen stand die Bäckerfrau, mit dem Rücken der Tür zugekehrt, vor dem Ofen.

Geradezu entsetzt prallte das Kind zurück, als sie die Frau stehen sah, die sie eben so grausam gemißhandelt hatte. Zitternd am ganzen Körper, kehrte sie um; die Angst, sie könne aufs neue geschlagen werden, gab ihren Füßen Flügel. Sie eilte zum Torweg hinaus, die Straße hinunter und fort, fort! – Das war der einzige Gedanke, der sie beherrschte und dem sie willenlos gehorchte.

Wohin sie wollte? Sie wußte es nicht, blindlings lief sie vorwärts, immer zu. – Nur nicht umkehren!

Sie kam in Straßen, die sie nicht kannte, und endlich hinaus in das Freie.

Es war eine breite, mit Linden bepflanzte Landstraße, auf der sie sich befand, rechts und links standen schöne Häuser mit herrlichen Gärten davor, Kinder spielten munter in denselben, – sie achtete nicht daraus. Die Angst, man könnte sie zurückholen, trieb sie unaufhaltsam weiter.

Niemand indes kümmerte sich um das kleine Wesen, das so verweint und schmutzig im Gesichte war; achtlos gingen die Menschen an ihm vorüber.

In einer großen Stadt ist das nicht anders. Die Leute haben genug mit sich zu tun und keine Zeit, an andre zu denken.

Einmal glaubte sie Brunos Stimme hinter sich zu hören; er war es nicht, ein andrer Knabe kam hinter ihr her, aber sie erschrak und fing an zu laufen, so schnell sie ihre Füße tragen konnten.

Als sie merkte, daß sie nicht verfolgt wurde, blieb sie atemlos stehen. Es war still ringsum und die Sonne war im Begriff unterzugehen. Wie eine große, brennende Kugel stand sie über den Bäumen im nahen Walde, und jetzt senkte sie sich langsam nieder; als sie verschwunden war, strahlte der Himmel in feuriger Glut.

Niemals hatte Mignon einen Sonnenuntergang gesehen; stumm und mit gefalteten Händen blieb sie stehen und starrte in die flammenden Wolken.

»Jetzt ist der Himmel offen,« dachte sie in ihrer Unwissenheit, »nun kann ich hinein. Hinter den Bäumen stößt er bis auf die Erde, dort gehe ich in das Himmelstor, da finde ich meinen lieben, lieben Papa und die Mama.«

Mit frischem Mute setzte sie ihre Wanderung fort. Auf der einsamen Landstraße begegnete ihr niemand mehr, weit und breit war kein Haus mehr zu sehen. Nur ein kleines, ärmliches Waldhüterhaus stand seitwärts am Wege, dicht am Waldesrand, und ein altes Mütterchen saß davor und verzehrte sein Abendbrot.

»Wo willst du denn hin so allein?« fragte sie Mignon, als dieselbe an ihr vorübergehen wollte.

Scheu blickte sie zur Seite und gab keine Antwort.

»Da hast du ein Stückchen Brot,« sagte die Frau gutmütig und brach einen Teil von dem ihrigen ab. – Das Kind war hungrig, mehrere Stunden hatte es nichts genossen, zögernd trat es näher und nahm das Dargereichte.

»Willst du allein durch den Wald gehen? Es wird ja dunkel und du verirrst dich. Wo wohnen denn deine Eltern und wie heißt du?«

Mignon beantwortete keine der Fragen. »Ich muß fort,« das war das einzige, was sie hervorbrachte.

Die Alte schüttelte den Kopf, als die Kleine davonging. »Wie können die unvernünftigen Eltern so einen Knirps allein durch den Wald schicken?« sagte sie für sich, – »es ist eine Schande!«

Mignon aber fürchtete sich nicht, sie wollte geradezu in den Himmel marschieren. Ihr lacht sie aus, nicht wahr? Aber sie war nun einmal ein einfältig Ding, das noch nichts gelernt hatte. Wer hätte sie auch belehren sollen?

Als sie in den Wald eintrat, blieb sie einen Augenblick zweifelnd stehen. Sie wußte nicht, welchen Weg sie einschlagen sollte. Den breiten Fahrweg, der geradeaus führte, oder den schmalen Seitenweg, der sich unter dichten Tannen am Bache entlang schlängelte. Sie wählte den ersteren, es war schon so dunkel unter den Tannen, und aus der Fahrstraße schien der Mond.

Sein bleicher Schein machte sie irre. Wo war der offene Himmel geblieben? Sie sah einen langen, langen Weg ohne Ende, und von der Himmelspforte war nichts zu erblicken. – Rechts und links standen hohe Bäume, ängstlich schaute sie an den mächtigen Stämmen empor. Wenn ein Vogel aufflog oder eine Eidechse durch das Laub raschelte, schrak sie zusammen. Einige Schritte von ihr lag ein abgebrochener Baumstamm. Ein Mondstrahl fiel auf ihn und gab ihm ein gespenstiges Aussehen; sie dachte nicht anders, als daß es ein Ungetüm sei, das auf sie zukäme; als in demselben Augenblick eine Eule dicht über ihren Kopf hinstreifte und unheimlich schrie, bückte sie sich und hielt sich die Augen zu. Dabei stolperte sie über eine Wurzel und fiel zu Boden.

Da lag sie nun und konnte nicht aufstehen vor Müdigkeit und Schmerzen in den Füßen. An den Weg in den Himmel dachte sie nicht mehr, auch nicht mehr an die Eltern, die sie aufsuchen wollte, – zu Christel und ihrem Stübchen wanderten ihre Gedanken, und sehnsüchtig sah sie den Weg zurück, den sie gekommen, dann und wann stieß sie einen schluchzenden Seufzer aus, und zuletzt fielen ihr die müden Augen zu.

Leise nahm der Schlaf sie in seinen Arm und führte sie zurück in ihr behagliches Bett, – in ihrer lieben Christel Stübchen.

Dicht am Rande des Weges, den Arm unter den Kopf gelegt, lag sie platt aus der Erde hingestreckt. Neben ihr zirpten die Heimchen schrill und laut – sie hörte es nicht, auch nicht, als zwei Rehe dicht an ihr vorbeihuschten; fest und tief schlummerte sie, und der volle Mond schien auf sie herab und lächelte sie an, als ob er sagen wollte: Schlafe nur ruhig, du kleines Menschenkind, ich bin da und wache über dir.


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