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Auf dem Jahrmarkt

Nach einer langen Fahrt kam Herr Köberle mit seiner zwei- und vierbeinigen Familie gegen Abend in Eisenach an. Er mußte durch die ganze Stadt, von einem Tor zum andern fahren, ehe er den Jahrmarkt erreichte.

Es war ein reges Leben dort. Die meisten Buden standen bereits fertig da, nur in einigen war man noch dabei, auszupacken und einzuräumen. Die Braunschweiger Pfefferkuchen-Fräulein luden schon freundlich jeden zum Kaufen ein, der sich in ihrer Nähe blicken ließ; ein noch nicht ganz fertiges Karussell, – seine schwarzen, weißen und braunen Pferdchen lagerten vorläufig noch aus dem grünen Rasen, – wurde von groß und klein in froher Erwartung umdrängt.

Verschiedene Leute hatten ihre Buden verlassen und sich im Freien gelagert. Sie hatten ein lustiges Feuer angezündet und kochten sich an demselben Kaffee oder Kartoffeln zu ihrem Abendbrote.

Damit es ihnen dabei nicht an Tafelmusik fehlte, stellte sich ein Invalide mit einem Arm mitten auf dem Platze aus und ließ seine Drehorgel ertönen, dazu sang er mit herzzerreißendem Basse: »O du mein Waldemar!«

Hier also wurde haltgemacht. Herr Köberle nahm sofort Besitz von einer Bude und fing auch gleich an, sich in derselben einzurichten: am andern Tage sollten die Vorstellungen beginnen.

Mignon stand mit offenem Munde dabei und schaute zu, wie die Tiere aus dem Wagen in die Bude übergeführt wurden. Einige Affen, vier Hunde und zwei kleine schwarze Ponys. Letztere wurden sogleich vor der Bude festgebunden, damit das Publikum Bekanntschaft mit ihnen mache, – und Lust bekäme, Herrn Köberles Künstler näher kennenzulernen. – Am andern Tage wurde ein buntes Bild über dem Eingange befestigt, darauf waren die Affen und Hunde abgebildet, wie sie die halsbrechendsten Kunststücke machten, und am Nachmittage begannen die Vorstellungen. Frau Köberle saß in der Tür und verkaufte Eintrittskarten, das kleine Kind hatte sie dabei auf dem Schoße.

Es waren mehrere Tage verflossen, und noch immer hatte Herr Köberle keine Meldung von dem gefundenen Kinde gemacht. Er hatte so viel zu tun, daß er es darüber vergaß. Seine ›Künstler‹ nahmen ihn den ganzen Tag in Anspruch. Bald fütterte er sie, bald lehrte er sie Kunststücke, immer war er beschäftigt. Mignon dachte erst recht nicht daran, sie lebte so in den Tag hinein.

Oft zwar sehnte sie sich herzlich nach ihrer Christel, aber der Gedanke an eine Rückkehr kam ihr gar nicht in den Sinn. Trotzdem fühlte sie sich nicht glücklich. Sie war freier und wurde nicht mehr so gepeinigt, aber sie konnte sich nicht in das zügellose, ungebundene Leben hineinfinden. Die rohen Schimpfreden der Leute entsetzten sie, – selbst der kleine Franzel führte die schrecklichsten Worte im Munde, – und der Schmutz und die Unordnung wollten ihr gar nicht behagen, denn sie war unter Christels Leitung zu einem sauberen kleinen Mädchen geworden.

Die Vorstellungen machten ihr auch nicht die rechte Freude, sie hatte zu viel Furcht dabei und zitterte für die armen Tiere, daß sie etwas falsch machen könnten, sie wußte ja, wie sie dann mit der Peitsche geprügelt wurden.

»Madame Pompadour« war ihre beste Freundin geworden. Ihre Aufführung belustigte sie am meisten. Der Pudel war auch fast so klug wie ein Mensch.

Wie eine Dame angekleidet mit einem Schleppkleide, einem runden Hut mit wollender Feder daran, erschien er, auf zwei Beinen gehend, setzte sich auf einen kleinen, runden Tisch und ließ sich von einem Affen aufwarten, der mit einem Tressenrocke wie ein Bedienter gekleidet war, und einen Teller mit Fleisch und Brot in der Pfote hielt. Er mußte diesen stets der Madame Pompadour vorsetzen. Manchmal vergaß sich der Bediente und fiel aus der Rolle; dann sprang er mit dem Teller mitten aus den Tisch, und wenn der Pudel zugreifen wollte, fletschte er die Zähne und wollte nichts hergeben. Sobald indes Herr Köberle rief: »Hallo, Jacques, was fällt dir ein? Gleich bedien die gnädige Frau!« und dabei die Peitsche sehen ließ, besann sich Jacques und war wieder ein ganz gehorsamer kleiner Bedienter.

Die Ponys kamen stets zuletzt an die Reihe, sie bildeten den Glanzpunkt der Vorstellung. Franzel ritt bald auf dem einen, bald auf dem andern, in einem kurzen, mit Flittern besetzten Röckchen, und machte dreist und furchtlos verschiedene halsbrechende Kunststücke. – Zum Lohne dafür flogen ihm oftmals allerhand Leckerbissen aus dem Zuschauerraume zu, und er dankte dafür, indem er Kußhände nach allen Seiten austeilte.

Eines Morgens waren Mignon und Franzel allein in der Bude. Herr Köberle, der eben eine Probe abgehalten, war auf kurze Zeit hinausgegangen. Er hatte auf einer alten, schlechten Geige den Hunden zum Tanze aufgespielt und sie jetzt aus der Hand gelegt.

Mignons Augen glänzten vor Freude, als sie das kleine Instrument unbewacht liegen sah. Ohne sich zu besinnen, ergriff sie dasselbe und fing an zu spielen.

Franzel klatschte vergnügt in die Hände, und sobald sie einen Augenblick innehielt, rief er: »Mehr – mehr! Spiele weiter! Du kannst viel besser geigen als mein Papa!«

»Alle Wetter!« rief Herr Köberle, der zurückgekommen war und schon einige Augenblicke zugehört hatte, »der Junge hat recht! Du bist ja ein Blitzmädel!« Und ein Gedanke schoß ihm durch den Kopf, den er sogleich seiner Frau mitteilte.

»Das Mädchen bleibt bei uns!« sagte er, »die geben wir nicht zurück.«

»Und wenn sie bei uns gefunden wird, kommen wir in Strafe, Joseph, die Polizei macht keine Umstände.«

»Ach was! Wer soll sie denn suchen! Um Waisenkinder macht man nicht viel Lärm. Wir haben das Kind gefunden, es ist uns zugelaufen! Weder geraubt noch gestohlen haben wir dasselbe. Wenn sich übrigens der Eigentümer findet, liefern wir es wieder ab, – selbstverständlich! Vorläufig aber soll es uns helfen, Geld verdienen.«

Die Frau sah ihn aufhorchend an. »Geld verdienen?« fragte sie.

»Ich habe eine famose Idee, Rose – paß mal auf! Das Mädchen sitzt auf dem Pony und spielt dabei die Geige! Rose!« wiederholte er und legte den Finger mit wichtiger Miene an die Nase. »Noch nie dagewesen! Nun, was sagst du dazu?«

Sie teilte seine Ansicht, und so wurde denn Mignon zur Probe sofort auf den Pony gesetzt, um zu versuchen, wie sie sich dabei anstelle.

Schlecht und ungeschickt genug, sie war sehr ängstlich und fiel herunter, als sich das Pferdchen in Bewegung setzte.

»Festsitzen!« schrie sie Herr Köberle an und gab ihr die Zügel in die Hand. »So hältst du das linke Bein und hierher legst du das rechte. Nun hatte die Zügel straff. Fällst du noch einmal, setzt es Wichse.«

Er führte den Pony langsam herum und – siehe da! Mignon fiel nicht zum zweitenmal, ja, sie lernte wunderbar schnell, gerade und gut sitzen.

Nun mußte sie, ohne die Zügel in der Hand zu haben, frei reiten. Das war schwer und die verheißenen Wichse blieben dabei nicht aus.

»In drei Tagen bist du fertig, oder ich drehe dir das Genick um, Mädchen!« drohte Herr Köberle mit einem so bösen Gesicht, als ob er wirklich dazu imstande wäre.

In Todesangst und mit Herzklopfen brachte Mignon es in drei Tagen wirklich so weit, daß sie im langsamen Schritte frei reiten konnte, und als er ihr die Geige zureichte, um gleichzeitig darauf zu spielen, brachte sie auch das fertig. –

»Heute abend geht's los!« sagte Herr Köberle zu seiner Frau. Und er klebte einen roten Zettel an seine Bude, aus welchem mit großen Buchstaben gedruckt stand:

 

Extravorstellung!

Noch nie dagewesen!

Das Konzert auf dem Pony, ausgeführt von der kleinen
Signora Mignon Maccaroni.

 

Den italienischen Zunamen hatte er ihr beigelegt, »weil der mehr zieht,« wie er sagte.

Und er hatte sich nicht geirrt. Der rote Anschlag und der fremde Name zogen eine Menge Leute herbei, und als die Vorstellung begann, war die Bude bis auf den letzten Platz gefüllt und die Zuschauer erwarteten mit Ungeduld die letzte und Hauptnummer der Vorführung.

Endlich war es soweit. Der kleine rote Vorhang teilte sich auseinander und in kurzem Rosaröckchen, ein Paar Flügel von Silberstoff an die Schultern befestigt, – in die schwarzen, glänzenden Locken einen Rosenkranz gedrückt, so trat sie an der Hand des Herrn Köberle heraus. Schüchtern richtete sie das dunkle Auge auf die vielen Menschen ringsum, und im Nu hatte sie alle Herzen erobert. Noch bevor sie den Pony bestieg, begrüßte sie ein lauter Beifallssturm.

»Wie ein Engel,« sagten einige, und mehrere Mütter fanden ihren Anblick so rührend, daß sie Tränen im Auge hatten.

Herr Köberle hob sie auf das Pferd, reichte ihr die Geige und sprach ihr mit gedämpfter Stimme Mut ein.

»Nur Mut, Mädchen! Spiele frisch drauflos!« Noch einen leichten Schlag gab er dem Pony, der setzte sich in Bewegung, und Mignon begann.

Ganz leise setzte sie erst den Bogen an, nach und nach aber wurde der Ton voller und kräftiger. Sie hatte ja die Geige im Arm, darüber vergaß sie die Gegenwart. Sie dachte nicht an die vielen Augen, die auf sie gerichtet waren, nicht mehr an den Ort, an welchem sie sich befand, – sie vergaß, daß sie auf dem Pferde saß, – die Erinnerung führte sie zurück in das stille Stübchen zu ihrem Vater. Ihr war, als sähe sie ihn vor sich stehen, als höre sie deutlich seine liebe, sanfte Stimme, mit der er stets zu ihr sprach, – »meine kleine Mignon, spiele mir das Präludium vor«. –

Man war entzückt, begeistert von ihrem Vortrag und ein wahrer Sturm von Beifall folgte ihrem Spiele.

Langsam ritt sie auf Herrn Köberle zu, der schwamm in Wonne und machte die großartigsten Pläne. In seiner Einbildung berechnete er schon die Einnahmen, die ihm durch Mignon Maccaroni in die Kasse fließen würden, er sah sich als Besitzer einer Reiterbude und wurde wenigstens ein zweiter Renz. Das Mädchen wurde eine Erwerbsquelle für ihn, das stand fest.

In wenigen Tagen glaubte er ihr beibringen zu können, stehend auf dem Pony zu geigen, – hiervon versprach er sich erst den eigentlichen Erfolg.

Da – stürzte durch ein einziges kleines Ungefähr das kühn gebaute Luftschloß in Trümmer!

Ein kleiner Knabe aus dem Zuschauerraums wollte Mignon eine Apfelsine zuwerfen und traf das Pferd an den Kopf. Das Tier erschrak, bäumte sich und stieg im Nu kerzengerade in die Höhe.

Mignon stieß einen gellenden Angstschrei aus und klammerte sich an die Mähne an. Durch ihr Geschrei wurde das Tier noch aufgeregter und jagte wie toll mit ihr davon; ehe Herr Köberle hinzuspringen konnte, hatte es Mignon abgeworfen.

Laut jammernd lag sie am Boden, und als er sie aufhob und auf die Füße stellen wollte, schrie sie vor Schmerz.

Zufällig befand sich ein Arzt mit seinen Kindern in der Bude, der eilte sofort hinzu.

»Der Fuß ist gebrochen,« sagte er nach einer kurzen Untersuchung. »Das Kind muß vorsichtig getragen werden und einige Wochen liegen. Wohin soll es geschafft werden?«

Höchst niedergeschlagen hörte Herr Köberle diese traurige Nachricht. Alle seine stolzen Pläne waren mit einem Schlage vernichtet und was das Schlimmste war, er mußte sich selbst als den Urheber dieses Unheils betrachten. Jetzt sollte er obendrein sein sauer verdientes Geld für das Kind hergeben, – anstatt daß es ihn zu einem reichen Manne machte. –

Es ging ihm sehr durch den Kopf und er kratzte sich hinter den Ohren, ohne eine Antwort zu geben.

»Wohin es geschafft werden soll?« nahm Rose für ihren Mann das Wort. »Nun, in das Krankenhaus! Wir können uns doch nicht mit so einer Last befassen!«

»Ist es denn nicht euer Kind?« fragte der Arzt.

»Gott bewahre!« sagte sie schnell und resolut. »Wir haben das Mädchen im Walde gefunden und aus Mitleid mitgenommen. Ohne uns wäre es umgekommen. Eltern hat es nicht mehr, und woher es eigentlich ist, haben wir nicht aus ihm herausbekommen. Aber es war braun und blau geprügelt und davongelaufen. Heute wollte es mein Mann auf der Polizei anmelden,« – das log sie natürlich, – »wir hätten es doch nicht behalten können.«

»Joseph!« wandte sie sich an diesen, »trag doch das Mädchen nach dem Krankenhause, – aber das sagst du gleich, daß wir keinen Heller dafür bezahlen können. Wir sind selbst arm und haben nichts!«

Mit großer Zungenfertigkeit hatte sie alles berichtet und dazu gelogen, wie es ihr paßte. Niemand war froher als Herr Köberle, der mit einer wahren Bewunderung auf seine schlagfertige Frau sah.

Er nahm Mignon vorsichtig in die Höhe, und als er sich durch die vielen Menschen, die in einem dichten Kreis die kleine Verunglückte umstanden, Bahn machen wollte, trat eine ältere Dame in Trauer auf ihn zu.

»Lieber Mann,« sagte sie mit sanfter Stimme, und ihre braunen Augen blickten mitleidig auf das bleiche Kind, das vor Schmerz halb ohnmächtig war, »bringen sie das Kind in meinen Wagen, er hält dicht vor dem Platze.«

Sofort traten die Leute ehrerbietig zurück, und der Arzt nahm den Hut ab, um sie zu begrüßen.

»Ich habe Platz genug in meinem einsamen Hause, Herr Doktor,« sprach sie, »das Kind soll unter meiner Aufsicht gepflegt werden. Sehen Sie es an, hat es nicht dieselben großen, traurigen Augen, wie meine verstorbene Lena?«

»Ja, gnädige Frau,« stimmte der Angeredete bei, »es hat auch dasselbe schwarze, lockige Haar.«

Nun wurde Mignon mit aller Vorsicht in den Wagen der Frau von Braunfels gebracht und auf dem Rücksitze niedergelegt.

Der Arzt stieg gleich mit ein, und langsam, Schritt für Schritt, fuhren sie bis zu dem nahe liegenden Landhause der reichen, kinderlosen Witwe, das dieselbe ganz allein bewohnte.

In einem hohen, luftigen Zimmer, dessen Fenster nach dem herrlichen Park hinausführten, wurde ein bequemes Lager für Mignon zurechtgemacht. Der Arzt legte einen Verband um den gebrochenen Fuß, und geduldig ertrug Mignon die peinlichsten Schmerzen. Sie hatte in ihrem jungen Leben gelernt, dieselben standhaft zu ertragen.

Mit liebevoller Sorgfalt pflegte Frau von Braunfels das Kind.

»Sie hat es mir angetan,« sagte sie nach kurzer Zeit zu dem Arzte, »und wenn keine Einsprache erhoben wird und sich nicht vielleicht nahe Verwandte finden, behalte ich das kleine Wesen.«

Aber es meldete sich niemand, obgleich in verschiedenen großen Zeitungen Aufrufe erlassen wurden. So blieb denn Mignon bei der gütigen Frau, an der sie bald mit kindlicher Liebe hing.

Als der Fuß beinahe geheilt war und Frau von Braunfels sie eines Tages behutsam durch den Park führte, indem sie wie eine Mutter sie zärtlich mit dem Arme umschlungen hielt, da ergriff Mignon plötzlich ihre Hand und drückte die Lippen darauf. Gerührt von diesem Ausbruch kindlicher Dankbarkeit, nahm Frau von Braunfels sie in den Arm und küßte sie innig, – von diesem Augenblick an liebte sie Mignon wie ihr eigenes Kind. –

Mignon erhielt, sobald sie vollständig genesen war, den besten Schulunterricht und lernte mit Lust und Eifer. Sie fühlte sich vollkommen glücklich in ihrem neuen Heim, und ihre Prüfungszeit war zu Ende. Einen Wunsch freilich trug sie noch in ihrem Herzen, und das war der, wieder eine Geige zu besitzen. Die Sehnsucht, frei und ungehindert spielen zu können, verließ sie nicht.

Frau von Braunfels schwieg noch vorläufig, obgleich sie längst des Kindes musikalische Begabung erkannt hatte. Erst nachdem sie im Herbst nach der Großstadt übergesiedelt war, wo sie stets während des Winters ihren Aufenthalt nahm, ließ sie ihr Pflegetöchterchen von einem berühmten Geigenspieler, mit dem sie bekannt war, prüfen, und als derselbe ihr die Versicherung gab, daß in dem Kinde eine große Begabung stecke und daß er selbst dessen Ausbildung übernehmen würde, da willigte sie von Herzen gern ein.


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