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Christel verläßt den Dienst

Zwei gute Stunden mochten verflossen sein, seitdem Mignon das Haus verlassen hatte, als Christel zurückkehrte. Nicht Arges ahnend, trat sie in ihre Stube mit einem Vogel von Glas in der Hand, mit dem sie die Kleine erfreuen wollte, – damit sie doch etwas vom Jahrmarkt habe. Mignon war nicht dort; auf dem Fußboden lag die zerbrochene Geige. Christel erschrak bei diesem Anblick, – was konnte denn vorgefallen sein?

Mit bangem Herzen ging sie sofort hinunter in die Küche, um sich nach dem Kinde umzusehen. August kam ihr hier mit verweinten Augen entgegen und fragte sie, ob sie nichts von Mignon gesehen habe, ob sie ihr nicht begegnet wäre.

Sie verneinte und fragte angstvoll, was vorgefallen sei. Und nun schüttete August sein übervolles Herz aus und erzählte die ganze traurige Geschichte, die ihm von neuem bittere Tränen entlockte, besonders als er ihr beschrieb, wie furchtbar die Mutter Mignon geprügelt habe.

»Geprügelt?« fragte Christel empört. »August, wo ist das Kind? Ist es nicht im Zimmer?«

»Nein,« antwortete der, »dort ist es nicht. Ich habe es im ganzen Hause gesucht, Mignon ist nicht da.«

»Wie lange ist sie fort, August?«

Er wußte es nicht genau zu sagen, er erinnerte sich nur, daß es gerade vier geschlagen hatte, als er von Mignon heruntergekommen war.

»Und jetzt ist es sieben!« – sagte Christel aufgeregt.

Eine unerklärliche Angst befiel sie, und ohne sich zu besinnen, ohne an das Abendbrot zu denken, das sie zu besorgen hatte, lief sie aufs Geratewohl fort über den Marktplatz, durch verschiedene Straßen, – forschte hier und dort nach, – fragte auch einige Grünwarenverkäuferinnen, die auf dem Marktplatz ihren Handel hatten, ob sie das Kind nicht gesehen hätten, und kehrte endlich nach stundenlangem Suchen nach Hause zurück. Die stille Hoffnung hatte sie dabei im Herzen, das Kind möchte sich indessen wohl wieder eingefunden haben.

Aber Mignon war und blieb verschwunden, und Frau Butz empfing Christel mit heftigen Scheltworten über ihr unerlaubtes Fortlaufen.

»Was geht dich das Geschöpf an, daß du darüber deine Herrschaft vergißt! Laß es laufen, wohin es will, was kommt darauf an! Was ans Brot gewöhnt ist, kommt wieder, und kommt es nicht wieder, so ist auch nichts verloren.«

Das Maß war voll und Christels Geduld zu Ende.

»Frau Butz,« sagte sie mit vor Aufregung zitternder Stimme, »das Kind ist fort! Es hat sich ein Leid angetan, und Sie, Sie haben es in den Tod gejagt!«

»Bist du wahnsinnig geworden?« schrie die Frau Christel an, aber sie wurde doch bleich bei deren Beschuldigung.

»Nein, ich bin nicht wahnsinnig,« fuhr nun auch Christel heraus, »Sie aber, Frau Butz, haben ein böses Herz! Ja – es ist so! Nicht länger kann ich es für mich behalten, Sie müssen es anhören. – Vom ersten Tage an, als das Kind seinen Fuß über diese Schwelle setzte, haben Sie es bis aufs Blut gepeinigt und gequält. Und warum? Was hatte Ihnen das kleine Ding Böses getan? Nichts – gar nichts! Geduldig ertrug es die harte Behandlung, mit keinem Worte hat es sich je beklagt, – alles – alles –« Christel konnte sich nicht mehr halten und brach in lautes Weinen aus – »die größten Strafen hat es ohne Murren ertragen! – Aber es gibt einen Gott im Himmel, und die Strafe ward noch keinem geschenkt. – Wer weiß, was Bruno Ihnen für Herzeleid – –«

»Halt ein, unsinnige Person! Heute noch gehst du aus dem Hause!« unterbrach Frau Butz sie im höchsten Zorne. »Ist es dein eigenes Kind, daß du diesen Lärm darum machst?«

»Ja – ich gehe!« erwiderte Christel, »keine Nacht wär ich länger geblieben, ohne das Kind. Ich könnte ja nicht mehr ruhig schlafen, wenn ich sein Bettchen leer neben mir sähe! Ja – sehen Sie mich nur erstaunt an, jetzt können Sie es wissen, – das Kind schlief bei mir! Ich bin nur eine arme Dienstmagd, aber ich hätte es nicht übers Herz bringen können, dasselbe auf der Rumpelkammer, wo die Mäuse hausen, schlafen zu lassen!«

Mit diesen Worten kehrte sie der wütenden Frau den Rücken und ging zur Küche hinaus, geradezu auf ihre Stube, wo sie unter Tränen und Jammern ihre Sachen zusammenpackte. Auch Mignons Habseligkeiten, das rote Band von August nicht zu vergessen, nahm sie mit, und dann verließ sie das Haus, in dem sie jahrelang treu gedient hatte.

Herr Butz, der vergeblich versucht hatte, sie zu halten, versprach ihr fest, das Verschwinden Mignons noch heute auf der Polizei zu melden. August begleitete seine Christel bis zu ihrer Schwester, der Schneidersfrau, – dann kehrte er betrübt zurück und sah unterwegs jedes kleine Mädchen genau an, ob es nicht Mignon wäre.

»Bruno,« sagte Herr Butz noch am selben Abend, »geh gleich einmal auf die Polizei und mache die Anzeige wegen des Kindes. Vielleicht hat es sich in der Stadt verlaufen, und sie haben es schon irgendwo gefunden auf der Straße.«

Bei den Worten ihres Mannes hatte sich die Bäckersfrau schweigend erhoben und war hinausgegangen. Draußen im Hausflur erwartete sie Bruno, der ihr denn auch gleich nachkam.

»Du gehst nicht auf die Polizei, Bruno,« sagte sie leise, aber in befehlendem Tone. »Ich will es nicht haben! Wozu das unnütze Aufsehen machen? Es ist gut, daß sie fort ist!«

Bruno hielt die Hand auf und sagte: »Was bekomme ich, wenn ich nicht gehe, Mutter?«

Sie griff in die Tasche und gab ihm eine Mark.

»Das ist zu wenig, du mußt besser bezahlen,« sagte er mit frechem Tone. »Gib noch zweimal soviel, – dann sollst du deinen Willen haben.«

Was wollte sie machen? Sie gab ihm das verlangte Geld; er ging fort und bummelte in der Stadt umher, und als er das Geld bis auf den letzten Pfennig vertan hatte, kehrte er nach Hause zurück.

»Hast du Nachricht über Mine bekommen?« fragte ihn Herr Butz.

Mit dreister Stirne belog Bruno den Vater und erzählte eine lange Geschichte, was er mit dem Polizeibeamten alles gesprochen habe.

Mignon kam nicht wieder und bald ward sie auch in der Bäckersfamilie vergessen. Nur August dachte mit Sehnsucht an seine Spielgefährtin und oftmals ging er zu Christel, um diese zu fragen, ob sie denn gar nichts von Mignon erfahren habe; immer erhielt er dieselbe Antwort:

»Nein, August, – nichts! Sie kommt auch nicht wieder, niemals! Sie ist tot!«

Und wie eine Gestorbene betrauerte sie das Kind in ihrem Herzen, sie hatte es unbeschreiblich lieb gehabt.

Und nun nehmen wir Abschied von Christel und der Familie Butz und kehren zu Mignon zurück. – –


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