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Der Musikant und sein Kind

Langsam stieg der Musikant die Treppen zu seiner Wohnung hinauf. Es wurde ihm schwer, und oftmals mußte er auf den Stufen stehenbleiben, um Atem zu schöpfen. Es pfiff dabei förmlich in seiner kranken Brust, und er fühlte schmerzhafte Stiche darin; aber er vergaß seine schweren Leiden, als er plötzlich den Klang einer Geige vernahm, – horchend blieb er einige Augenblicke stehen.

»Wie sie das gut macht – prächtig!« sprach er für sich. – »Sie hat eine Kraft in den kleinen Fingern, daß es eine Lust ist. – – Und dieser Vortrag! Elegant und voll Seele und Anmut! Ach, meine Mignon, – sie wird eine große Künstlerin werden!«

Seine Wangen röteten sich und seine Augen strahlten froh und hoffnungsvoll bei diesem Gedanken. Leise öffnete er die Tür, und als er sein Kind mit der Geige im Arme vor dem Notenpulte stehen sah, ging ihm das Herz vor Glück und Freude auf.

Und doch war es ein rührender Anblick, der sich ihm bot. Denkt euch, liebe Leserinnen, ein zartes Geschöpfchen von acht Jahren, zierlich und fein, als ob ein Windzug es umblasen könne, mit schwarzen, glänzenden Locken und großen dunklen Augen, die eigentlich nicht wie Kinderaugen fröhlich in die Welt hineinlachen, sondern einen ernsten, ja zuweilen sogar traurigen Ausdruck haben; denkt euch dazu ein blasses, durchsichtiges Gesicht, wie eure Wachsfiguren haben, wenn sie die roten Backen verloren, und ihr seht die kleine Geigenspielerin lebendig vor euch stehen, – doch nein, erst müßt ihr noch ihren Anzug kennenlernen, – schön war er nicht, das werdet ihr gleich hören.

Fast sah es aus, als ob sie eben aus dem Bette gestiegen wäre und sich erst halb angekleidet hätte. Ein kurzes rotes Unterröckchen hatte sie übergezogen und ein altes mit Fransen besetztes Umschlagetuch um die Schultern geschlagen. Sie hatte dasselbe hinten auf dem Rücken zusammengeknotet, damit es die Arme frei ließ und sie den Bogen ungehindert führen konnte, – bis über die Knie gingen die schwarzen, viel zu weiten Strümpfe hinauf, und der eine hatte auf dem Hacken ein großes Loch; auch die niedergetretenen Schuhe, in denen die kleinen Füße steckten, waren viel zu groß, was am Ende nicht zu verwundern war, da beides, Strümpfe und Schuhe, der verstorbenen Mutter angehört hatte.

Ihr rümpft vielleicht eure Näschen und spottet über Mignons unordentlichen Anzug; aber, liebe Kinder, vergeßt nicht, daß ihre Mutter tot war und niemand sie zur Ordnung anhielt.

In dem Zimmer herrschte auch schon lange keine Ordnung mehr. Bunt lag alles durcheinander. Das Bett war nicht zurechtgemacht, Kleidungsstücke waren auf die wenigen Stühle geworfen, über den Tisch hing eine fleckige rote Decke, schief, als ob sie eben herunterfallen wollte, und auf dem alten geöffneten Klavier lagen Notenblätter zerstreut und mit Staub bedeckt. – Staub und Schmutz waren überhaupt in allen Ecken, sie machten sich breit, wo nur ein freies Fleckchen war.

Früher war es anders gewesen; da hatten die kleinen Räume hell und freundlich geglänzt; aber seitdem die Mutter vor zwei Jahren gestorben, war alles bergab gegangen. Der Vater ward krank, er konnte oft nichts verdienen; fremde Hilfe konnte er mit seinen knappen Mitteln nicht bezahlen, so mußten denn er und sein Kind die kleine Wirtschaft besorgen, – nur so nebenbei und das Allernotwendigste; denn das Geigenspiel machte beiden viel mehr Vergnügen; er lehrte und sie lernte mit solchem Eifer und Fleiß, wie selten kleine Mädchen in diesem Alter tun, die doch viel lieber mit der Puppe spielen. –

»Das hast du brav gemacht, meine kleine Mignon,« unterbrach Herr Brandt ihr eifriges Spiel und setzte sich müde und erschöpft auf den Bettrand.

»Ah, du bist wieder da, mein liebes Papachen,« rief sie erfreut. Sie hatte ihn nicht kommen hören und sprang auf ihn zu. »Hast du gehört? Ging es besser als heute morgen?«

Er nickte nur stumm mit dem Kopfe.

»Ich habe auch fleißig – so fleißig gespielt, Papa! Nicht einmal habe ich aufgehört. Willst du die Serenade noch einmal hören?«

Er hatte sein Kind zärtlich in den Arm genommen und sah es traurig an. Es fiel ihm ein, wie bald es wohl gar nicht mehr spielen würde. –

»Später, Mignon, – nicht jetzt,« sagte er matt. »Aber sieh einmal, was ich dir mitgebracht habe.« Er hielt ihr die Brezel entgegen, und sie griff freudig danach.

»Ei, die schöne Brezel!« rief sie. »Und die vielen Rosinen, die darin sind! Da ist eine – und da noch eine – ach, und hier sitzen zwei dicht zusammen! Die wird aber gut schmecken! Du bekommst die Hälfte ab, Papachen, natürlich. Wollen wir uns nun Kaffee kochen, ich bin sehr, sehr hungrig.«

Die unschuldige Freude und ihr glückliches Geplauder erquickten den elenden Mann, sein Auge ruhte mit stiller Seligkeit auf ihr.

»Armes Kind,« sagte er, »du hast Hunger. Ich blieb so lange aus, du hast nichts zu Mittag bekommen.«

Er wollte sich erheben, um den Kaffee zu besorgen, aber es ging nicht. Die Schwäche war so groß, er konnte nicht aufstehen.

»Du mußt heute einmal alles allein besorgen, Mignon, ich bin so müde und kann nicht fort. Aber du bist mein kluges, kleines Töchterchen und wirst schon deine Sache gut machen, nicht wahr?«

»Du armer, lieber Papa,« sagte sie traurig und strich ihm schmeichelnd die schmalen Wangen, »bleib nur still und ruhe dich aus, ich will schon den Kaffee kochen. Du hast wohl wieder den bösen Husten gehabt? Warte nur, wenn ich groß bin, dann werde ich Geld, viel Geld verdienen, dann sollst du in einem Schlosse mit mir wohnen, wir fahren in einem goldenen Wagen spazieren, und Kuchen und Braten gibt es alle Tage. Wird das nicht schön?«

Und nun sprang sie hinaus, so schnell es mit den großen Schuhen gehen wollte, und holte aus einem ganz kleinen Raume, der eigentlich die Küche sein sollte, ein Blechgefäß, mit Wasser gefüllt.

Als sie dasselbe in die Röhre stellen wollte, war der Ofen kalt.

»Ach, Papa, nun ist das Feuer ausgegangen,« sagte sie betrübt, »was machen wir nun?«

Er hatte sich auf das Bett niedergelegt und die Augen geschlossen; – so krank und kraftlos hatte er sich noch nie gefühlt. Bei Mignons Frage machte er eine Anstrengung, aufzustehen, aber es war vergebens, kraftlos fiel er zurück.

»Es geht nicht, Kind,« sagte er leise und in Absätzen. »Reich mir den Wein her – dort steht er; – vom Bäcker habe ich ihn bekommen. – Hole ein Glas –«

Mignon goß geschickt Wein in ein Glas und gab ihm denselben, aber als er zufassen wollte, zitterte ihm die Hand so, daß er es nicht imstande war. Mignon sah ihn erschrocken an.

»Lieber, lieber Papa,« rief sie in Tränen ausbrechend, »du bist doch nicht krank? Du siehst so blaß aus, wie die Mama, als sie gestorben war. Ach, lieber, guter Papa, stirb nur nicht!«

Angstvoll klammerte sie sich an ihn, und er nahm alle Kraft zusammen, um das aufgeregte Kind zu beruhigen. Du lieber Gott, sie hatte ja auch niemand weiter auf der Welt als ihren Vater, und mit grenzenloser Liebe hing sie an ihm.

»Weine nicht, Kind – sei ruhig,« – brachte er mühsam und stockend hervor. »Halte mir den Wein an die Lippen – so – –«

Er trank einige Schluck, aber es wurde ihm sehr schwer, die Tropfen hinunterzubringen.

»Bist du nun wieder gesund?« fragte sie und sah ihn gespannt und ängstlich an.

»Es wird schon besser werden,« tröstete er sie mit matter Stimme. »Komm, – setze dich her zu mir – ganz dicht. Meine liebe, kleine Mignon – willst du immer – immer ein gutes, frommes Kind sein?« Sie hatte sich an ihn geschmiegt und blickte ihn mit ihren großen Augen zärtlich an.

»Ich will nie wieder unartig sein,« versprach sie unter lautem Schluchzen und fiel ihm um den Hals. »Immer will ich fleißig spielen und dir Freude machen.«

Er schüttelte den Kopf und sah sie wehmütig an. »So meine ich nicht. – Wenn ich – wenn ich zu der lieben Mama gegangen bin, – – wirst du auch dann gut bleiben – mein Liebling? Wirst du stets daran denken, daß wir immer bei dir sind, – auch wenn du uns nicht siehst?«

Wie segnend hatte er die Hand auf ihr Haupt gelegt. Die Augen waren zum Himmel gerichtet, und seine Lippen bewegten sich im stillen Gebet für sein Teuerstes auf der Welt – sein Kind.

»Du gehst nicht fort von mir, Papa – du sollst immer bei mir bleiben! Papa – lieber Papa!« rief sie in zitternder Angst und sah ihn an. Sein Antlitz wurde so bleich – er sah so anders aus als sonst.

»Spiel das Präludium – Mignon – schnell – ehe es zu spät.« – Wie ein Hauch brachte er die Worte hervor, aber Mignon hatte sie verstanden. Sie ergriff die Geige, und in süßen, langgezogenen Tönen spielte sie des Vaters Lieblingsstück, das er ihr so oft auf dem alten Klavier begleitet hatte.

Als der letzte Ton verklungen war, hatte er die Augen geschlossen und ein Zug seliger Verklärung und des Friedens lag auf seinem Antlitze.

Leise, damit er nicht erwache, legte das Kind die Geige auf den Tisch und schlich auf den Zehen an das Bett. Mit gefalteten Händen, den Blick unverwandt auf den Entschlummerten gerichtet, setzte es sich aus den Rand des Bettes.

»Wenn er aufwacht, ist er gesund,« dachte sie in ihrem Kinderherzen. Ach! Er wachte niemals wieder auf. Von allen Sorgen befreit, war er hinübergeschlummert und hatte sein Kind allein in der großen Welt zurückgelassen. –


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