Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Herr Köberle und seine Künstler

Als der Morgen dämmerte, kam auf dem Fahrweg durch den Wald ein sonderbares Fuhrwerk angefahren. Fast wie ein kleines Bretterhaus sah es aus, grün angestrichen mit kleinen Fenstern, an denen sogar bunte Vorhänge angebracht waren.

Neben den Pferden ging ein Mann, der aber nicht wie ein Fuhrmann aussah. Eher konnte er für einen heruntergekommenen Künstler gelten in seinen großkarierten Hosen und dem fuchsigen schwarzen Samtrocke. Über demselben trug er den nicht sehr reinlichen Hemdkragen breit zurückgeschlagen. Ein breitkrempiger grauer Filzhut bedeckte seinen Kopf und langes schwarzes Haar fiel bis in den Nacken herab. Aus dem braungebrannten Gesichte blickten ein Paar lebhafte schwarze Augen, und hinter dem dichten schwarzen Schnurrbart schimmerten blendendweiße Zähne hervor.

Der Mann hieß Joseph Köberle und kam von der Messe zu Frankfurt, wo er mit seinen vierbeinigen Künstlern, das heißt dem Pudel, einigen Affen und zwei Ponys, Vorstellungen gegeben hatte. Augenblicklich war er aus dem Weg nach Eisenach mit seiner ganzen Familie, zu welcher er stets seine Vierfüßler mit einzurechnen pflegte.

Er hatte in Frankfurt gute Geschäfte gemacht und befand sich in rosigster Laune; so recht vergnügt pfiff er ein Stückchen in den herrlichen Morgen hinein.

Plötzlich hemmte er seinen Schritt, und zugleich hielt er die Pferde mit einem schnellen Rucke an. Dicht am Wege lag ein schlafendes Kind; das eine Pferd hätte ihm bei einem Haar mit seinen Hufen den Fuß zertreten.

»Was ist denn das da für eine Bescherung?« rief Herr Köberle erstaunt, »das ist ja meiner Seel ein lebendiges Menschenkind! Du – wach auf!« Und er rüttelte Mignon aus dem Schlafe.

Sie öffnete die Augen und konnte sich erst gar nicht besinnen, wo sie war. Schlaftrunken sah sie den fremden, sonderbaren Mann über sich gebeugt stehen.

»Wie kommst du denn hierher in den Wald, Mädchen? Hast dir ein luftiges Nachtquartier ausgesucht.«

Mignon hatte sich halb aufgerichtet, aber sie gab keine Antwort. Furchtsam richtete sie das Auge aus ihn.

»Wie du hierher kommst, frage ich. Bist wohl davongelaufen? He?« Dieser Gedanke machte ihm Spaß und er lachte, daß man die weißen Zähne sah.

Sein lustiges Lachen machte sie zutraulich und etwas dreister.

»Sie hat mich so geschlagen,« sagte sie leise.

»Also Prügel hat es gesetzt! Dacht ich's doch! Wer hat dich denn geschlagen? Deine Mutter?«

Sie schüttelte den Kopf. »Nein, die böse Frau. Meine Mutter ist tot, – sie ist im Himmel mit dem Papa.«

»So! Na, und wo soll jetzt die Reise hingehen, Jungfer Ausreißerin?«

»Ich weiß nicht!« sagte sie kleinlaut, aber sie blickte geradeaus in die Ferne, als ob sie den Weg in den Himmel suche.

»Was! Du weißt es nicht?« fragte er ungläubig. »Wohin du gehen willst, meine ich!«

»Fort!« sagte sie und erhob sich schnell, als wenn sie auch gleich wieder loswandern wollte.

»Fort!« wiederholte er. »Ist mir in meinem Leben je solche Dummheit vorgekommen. Läuft das Kind blind in das Blaue hinein und weiß nicht woher und wohin!«

»Wie heißt du denn?« forschte er weiter.

Hinter ihm hatte sich ein kleines Fenster in dem Wagenhause geöffnet und ein Frauenkopf mit ungemachtem Haar, mit frischen roten Wangen und sehr gewöhnlichen Zügen zwängte sich hindurch und sah verwundert ihren Mann mit dem Kinde im Gespräch. Ohne daß er es merkte, hörte sie zu.

»Mignon Brandt,« gab die Kleine zur Antwort.

»Und wie heißt und wo wohnt die Frau, der du fortgelaufen bist? Du mußt doch wieder zu ihr zurück?«

»Nein, nein! Nicht zurück!« rief das Kind in höchster Verzweiflung. »Bitte, bitte – bringe mich nicht zurück!«

Plötzlich stand die entsetzliche Frau lebendig vor ihrer Seele, und in Gedanken durchlebte sie noch einmal die Schreckensszenen des vorigen Tages.

»Auf der Landstraße kannst du doch nicht bleiben, Mädchen!« rief Köberle ungeduldig. »Zurück mußt du auf alle Fälle! Ein bißchen Prügel schadet Kindern nichts!«

»Warum machst du so lange Reden, Joseph?« unterbrach ihn die Frau im Fenster. »Läßt uns eine Ewigkeit anhalten, anstatt daß du das Mädchen, ohne zu fragen, in den Wagen steckst. Die Sache ist ganz einfach und ohne Schwierigkeiten. Wir nehmen es mit nach Hanau, liefern es dort auf der Polizei ab, und die wird schon wissen, was sie zu tun hat. Na, habe ich recht?«

»Das ist ja auch wahr!« rief Herr Köberle und schlug sich vor den Kopf, als wenn ihm auf einmal ein Licht aufginge. »Du bist doch eine kluge Frau, Rose! Marsch, Mädchen! Klettre hinein! Dort hinten am Wagen die paar Stufen hinauf! So! – Nun vorwärts!«

Und er schlug mit der Peitsche auf die Pferde, daß sie anzogen und weiterfuhren.

Mignon aber trat in eine neue Welt.

Habt ihr, liebe Leserinnen, einmal in solch ein wanderndes Häuslein hineingeschaut, wie es die herumziehenden Künstler mit sich führen, wenn sie von einem Jahrmarkte zum andern ziehen?

Wie in einem Stübchen ist es darin eingerichtet. Ein Sofa, Tisch, Stühle, ein kleiner Schrank, sogar ein Ofen fehlt nicht. Abends werden Betten auf den Boden gebreitet, dann ist es Schlafstube für die Familie. Sehr bequem ist solch ein Lager nicht, und wenn des Nachts gereist werden muß, setzt es zuweilen Stöße und Püffe, sobald das fahrende Schlafgemach auf einer holprigen Landstraße fährt.

Als Mignon die kleine Tür zu dem dunstigen, heißen Raum öffnete, sprang ein großer weißer Pudel an ihr in die Höhe und legte die beiden Pfoten auf ihre Schulter. Er bellte dabei so entsetzlich, daß sie erschrocken zurückfuhr.

Die Frau gab ihm einen Schlag, und vom Sofa her befahl eine Stimme:

»Madame Pompadour, allez-ici! Was fällt Ihnen ein? Schämen Sie sich! Gleich bitten Sie um pardon. – So – schön! Die andre Pfote auch. Très bien! Madame Pompadour, apportez meine Hose!«

Und wahrlich, das kluge Tier brachte dem kleinen vierjährigen Knaben, der im Hemde auf dem Sofa saß und genau in den abgebrochenen Worten dem Hunde kommandierte, wie er es vom Vater zu hören pflegte, – das gewünschte Kleidungsstück.

Während er beschäftigt war, dasselbe anzuziehen, sprang plötzlich, wie aus der Luft, ein kleiner Affe dem Knaben auf den Kopf und fing mit größter Geschwindigkeit an, in dessen krausem Haare zu kratzen und zu zausen. Es sah gar zu possierlich aus.

Mignon stand sprachlos vor Erstaunen; etwas ähnliches hatte sie niemals gesehen. Aber die Wunder waren noch nicht zu Ende, – schrill und deutlich ertönte plötzlich eine Stimme hinter ihr. »Dummkopf! Spitzbube! Joseph, guten Morgen!«

Sie wandte den Kopf, und siehe da, ein großer, grüner Vogel schaukelte sich in einem Ringe, der in der einen Ecke von der niedrigen Decke herabhing; er sah sie groß und verständig an und rief noch einmal:

»Spitzbube, – Dummkopf!«

Mignons große, glänzende Augen blickten staunend von einem zum andern, bis die Frau ihrer Verwunderung ein Ende machte.

Sie hatte den Kaffee am Ofen gekocht und war eben im Begriff, Tassen, Brot und Butter aus einem Schränkchen zu nehmen und auf den Tisch zu stellen, als ein kleines Kind, das in einem Korb in Betten eingepackt lag und bis dahin geschlafen hatte, zu schreien anfing.

»Schenk du mal den Kaffee ein,« sagte sie zu Mignon und hob das schreiende Kind auf. »Dort im Ofen steht die Kanne.«

Mignon tat schnell und geschickt, was ihr befohlen ward, sie hatte es gelernt im Bäckerhause, so jung sie auch noch war.

Mit dem Kind im Arme setzte sich die Frau an den Kaffeetisch; der Knabe, das Äffchen noch immer auf seinem Kopfe, folgte ihrem Beispiele. Mignon blieb bescheiden stehen.

»Komm nur her,« lud die Frau sie ein, »und iß und trink. Hunger wirst du wohl haben nach deinem Marsche. Bist wohl schon lange unterwegs?«

Während nun Mignon nach allem Möglichen ausgefragt wurde und daraufhin einige Auskunft aus ihrer jüngsten Vergangenheit gab, während sie sich hernach mit den Kindern und den vierbeinigen Mitgliedern der Familie Köberle bekannt machte, wollen wir in das Bäckerhaus zurückkehren und hören, was man dort zu Mignons Flucht sagte.


 << zurück weiter >>