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Mignons Geige

Der lange, harte Winter hatte endlich seinen Abschied genommen und es war Frühling geworden. Kirsch- und Äpfelbäume standen im herrlichsten Flor und draußen im Walde und auf der Wiese blühte und duftete es. Die Kinder spielten im Freien und flochten sich Kränze von Butterblumen ins Haar.

Mignon brauchte längst nicht mehr im Dunkeln aufzustehen, und wenn sie um sechs Uhr mit dem Korb am Arme ausging, schien die Sonne und die Vögel sangen. Ihre Füße waren auch wieder geheilt, und sie konnte ganz gut marschieren mit den schweren, nägelbeschlagenen Stiefeln.

Hinaus in das Freie kam sie nicht. Nur zweimal hatte Christel sie aus den Kirchhof geführt an ihrer Eltern Grab. Mit Mühe hatte sie von Frau Butz die Erlaubnis dazu erhalten, die von Spazierenlaufen nichts wissen wollte, und als Christel bescheiden einwandte, »das Kind müsse doch wissen, wo seine Eltern begraben lägen,« – ihr entgegenwarf, daß sie das Mädchen zum Faulenzen anhalte und verderben würde.

August brachte ihr manchmal den Frühling ms Haus, das heißt, er schenkte seiner kleinen Freundin Sträuße, die er auf der Wiese gepflückt hatte. Wie freute sie sich darüber und sorgte dafür, daß sie auch lange frisch blieben! In Christels Stube wurden sie in ein Glas ans Fenster gestellt und täglich mit frischem Wasser begossen.

Eben hatte sie auch die duftigen Frühlingskinder besorgt, als sie den Kopf in ihre Hände stützte und zum Fenster hinausblickte. Mit ihren großen Augen sah sie ernsthaft den Schwalben zu, die bald zwitschernd pfeilschnell hin und her schossen, bald hoch in die Wolken stiegen.

»Christel,« fragte sie, »können die Schwalben bis in den Himmel fliegen?«

»Nein,« sagte die, »so hoch kommen sie nicht.«

»Aber sie fliegen doch bis in die Wolken hinein. Siehst du? Die – dort oben! Christel! Nun ist sie fort! Sie ist ganz gewiß in den Himmel geflogen. Ach, Christel, wenn ich doch eine Schwalbe wäre! Dann könnte ich in den Himmel fliegen zu meinem Papa und meiner Mama! – Dann brauchte ich keine Semmeln zu den Leuten zu tragen!«

»Das sollst du auch die längste Zeit getan haben, mein kleines Minchen! Es nimmt alles ein Ende! Du wirst dich wundern! Aber gut sollst du es haben! Na – und die werden Augen machen! Aber ich will noch nichts gesagt haben – und, Minchen, daß du nichts verrätst!«

Mignon sah erstaunt Christel an, die in solchen Rätseln sprach und ein geheimnisvolles Gesicht dazu machte; aber sie fragte nicht, trotzdem sie kein Wort verstanden hatte. Vielleicht hätte Christel in ihrer Glückseligkeit ihr dann erzählt, daß der Geselle mit ihr einig sei, daß sie zu Michaelis heiraten wollten, und daß sie das Kind mit in die neue Wirtschaft bringen dürfe.

»Mignon,« sagte eines Tages, wenige Wochen darauf, August höchst vergnügt, »jetzt weiß ich was! Ich habe heute bei einem Schulkameraden einen Garten gesehen, so einen machen wir uns auch. Den wollen wir dann mitten auf den Hof in die Sonne stellen.

Ich gehe jetzt auf den Boden und suche eine Kiste, da tun wir Erde hinein und dann pflanzen wir Gras und Blumen und einen kleinen Pflaumenbaum. Ich esse die Pflaumen so gern.«

Frau Butz war gerade mit Christel auf den Jahrmarkt gegangen, um Töpfe einzukaufen, und ihr Mann nahm ihren Platz am Fenster im Verkaufslokal ein, da konnten die Kinder ihre goldene Freiheit genießen. Sie taten es auch und stiegen sofort zum Boden hinauf, um ihr herrliches Vorhaben auszuführen.

Aber sie fanden keine recht passende Kiste, bald war sie zu klein, dann wieder zu groß. Sie wollten eben wieder hinuntergehen, um anderswo ihr Heil zu versuchen, als ein Sonnenstrahl schräg durch das Dachfenster fiel und den Boden bis unter das Dach erhellte.

»Da ist eine! Die ist gut!« rief August, und beide Kinder stürzten aus eine Kiste zu, die ihren Augen bis dahin verborgen gewesen war.

»Den Deckel brauchen wir nicht!« meinte August, »der kann gleich oben bleiben.« Er hob ihn herab, und in demselben Augenblick stieß Mignon einen Freudenschrei aus.

»Meine Geige! Da ist meine Geige, August! Nun habe ich sie wieder!« rief sie außer sich vor Freude.

Sie nahm sie empor und tanzte mit ihr auf dem Boden umher und küßte und drückte sie an sich, wieder und immer wieder.

August blickte verwundert auf Mignon, die er noch niemals so aufgeregt und glücklich gesehen hatte.

»Spiele mir etwas vor,« sagte er, »aber gleich, ehe die Mutter nach Hause kommt, sie darf nicht wissen, daß wir die Geige gefunden haben.«

Die Erinnerung an die Bäckersfrau brachte Mignon zur Besinnung.

»Hier nicht,« sagte sie und versteckte das Instrument unter ihrer Schürze, den Blick ängstlich der Tür zugewandt. »Komm mit auf Christels Stube, da kann ich spielen, dort kommt deine Mutter niemals hinauf.«

Und sie schlichen die Treppe hinunter, vorsichtig, als führten sie etwas Böses im Schilde, bis an Christels Stubentür. Mit angehaltenem Atem öffneten sie dieselbe, – schlüpften hinein – und schoben den Riegel vor.

»Nun kann niemand kommen,« sagte August mit großer Beruhigung, »jetzt sind wir sicher.«

Und in diesem Gefühle der vollen Sicherheit setzte Mignon den Bogen an und spielte alles, was sie je gespielt hatte. Nichts hatte sie verlernt, ohne Stocken konnte sie August alles in der Wirklichkeit vortragen, was sie so manchmal ihm auf dem Hackbrett in der Küche nur zum Scheine vorgezeigt hatte.

Still hörte ihr August zu, und andächtig und mit Bewunderung blickte er seine Gespielin an, die mit verklärten Augen vor ihm stand und aussah, als ob sie die ganze Welt vergessen habe.

Da – mitten in ihrer Seligkeit und ihrem kindlichen Entzücken, wurde sie plötzlich mit Entsetzen geweckt. Es wurde fest an der Tür gerüttelt, und da sie nicht zu öffnen war, mit aller Macht dagegen geklopft.

»Im Augenblick aufgemacht!« schrie eine Stimme im höchsten Zorne, »oder ich schlage die Tür ein!«

»Die Mutter!« sagte August erschrocken und schob den Riegel zurück. Mignon stand da wie erstarrt.

Sie hatte auch alle Ursache dazu, denn schon trat Frau Butz auf sie zu, dicht hinter ihr folgte Bruno.

»Warte, Geigermine,« sprach er mit boshaftem Lächeln, »jetzt wirst du für dein Konzert bezahlt.«

»Du nichtswürdiges Geschöpf!« rief die Frau, »wo hast du die Geige her? Wer hat dir erlaubt, auf dem Boden herumzusuchen?«

Sie riß dem Kinde die Geige aus der Hand und schlug sie damit auf den Kopf, – auf die Schulter, – wohin sie in ihrer blinden Wut traf.

August sprang hinzu und hielt die Hand schützend vor Mignon.

»Ich habe sie mitgenommen auf den Boden,« rief er, »sie kann nichts dafür! Schlag sie nur nicht, Mutter, bitte, bitte!« Und flehend hob er die Hände empor.

Sie schleuderte den Knaben zur Seite. »Geh zurück!« schrie sie ihn an, nur noch erboster durch seinen Widerstand gemacht. – Von neuem erhob sie die Geige zum Schlage, – da entfiel dieselbe ihrer Hand. August bückte sich schnell, um sie aufzunehmen, aber sie wehrte ihn ab und trat fest mit dem Fuße darauf.

Ohne Klagelaut, ja ohne Tränen hatte Mignon bis jetzt die harten Schläge erduldet. Wie ein sterbendes Reh, das den Jäger herankommen sieht, der ihm den Todesstoß geben will, – hatte sie das Auge in qualvoller Angst auf die wütende Frau gerichtet.

Da – als sie ihre Geige mit Füßen getreten sah, als sie hörte, wie dieselbe ächzend zusammenbrach, erwachte sie aus ihrer starren Furcht. Mit einem Sprunge stürzte sie aus ihre Peinigerin zu, klammerte sich an deren Kleider und versuchte, dieselbe mit ihren kleinen Händen fortzuziehen. Als ob sie imstande gewesen wäre, die schwere, große Frau von der Stelle zu bringen.

»Du trittst meine Geige entzwei! Geh fort! Du zerbrichst sie!« rief sie und zerrte ohnmächtig an Frau Butz.

»Bist du toll? Du freches Ding!« schrie die und schlug, empört über den plötzlichen Angriff, blind auf Mignon los. »Gleich laß los! Bruno – schaff mir das Mädchen vom Halse!«

Der packte sie fest bei den Armen, schüttelte sie einige Male heftig und warf sie dann auf die Erde – gerade auf die zerbrochene Geige, so daß diese ganz in Stücke zerfiel.

Laut schrie Mignon auf vor Schmerz und vor Kummer. Sie legte das Köpfchen auf den zertrümmerten Liebling und weinte, als wollte sie vor Herzeleid vergehen.

»Geh in die Küche und schäle Kartoffeln!« befahl die böse Frau und sah mit ihren kalten Augen auf die kleine Gestalt am Boden, und Bruno versetzte derselben, bevor er die Stube verließ, zum Abschied noch einen Tritt mit dem Fuße.

»Siehst du, Mutter, daß ich recht hatte!« sagte er, als beide die Treppe hinuntergingen. »Du dachtest, das Fiedeln wäre im Nachbarhause, ich hörte es wohl, daß es hier oben war.«

»August, gleich kommst du herunter!« rief die Frau und wandte den Kopf zurück.

Der stand neben Mignon und versuchte sie zu trösten. »Ich kaufe dir eine andere Geige,« sagte er mitleidig, »von meinem Taschengelde. Weine nicht mehr – Mignon – ich kann es nicht hören!« Und dabei liefen ihm selbst die Tränen unaufhaltsam über die Wangen und er schluchzte mit ihr um die Wette.

Auf der Mutter Ruf verließ er Mignon betrübt, erst aber beugte er sich schnell zu ihr nieder und drückte einen Kuß auf ihr lockiges Haar. »Meine liebe, gute Mignon,« sagte er noch einmal, »ich komme wieder – weine nicht mehr!«


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