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XX.

Offene Karten.

Mit völliger Gemütsruhe begann hierauf Jean Mareuil: »Gelegentlich eines Gespräches mit meinem Freund Feuillard kam mir der Gedanke, das Geheimnis von Luvercy der Sammlung der von mir bereits gelösten Probleme beizufügen. Der Tod Ihrer Mama, Gilberte, erschien mir befremdend und ungeklärt. Meine Vernunft sträubte sich gegen die Annahme, daß sich alles so abgespielt habe, wie man allgemein der Ansicht war. Es erschien mir ganz unglaubwürdig, daß eine Viper ohne menschliches Zutun in der ihr angedichteten Art vorgegangen sein sollte. Doch worin bestand das menschliche Zutun? Das war die erste Frage, die ich mir stellte.

Sie können sich wohl denken, Gilberte, mit welchem Feuereifer ich an meine Aufgabe herantrat, da ich wußte, daß ein Erfolg meinerseits Sie von Ihren Angstzuständen heilen würde. Ich kann wohl sagen, niemals zuvor war mein Herz an der Lösung eines Rätsels so beteiligt.

Auf Grund eingehender Überlegung kam ich zunächst zu folgender Annahme: Nur zwei Personen schieden völlig aus: Sie, Gilberte – die über jeden Verdacht selbstredend erhaben war und die ganze Nacht in dem Ankleidekabinett, das an das Schlafzimmer Ihrer Mama angrenzte, wach verbrachten – und Sie, Gräfin, die gleichfalls dieses Zimmer, wie Gilberte bezeugen kann, während der ganzen Nacht nicht verließen.

Somit kamen nunmehr nachstehende Persönlichkeiten in Betracht: Herr Guy Laval, Graf Lionel von Prase, die Dienerschaft und – der große Unbekannte.

Ein weiterer Umstand gab mir ferner zu denken. Die Art, wie ich gewöhnt bin, Geheimnissen auf den Grund zu gehen, lenkt stets mein Augenmerk auf etwaige Anomalien. Ich lege auf derartige Außergewöhnlichkeiten den höchsten Wert. Nun hatte die Viper nur mehr einen Giftzahn. Diese Eigentümlichkeit ließ keinerlei Zweifel darüber aufkommen, daß nur sie die Mörderin der unglücklichen Frau Laval gewesen sein konnte, falls mehrere Schlangen ausgekommen wären, abgesehen davon, daß schon das sofort tötende Gift die Viper als Täterin bezeichnete. Dieser eine Giftzahn schien mir näherer Aufmerksamkeit wert und der Ausgangspunkt für weitere fruchtbringende Schlüsse sein zu müssen.

Somit erachtete ich es für geboten, Nachforschungen anzustellen, Leute zu befragen und einen Lokalaugenschein vorzunehmen.

Das wäre nun alles ganz schön gewesen, wenn man mich nicht beobachtet hätte.

Ich muß Ihnen mitteilen, Gilberte, daß Ihre Tante und Ihr Vetter, die um Ihr künftiges Glück besorgt waren, mich durch jenen Mann dort, den Hausbesorger, ausspüren ließen. Selbst Herr Graf Prase hielt es für nicht unter seiner Edelmannswürde, mir nachzuspionieren.

Unter gewöhnlichen Verhältnissen wäre mir das sehr egal gewesen. Unter obwaltenden Umständen jedoch war mir dies höchst lästig. Ich hatte allerhand triftige Gründe, die mir eine absolute Aktionsfreiheit wünschenswert machten. Frei und im geheimen mußte ich arbeiten können. Auch fühlte ich instinktiv, daß ich rasch vorgehen müsse, und begriff alsbald, daß von der Promptheit und Schnelligkeit meines Handelns mein Glück, selbst das Leben meiner Verlobten abhinge.«

»Herr, ich verbitte mir das!« rief Lionel zornig.

»Sie werden mich ausreden lassen!« entgegnete Mareuil kühl, »sonst ...« – er blickte die Gräfin an und zeigte auf den Geldschrank und das Gebläse.

»Unterbrich ihn nicht, Lionel!« sagte die Gräfin, die bleich und mit verzerrter Miene dastand.

Plötzlich drehte sich Mareuil um.

»Heda! Der ›Herr‹ Aubry will sich, scheint's, drücken? ... Freddy, los!«

Mit einem Satz war Freddy in die Halle verschwunden, wo der Hausbesorger eben verduftete. Einen Moment danach kehrte er wieder zurück und schob den schlotternden, völlig gebrochenen Bedienten vor sich her.

»Wer ist denn eigentlich dieser Apache?« knirschte Lionel, die Fäuste geballt und außer sich vor Ingrimm.

»Ich wollte es Ihnen eben mitteilen, als Sie mir die Rede abschnitten«, entgegnete Mareuil. »Wie bereits gesagt: er heißt Freddy, und ich dachte sofort an ihn, als es sich darum handelte, mich Ihrer unzeitigen Spionage zu entziehen.

Ich begegnete einst Freddy, nachts, in einem öden Gäßchen des Spielhöhlenviertels. Er bat mich um Feuer, um meine Brieftasche zu haben. Ich leuchtete ihm, einer inneren Eingebung folgend, in das Gesicht und war baff! Er wies meine eigenen Züge auf. Ich hatte einen Doppelgänger im Reich der Strolche. Damals entkam mir Freddy, denn er erschrak selbst, weil er an irgendeine Falle glaubte, die ihm die Polizei gestellt, aber kurze Zeit danach traf ich ihn doch wieder. Es lag mir sehr viel daran, denn es war mir peinlich, vielleicht einen Verbrecher zum Doppelgänger zu bekommen. Ich nahm mich Freddys an, verschaffte ihm einen Verdienst. Die Geschichte war nicht ganz einfach, denn unser Freddy liebt die Unabhängigkeit. Gottlob kam mir eine glänzende Idee.

Gelegentlich meiner Weltreise hatte ich mir in Indien etwas die Kunst des Schlangenbeschwörens angeeignet. Ich unterrichtete Freddy darin, der nunmehr den Beinamen »die Natter« erhielt und mit Vorführung der Schlangen auf ehrliche Weise sein Brot verdient.

Allerdings wäre es vorzuziehen, daß er mehr arbeitete, nicht wahr, Freddy? Heute ist es Java, seine Schülerin, die ihre Schlangen produziert, während ihr Herr und Gebieter sich dem süßen Nichtstun hingibt. Doch was schadet's? Die Hauptsache ist, daß Freddy nicht mehr stiehlt, und mit dem ganzen Eifer eines guten Genius wache ich darüber, daß er nicht wieder rückfällig werde.

Ich denke, Sie fangen bereits an, zu verstehen? Seine Person führte Sie irre. Sie glaubten hinter dem ›Zweiten Ich‹ Jean Mareuils her zu sein. Seit einiger Zeit verbringt Freddy den Tag in einem Zimmer meines Palais, das an das meine angrenzt. Erst am Abend, wenn ich nach Hause komme, geht er aus, um gegen Morgen wieder heimzukehren.

Nicht schlecht ausgedacht, was? Ich wußte genau, daß Sie in Ihrer Freude, einen Apachen-Jean-Mareuil gefunden zu haben, ihn nicht mehr aus den Augem lassen und aufhören würden, dem wirklichen Jean Mareuil nachzuschleichen. Nun vermochte ich, wie es mir paßte, zu recherchieren, da und dorthin zu gehen, und hinter Ihrem Rücken alle erwünschten Nachfragen und Nachforschungen zu unternehmen.

Ich unterrichtete auch den Polizeipräfekten von meinen Plänen und Absichten, von deren Ziel und Zweck, und über alle Maßnahmen, die ich ergriff, um die Angelegenheit zu gutem Ende zu führen. Sie werden sich nun nicht mehr über das Verhalten des Polizeipräfekten Ihnen gegenüber wundern, Graf Prase. Wir arbeiten ja Hand in Hand.

Meine kleine Mystifikation ist mir gelungen. Sie war auch sorgfältigst vorbereitet. Freddy siedelte in mein Palais über. Die ihm treu ergebene und verschwiegene Java erfuhr von nichts. Mein guter Freund, Herr Feuillard, entsandte jede Nacht einen seiner Angestellten in die ›Bar der Kumpanei‹, um Freddy zu beobachten und mich über etwaige Dummheiten, die er machen sollte und die unsere Pläne hätten scheitern lassen können, auf dem laufenden zu halten. Und ich tat gut daran. Denn eines Morgens ließ mir Feuillard mitteilen, Freddy habe durch Unachtsamkeit seine Tätowierung sehen lassen, was mich veranlaßte, mir unverzüglich auf den Vorderarm eine blaue Natter aufmalen zu lassen, die ich Ihnen, Graf Prase, neulich zeigte.

Jawohl, ich zeigte sie Ihnen, wußte ich doch, mit wem ich es zu tun hatte, und daß Ihnen die Tätowierung Freddys bekannt war, jene Tätowierung, die Gilberte Entsetzen eingejagt hätte. Daher fürchtete ich irgendwelche Manöver Ihrerseits, die mich zwingen könnten, in Gegenwart meiner Verlobten den Ärmel zurückstreifen zu müssen. Was hätte dann wohl Gilberte beim Anblick der blauen Schlange gesagt? Und was hätten Sie für ein Gesicht gemacht, wenn mein Arm von der Vipertätowierung frei gewesen wäre?

Dank der splendiden Ruhe, die Sie mir gönnten, machte ich mich ans Werk. An der Hand der damaligen Tagespresse und der Aussagen der Leute, die ich interviewte, studierte ich das Drama von Luvercy. Tausend Details und Fakten wurden von mir notiert. Unter andern, daß Frau Guy Laval in den Daumen der linken Hand gestochen wurde. Zu dieser Feststellung trat bald folgende hinzu: Frau Laval gebrauchte lieber die linke als die rechte Hand. Der Beweis hierfür wurde mir eines Morgens, als ich unter dem Vorwande, Gilberte zu einem Spazierritt abzuholen, viel zu früh kam und im Salon warten mußte. Man ließ mich, wie ich vermutet hatte, allein, und dies benutzte ich dazu, in dem Ihnen bekannten Album die Photographien der entzückernden Frau zu betrachten, deren Leben mich so sehr interessierte, da ich ja nach den tragischen Ursachen ihres Hinscheidens forschte. Da fiel mir nun etwas sofort in die Augen, und Sie werden es selbst bestätigen, wenn Sie die Bilder betrachten. Ob Frau Laval eine Blume pflückte oder ihren Sonnenschirm hielt, ob sie den Fächer in die Hand nahm oder ein Tier streichelte, immer benutzte sie die Linke, die Linke, in welche die Viper sie mit dem einen Giftzahne biß. Ich gestehe ganz ehrlich, daß ich mir über die Tragweite dessen erst nach langem Hin- und Hergrübeln klar wurde. Ich wußte, daß ich einen wichtigen Umstand entdeckt hatte, dessen Auswirkung mir jedoch für den Augenblick noch nicht voll einleuchtete.

Vielleicht wäre dies schneller der Fall gewesen, hätte ich schon damals gewußt, daß das in die Mitte des Zimmers hereinstehende Bett der Verstorbenen seine rechte, nicht seine linke Seite dem Fenster zukehrte, durch das die Viper angeblich eindrang. Die Viper hätte somit um das Bett herumkriechen müssen, um ihr Opfer in die Linke beißen zu können. Oder man mußte annehmen, daß die Schlafende auf der rechten Seite lag, mit dem Gesicht zum Fenster hin, und die Linke über dem rechten Bettrand herabhängen ließ, oder mit der Linken versucht hatte, das sich bewegende, raschelnde Reptil zu haschen.

Nun begab ich mich zu dem Wohnsitz von Marie Lefebre, der ehemaligen Kammerjungfer der Verstorbenen, und zu ihrem Gatten, dem früheren Gärtner und Hausmeister von Luvercy.

Das Ehepaar machte mir von den Briefen Mitteilung, Graf Prase, die Sie unter der Adresse der Zofe aufgaben und die den Poststempel von Luvercy trugen, da Sie ja nach abgelegtem Abiturientenexamen im Schloß selbst wohnten. Wenn ich mich nicht irre, waren diese Ihre Briefe an Marie Lefebre adressiert? Ist es so?«

Lionel blickte seine Mutter, dann Gilberte und Mareuil an und verzichtete darauf, die Sache abzuleugnen.

»Jawohl, es stimmt!« sagte er dumpf.

»Das Ehepaar teilte mir ferner mit, daß die Viper, der der Kopf zerquetscht worden war, in der Nacht des Dramas selbst von einem Mann gegen zwölf Uhr in einem kleinen Boskett des Parkes eingegraben wurde.«

»Wenn ich das gewußt hätte!« rief Gilberte.

»Nun, ich habe persönlich festgestellt, daß die Viper, heute nur mehr ein Skelett, am Fuße eines alten Baumes im Park verscharrt liegt. Vor drei Tagen war ich in Luvercy, um mir darüber Gewißheit zu verschaffen. Ich überkletterte die Parkmauer, und es war mir unschwer, die sechs Hektar Boskette und Baumbestand zu durchforschen. Auf Grund dieser meiner Ortskenntnis vermochte ich auch das Wasser aus der nahen Grotte so rasch herbeizuholen, als sich Gilberte an dem Rosenstrauch in den Finger stach und in Ohnmacht lag.«

Die Gräfin und ihr Sohn zuckten zusammen. Alles stürzte vor ihren Augen ein.

»An jenem Tage fand ich keine Gelegenheit, das Schloß selbst zu betreten«, fuhr Mareuil fort. »Für solche Unternehmungen ist die Nachtzeit günstiger. Doch was vorgestern während unseres gemeinsamen Aufenthaltes in Luvercy sich ereignete – ich betone vorgestern, denn jetzt ist es bereits drei Uhr früh –, veranlaßte mich, den Verlauf der Dinge zu beschleunigen und nicht mehr länger die Besichtigung des Sterbezimmers der Frau Laval hinauszuschieben.«

»Sie bekundeten doch Ihr völliges Desinteressement damals?« bemerkte die Gräfin verächtlich.

»Beim Zeus! Das gehörte doch zu meiner Rolle, Gräfin! Ebenso wie es zu meiner Rolle gehörte, alle Welt glauben zu machen, daß ich die Hoffnung aufgegeben habe, den Schleier zu lüften, der über dem Drama von Luvercy schwebte. Auch hatte ich noch einen andern Grund, Furcht vor einem längeren Aufenthalt in Luvercy zu heucheln. Nehmen wir einem Moment an, Graf Prase, daß ich Sie nur von meiner Mitschuld am Verbrechen vom 19. August überzeugen wollte, denn glauben Sie ernstlich, daß ich nicht Ihren Verdacht witterte? Mit Ihren verfänglichen Fragen hatten Sie sich ja selbst verraten. Doch nicht darum war es mir zu tun, sondern ich wollte unter allen Umständen das ›Platzen der Bombe‹ beschleunigen, auf den Punkt gelangen, auf welchem wir jetzt stehen, auf den Sie mich zu bringen beabsichtigten, indem Sie Freddy veranlaßten, hier im Hause einzubrechen, welch teuflischer Plan von Ihnen mir großartig ins Konzept paßte.

Letzte Nacht begab ich mich also nochmals nach Luvercy. Freddy hatte Befehl, sich nicht von Hause fortzurühren. Ich selbst konnte getrost per Auto von daheim wegfahren, da ja Graf Prase seinem Späherdienst vor meinem Palais aufgegeben hatte.

Bemerken möchte ich, aus Amateur-Detektiveitelkeit, daß ich über das Ganze bereits vollkommen im Bilde war und nur noch die sachlichen Beweise haben wollte.

Nun, sie wurden mir – und zwar in dem Zimmer der verstorbenen Frau Laval. Meine Tätigkeit war bereits beendet, als mich der brave Heurtebois überraschte.

Überrascht ist eigentlich nicht das richtige Wort, denn ich warf mit Absicht einen Stuhl um und schreckte so den wackeren Schloßwart vom Schlaf auf. Noch ehe er zur Stelle war, hatte ich das kleine Ölbild – das, nebenbei gesagt, gar kein Manet ist – von der Wand genommen, denn es handelte sich darum, in Ihnen den Glauben zu erwecken, daß Jean Mareuils ›Zweites Ich‹ Jean-Mareuil-Freddy, einen Einbruchsdiebstahl begangen habe.«

»Warum?«

»Damit alles so verlaufe, wie es jetzt verlief, damit wir uns heute alle vor diesem Geldschrank, der seine Geheimnisse preisgeben wird, vereinigt sehen.«

»Herr Mareuil,« näselte Lionel hochmütig, »ich sehe nicht ein, was das alles mit meiner Mutter und mir zu tun hat. Unser Entschluß kann in keiner Weise durch Ihr Vorbringen alteriert werden. In dem Augenblick, wo – wie Sie selbst zugeben – meine Mutter nicht verdächtigt werden kann, die Viper geleitet zu haben, und ich, wie ich beschwören kann ...«

»Was können Sie beschwören, Graf? Ich könnte Sie an das Problem des ›Zweiten Bewußtseins‹ erinnern, an das ich, wie Sie wissen, nur halb glaube. Ich könnte Sie ferner daran erinnern, daß Sie sofort wußten, wo in Luvercy Spaten und Schaufel untergebracht sind, als Sie dieser Werkzeuge bedurften – und doch bin ich weit davon entfernt, zu argwöhnen, daß Sie die Viper in jener Nacht verscharrten oder daß etwa Ihr ›Zweites Ich‹, Sie selbst, in einem Anfall von Mondsüchtigkeit, der Mörderschlange Weg und Opfer wiesen. Denn hören Sie: niemand leitete die Schlange. Kein menschliches Wesen leitete von nah oder aus der Entfernung das Mörderwerk, das an Frau Guy Laval in der Nacht vom 19. auf den 20. August vollbracht wurde. Erstens. Und zweitens. Jener, der die Schlange eingrub, ist ...«

Bleich und verstört reckte sich Aubry auf und hob die Hände flehend empor.

»Gnade, Gnade!« gurgelte er. »Schon die lange Zeit spannen Sie mich unmenschlich auf die Folter. Ich werde alles bekennen!«

»Sie haben sich verraten!« sagte Mareuil. »Bis jetzt hatte ich Sie nur im Verdacht, nun aber weiß ich alles.«

»Herr, ich bin unschuldig. Sie müssen es wissen. Absolut unschuldig! Ieh werde alles bekennen, alles, alles ... es war für ... es war für den Herrn Grafen ... ich will's Ihnen erzählen ...«

Gilberte richtete sich in ihrem rosa Kleid auf, während Lionel angestrengt nachdachte, als mißtraue er seinem eigenen Gedächtnis und als sei er sich über das, was geschehen war, selbst im unklaren.

Aus dem Sphinxantlitz der Gräfin leuchteten die Augen mit leidenschaftlicher Glut. Sie blickte ihren Sohn verzückt an. Die ganze Wucht ihrer mütterlichen Liebe kam in diesem Blick zum Ausdruck.

Sie trat auf ihn zu, umfing ihn und küßte ihn lang und wild. Dann näherte sie sich langsam dem Panzerschrank und öffnete ihn. Als die schweren Flügel aufsprangen – so lautlos war es, daß man eine Mücke hätte fliegen hören –, griff sie in die Höhlung des Safe, packte ein paar Wertpapiere, warf sie auf den Teppich, versenkte wieder die Hand in das gähnende dunkle Loch der Schranktiefe und wandte sich an ihren Sohn mit den Worten:

»Für dich geschah es, Lionel, mein geliebter Junge. Verzeihe! Verzeiht mir alle. Es gibt nur einen Schuldigen. Aubry erfuhr die Wahrheit erst am anderen Tag. Ich allein, ich allein bin die Schuldige!« Und kaum hatte sie es gesagt, fiel sie lautlos nieder.

Man stürzte sich auf sie. Ihr Gesicht war blau marmoriert, ebenso ihr Hals und die schlaffen Arme und Hände.

Mareuil schüttelte den Kopf.

»Sie ist tot – das da verzeiht nicht!«

Er hob ihre Rechte empor. Im Schein der elektrischen Lampe erblickte man an dem Daumen der Toten einen einzigen dunklen Blutstropfen – einen Blutstropfen, der deutlich für sich sprach.

»Oh!« entsetzte sich Gilberte. »Wie bei Mama! Die Viper!«

»Was soll das bedeuten?« jammerte Lionel starr vor Entsetzen. »Was birgt der furchtbare Schrank?«

Gilberte war bis zu der Tür zurückgewichen. Alles blickte furchtgelähmt auf den offenstehenden Safe. Welch scheußliches Schlangenhaupt würde ihm entkriechen? Welcher Giftrachen seinen einzelnen todbringenden Zahn fletschen? War die afrikanische Giftotter nicht tot? Würde ihr schwarzweißgeringelter Leib sich aus dem Bauch des Panzerschrankes entrollen? Oder staken gar mehr als nur eine Schlange darin, in diesem ehernen Bau?

Selbst der kühne und furchtlose Freddy hatte sich kleingemacht.

Da streckte Mareuil trotz der inständigsten Bitten Gilbertes seinen Arm aus und griff in die Höhlung des Schrankes hinein.


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