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XI.

Die Enthüllung der Marie Lefebre.

Am anderen Morgen entstieg dem Pariser Zug ein Reisender auf dem Bahnhof von Epernay. Er war zweiter Klasse gefahren und anständig und unauffällig gekleidet. Ein geübtes Auge hätte in ihm vielleicht die charakteristischen Züge eines Geheimpolizisten entdecken können.

Er wandte sich dem Stadtzentrum zu und trat, nachdem er die Straßentafel und die Hausnummer konsultiert hatte, kurz entschlossen in den Kramladen eines Grünzeughändlers ein.

»Frau Lefebre?« sagte er, den Strohhut lüftend.

»Ich bin's, mein Herr.«

Die Händlerin, eine schmucke Brünette, bediente gerade ihre Kundschaft.

»Ich möchte gern mit Ihnen zwei Worte reden, Frau Lefebre. Werde Sie nicht lange belästigen.«

Der Schatten einer leicht erklärlichen Besorgnis huschte über das Gesicht der Frau. Es ist nie recht angenehm, den Besuch eines Unbekannten zu empfangen, der einem in das Ohr flüstert: »Ich habe zwei Worte mit Ihnen zu reden.«

»Eugen!« rief sie. »Komm ein wenig her!«

Ein mürrisch und verschlossen dreinblickender Vierziger kam in Hemdsärmeln und blauer Schürze aus dem rückwärtigen Teil des Ladens.

»Der Herr da möchte mich sprechen.«

Der Fremde grüßte höflich.

»Um was handelt es sich?« erkundigte sich der Krämer.

»Nicht wahr, Sie sind doch Frau Lefebre, geborene Simon?« meinte der Besuch. »Sie standen vor fünf Jahren als Jungfer im Dienste der verewigten Frau Guy Laval?«

»Allerdings«, murmelte die Händlerin.

»Gestatten Sie mir ein paar Fragen?«

»Treten Sie hier ein!« sagte der Mann.

Wortlos und scheinbar peinlich berührt, führte das Ehepaar den Fremden in eine Art Speisezimmer, das an den Laden angrenzte.

»Was gibt es denn?« fragte die ehemalige Zofe mit unsicherer Stimme.

»Nichts, gar nichts, beruhigen Sie sich, werte Frau. Wir möchten nur etwas Näheres über den Tod von Frau Guy Laval erfahren und nahmen an, daß Sie und Ihr Gatte vielleicht in der Lage sind, uns die gewünschten Auskünfte zu geben. Denn« – der Redner wandte sich an den Mann – »Sie bekleideten in Luvercy den Posten eines Gärtners und Schloßwartes, als Frau Laval starb. Nicht wahr?«

Lefebre, der kein Mann vieler Worte war, nickte und zwinkerte nur bejahend mit den Augen.

Sie zeigte sich mitteilsamer.

»Fast unmittelbar nach dem Hinscheiden der Schloßherrin verließen wir den Dienst, um zu heiraten«, begann Frau Lefebre. »Ich hatte die Verstorbene sehr gern, während ich die Gräfin Prase nicht mochte, denn sie war eine zu genaue Dame. Mein Mann war Witwer. In Luvercy lernten wir uns kennen. Gleich nach unserer Hochzeit ließen wir uns hier in Epernay, seiner Heimat, nieder. Und das Geschäft geht, wie Sie sehen! ... Mali, Mali!« rief sie. »Bediene die Kundschaft, ich habe zu tun!«

Mali, ein strubbeliges Frauenzimmer, stürzte hierauf, sich die Hände an der blauen Schürze abtrocknend, in den Verkaufsladen, wo die Weiber mit ihren Wirtschaftstaschen die verschiedenen Früchte und Gemüse betasteten, abschnüffelten und in der Hand wogen.

Der Fragesteller hatte den Ausführungen der wackeren Krämerin wohlgefällig zugehört.

»Sagen Sie mir,« fuhr er fort, »ereignete sich während der acht Tage, die dem Todesfall vorangingen, nichts, was einen mit bösen Vorahnungen hätte erfüllen können?«

»Aber, ich bitte, Herr ... bei so einem Unglück ...«

»Ich denke dabei an alle die kleinen Vorkommnisse, auf die man momentan nicht acht gibt, die einem aber dann später, nach Eintritt einer Katastrophe, plötzlich einfallen. Verstehen Sie? Bemerkte zum Beispiel nicht jemand zufällig, daß die Kiste, in der die Viper untergebracht war, nicht in Ordnung gewesen ist?«

»Sie war in Ordnung,« erklärte Lefebre, »und da ich es war, der die scheußlichen Bestien zu betreuen hatte, war niemand verblüffter als ich.«

»Worüber verblüfft?«

»Über das Entkommen der Viper, zum Teufel.«

»Weshalb?«

»Weshalb? Ei, weil die Kiste fest schloß und absolut dicht war.«

»Sie soll aber eine Spalte aufgewiesen haben, durch welche die Schlange herausschlüpfte!«

»Vielleicht hat sie eine Ritze erweitert, sonst wäre es ausgeschlossen.«

»Nun, und diese Ritze war am Abend vorher, den ganzen Tag über ...«

»Nichts, nichts, Herr! Ich kann Ihnen nur das eine sagen, diese angebliche Ritze war am Neunzehnten morgens, dem Vortage des Hinscheidens unserer Herrin, nicht vorhanden, das heißt zwischen zwei Brettern der Kiste klaffte höchstens ein kleiner Spalt von nicht ganz zehn Millimeter Breite.«

»Ist es Ihrer Meinung nach denkbar, daß jemand diesen Spalt von außen, oder als die Viper sich nicht mehr in der Kiste befand, von innen erweiterte?«

»Das schon. Wer hätte das aber tun sollen und in welcher Absicht? Etwa um glauben zu machen, daß sich die Schlange selbst befreite? Ich verstehe Sie vollkommen, muß aber bekennen, daß ich nie auf diesen Gedanken kam.«

»Höre mal, Eugen,« meinte seine Frau, die scheinbar eine gewisse Unruhe verspürte, »so etwas solltest du nicht laut sagen. Du weißt, daß wir die einzigen waren, denen die Geschichte nicht ganz geheuer vorkam. Ich mag keine Unannehmlichkeiten. Wenn man auf die Sache zurückkommt, mein Lieber, muß man Farbe bekennen.«

Der Gatte blickte sie nachdenklich an.

»Nun, wir sind uns keiner Schuld bewußt«, brummte er. »Wir haben nichts Böses begangen. Überhaupt wissen wir nicht viel.«

»Aber etwas doch«, meinte der Fremde mit größter Ruhe. »Was wissen Sie?«

Frau Lefebre ergriff wieder das Wort: »Wir wissen, daß man die Viper umgebracht und in der gleichen Nacht, in der Frau Guy Laval starb, in einem Buschwerk des Parkes eingegraben hat.«

Der Fremde kniff die Augen zusammen. Ein flüchtiger Blitz durchzuckte seine Augen.

Die Frau fuhr fort: »Lefebre und ich waren schon miteinander versprochen, aber niemand ahnte es. Wir trafen uns immer nachts im Park. Wenn er gegen zehn Uhr abends seinen Rundgang gemacht hatte, ging ich zu ihm, und wir plauderten dann miteinander im Park bis gegen Mitternacht.«

»Und wenn Frau Laval Ihnen geläutet hätte?«

»In der Stille der Nacht würde ich es gehört haben und wäre ins Schloß zurückgegangen. Aber meine Herrin läutete mir nachts erst, als sie krank wurde, und niemals vor ein Uhr früh. Das war schon so die Regel. Punkt ein Uhr läutete sie Nacht für Nacht um ihren Tee.«

»Bitte fahren Sie fort!«

»Also, wie gesagt, Eugen und ich befanden uns, gut gedeckt, im Park, als wir die Schritte eines Mannes vernahmen, der äußerst vorsichtig daherschlich. Wir verstummten. Sehen konnte man nichts. Uns auch nicht. Der Mann blieb unweit unseres Versteckes stehen, und wir vernahmen deutlich, wie er ein Loch in die Erde grub. Erkennen konnten wir ihn nicht, den Betreffenden, wissen daher auch nicht, wer es gewesen sein mag. Ich hatte eine solche Heidenangst, daß wir uns noch lange nach seinem Verschwinden nicht zu rühren getrauten. Endlich bin ich, am ganzen Leibe zitternd, ins Schloß zurückgekehrt. Über die Dienerschaftstreppe bin ich in mein Zimmer gegangen und habe die ganze Nacht kein Auge geschlossen. Wenn mir also meine Herrin geläutet hätte, wäre ich im Nu bei ihr gewesen.«

»Wieviel Uhr war es, als der Mann das Loch grub?«

»Kurz vor Mitternacht«, erwiderte Lefebre.

»Da somit die Viper um diese Stunde tot war, muß Frau Laval früher verschieden sein. Das möchte ich festgestellt haben. Sagen Sie mir jetzt, wann begannen Sie darüber nachzudenken, was der Mann sich eigentlich im Park zu schaffen gemacht hatte?«

»Nun, nicht wahr, als erstes fiel mir am Morgen dies Erlebnis im Park ein. Da aber bei der Nachricht vom Tode unserer Herrin jeder den Kopf verlor und alles drunter und drüber ging, konnte ich erst etwas später in die Boskette schleichen, wo der Mann das Loch gegraben hatte. Am Fuß eines Baumes fand ich die Stelle, denn hier war das Erdreich frisch aufgewühlt. Nun grub ich selber nach und zog alsbald die schwarzweiß geringelte tote Viper aus dem Boden. Man hatte ihr den Kopf zerquetscht. Ich verscharrte sie dann wieder.«

»Aber warum haben Sie nichts gesagt und das ganze Schloß in Entsetzen gelassen?«

»Das wäre noch schöner gewesen. Man hätte ja seine kleinen Stelldicheins beichten müssen. Zu Lebzeiten der Frau Laval wäre das weiter nicht so arg gewesen. Sie war so herzensgut, aber die Frau Gräfin Prase, die duldete keine Geschichten. Sie hätte mich sofort davongejagt!«

»Ich kann Ihnen nicht beipflichten«, bemerkte der Fremde.

»Weil Ihre Person nicht in Frage kommt«, erwiderte die Gemüsehändlerin bissig.

»Nun noch eine, eine letzte Frage! Haben Sie irgendeine Idee oder einen Verdacht, wer der Betreffende gewesen ist, der die Viper eingrub?«

»Keine blasse Ahnung, Herr!« erklärte Lefebre. »Oft sprechen wir darüber, meine Frau und ich, aber wir stehen vor einem Rätsel. Zuerst dachte ich mir, daß vielleicht einer vom Schloßpersonal oder von der Herrschaft die Viper erschlagen haben könnte, jemand, dem die Schlange über den Weg lief, als sie das Schlafzimmer Frau Lavals verließ. Als ich aber dann sah, daß kein Mensch darüber redete und alle ohne Ausnahme jeden Winkel nach der Viper durchstöberten, wurde ich darin irre.«

»An ein Verbrechen dachten Sie wohl nicht?«

»Nein, Herr, an ein Verbrechen keine Sekunde, eher an eine begangene Unachtsamkeit, die mit dem Hinscheiden der Frau Laval katastrophal geendigt hat.«

»Es fiel Ihnen nicht ein, daß am Ende irgendein Verbrecher, der die Kunst des Schlangenbeschwörern beherrschte, sich der Viper bediente, um Frau Guy Laval aus dem Wege zu räumen?«

»So ein schrecklicher Gedanke wäre uns nie gekommen!« rief das Ehepaar wie aus einem Munde aus.

»Wäre es möglich?«

»Wenn wir derartiges vorausgesetzt hätten, wären wir selbstredend mit allem herausgerückt, was wir wußten«, erwiderte Lefebre.

»Warum hüllte sich aber dann der Mann, den Sie nachts im Park beobachteten, in ein derart verdächtiges Stillschweigen?«

»Das will nichts sagen. Angenommen, der Betreffende sei jemand vom Schlosse gewesen – wir anderen waren doch auch vom Schloß, Marie und ich, und völlig unschuldig, und redeten doch auch keine Silbe. Durften wir überhaupt etwas sagen? Man hätte sich da schön in die Brennesseln gesetzt.«

»Gerade das wollte ich von Ihnen hören. Genau aus demselben Grund schwieg der Unbekannte des Parkes, um sich nicht darüber äußern zu müssen, wieso er ausgerechnet in der Nacht der Viper im Park begegnete, der schwarz-weiß geringelten Giftnatter, der es gelang, aus dem verschlossenen Zimmer Frau Lavals wieder herauszukommen. Da, wie gesagt, die Türen des Schlafzimmers erst am Morgen geöffnet wurden, muß die Viper ihren Rückzug durch den herzförmigen Ausschnitt der eisernen Fensterläden bewerkstelligt haben. Wen haben Sie also in Verdacht?«

»Niemand vom Schloß«, erklärte Lefebre in bestimmtem Ton.

»Warum nicht?«

»Nun, das ist doch klar wie dicke Tinte! Denken Sie doch selber gütigst darüber nach. Außer den ihrer Herrin treu ergebenen Dienstleuten, die ich samt und sonders für ruhige, brave Menschen halte, waren die einzigen Männer im Schlosse Herr Guy Laval und der junge Graf Lionel von Prase, der Neffe der Frau Laval.«

»Ich sehe keinen Grund ein, weshalb diese nicht in Betracht kommen könnten«, meinte der Fremde. »Sowohl der eine wie der andere begaben sich vielleicht auf mysteriöse Abenteuer während der Nacht. Herrn Laval ängstigte vielleicht der Zustand seiner Gattin nicht, aber der junge Graf sorgte sich am Ende um seine liebe Tante und wollte durch den Laden auf ihre Atemzüge lauschen. Das ist nicht ohne weiteres von der Hand zu weisen, wenn auch nicht wahrscheinlich, denn weder die Gräfin Prase noch deren Nichte Fräulein Gilberte vernahmen nachts auch nur das mindeste Geräusch. Eins müßte vor allem festgestellt werden, ob nämlich die betreffende Person, die im Park die Schlange einscharrte, wirklich ein Mann gewesen ist.«

»Darauf könnte ich schwören!« versetzte Lefebre. »Obwohl wir ihn nur hörten und nicht sahen.«

»Übrigens kämen nur zwei weibliche Wesen hier in Betracht«, fuhr der ›Detektiv‹ fort: »die Gräfin und ihre Nichte.«

»O, das müssen Sie sich ganz aus dem Kopf schlagen!« rief Frau Marie.

»Das werde ich nicht tun, schon aus Prinzip nicht. Im Gegenteil, ich würde diese Frage sehr in Erwägung ziehen, wüßte ich nicht, daß beide die ganze Nacht hindurch sich in dem Ankleidekabinett befanden, das an das Schlafzimmer der Frau Laval angrenzte. Über diesen Punkt habe ich eine einwandfreie Zeugenaussage. Aber vorhin schien es mir, daß Sie auch noch einen anderen Grund dafür hatten, daß es niemand vom Schloß war. Der wäre?«

Lefebre schaute seine Frau an, die errötend den Kopf senkte.

»Bitte, reden Sie, liebe Frau!«

»Nun, ich war doch die Vertraute der Gnädigen, und die Gnädige besaß einen Schützling ... einen jungen Mann, für den sie sich im geheimen interessierte ... und der ihr unter meiner Adresse schrieb. Es war lediglich ein gutes Werk, das sie tat, nichts anderes, das kann ich versichern, Herr. Die Gnädige beteuerte dies mir gegenüber immer wieder, sonst hätte ich mich nicht dazu hergegeben. Es handelte sich um einen sehr jungen Mann, der Gefahr lief, auf Abwege zu geraten, und den meine Herrin retten wollte.«

»Wer war's? Wie hieß er?« fragte rasch der Fremde.

»Ich weiß nicht, habe ihn niemals zu Gesicht bekommen. Ich vermittelte nur die Briefe. Das ist alles.«

»Und was ist aus diesen Briefen geworden?«

»Die Gnädige hat sie verbrannt, und seit sie krank war, verbrannte ich sie. Und da Frau Laval nicht mehr schreiben konnte, ist vielleicht der junge Mann nach Luvercy gekommen, um sie diese Nacht zu sehen. Er mußte sich schon mehrere Tage im Dorfe aufgehalten haben, denn die Briefe trugen den Poststempel von Luvercy.«

Der Fremde runzelte die Brauen.

»All das bringt uns der Lösung des Rätsels, wie die Viper ihre Flucht bewerkstelligte, um keine Idee näher«, sagte er nach einer Weile. »Wenn jemand sich der schwarz-weiß geringelten Giftnatter als Mordwerkzeug bediente und nachher die Spalte in der Kiste erweiterte, um eine Selbstbefreiung der Viper vorzutäuschen, wer war dieser ›jemand‹?«

Nach einigem Zögern meinte Frau Lefebre schüchtern: »Die Gnädige sprach von dem jungen Mann wie von einem wirklichen Taugenichts. Oft warnte ich sie vor ihm. Aber sie wollte nicht hören. Es sei eine heilige Mission, die sie erfülle, sagte sie; eine Seelenrettung, ein Bekehrungswerk. Man konnte mit ihr darüber nicht sprechen.«

»Frau Laval muß sehr hübsch gewesen sein, aber etwas phantastisch und kapriziös, nicht?«

»Sie war ein verwöhntes Kind, Herr, und von ungemein zärtlichem Naturell. Für einen Gatten wie den ihrigen, der nie daheim weilte, paßte sie nicht. Kein Wunder, wenn sie Ablenkung suchte.«

»Gefährliche Sache das!«

»Sicherlich, aber alles in Ehren, alles in Ehren, Herr. Sie war die tugendhafteste und ehrenhafteste Frau, die es gab, dafür kann ich einstehen.«

Lefebre wackelte ein wenig maliziös lächelnd mit dem Kopf, was aber der Fremde nicht bemerkte, denn er war plötzlich mit sich selbst derart geistig beschäftigt, daß er überhaupt die Gegenwart des Ehepaares völlig vergessen zu haben schien.

Frau Marie tippte ihm auf den Arm.

»Noch etwas möchte ich Ihnen sagen«, sprach sie. »Wenn ich zu Eugen in den Park ging, gebrauchte ich stets die Vorsicht, die Tür zweimal abzusperren und den Schlüssel einzustecken.«

»Das ist ganz unerheblich, gute Frau. Das Schloß hatte mehrere Eingänge, auch dürfte Ihr Schlüssel nicht der einzige der betreffenden von Ihnen abgesperrten Tür gewesen sein. Das Wichtige sind die Briefe. Wo sind die?«

Und sich an die Schläfen fassend, ließ sich der Fremde an dem Tisch nieder und verlor sich in finsterem Nachgrübeln.

Dieses wenig polizeiliche Benehmen fiel Maries Gatten auf.

»Verzeihen Sie«, sagte er. »Ich vergaß, Sie um Ihre Legitimationskarte zu bitten. Wo haben Sie den Präfekturausweis?«

»Ich besitze keine Ausweise«, wurde ihm zur Antwort, »sondern bin Amateur, arbeite auf eigene Faust. Gerade diese Sache interessiert mich gewaltig.«

»Was?!« rief Lefebre. »Sie, da ist etwas faul! Wer sind Sie? Ich will's wissen!«

Der also Angeredete rührte sich nicht, blieb vielmehr mit an den Kopf gepreßten Händen sitzen.

»Ihren Namen, Herr! Hören Sie! Ihre Karte her!« ward jetzt Lefebre deutlicher.

Da erwachte der Fremde aus seinem dumpfen Brüten, langte in die Brusttasche seines Rockes und zog ein dickes Portefeuille hervor, dem er zwei 500-Francs-Noten entnahm. Die Scheine mit den Fingerspitzen entfaltend, sagte er:

»Ausweispapiere wünschen Sie? Hier haben Sie welche!«

Mann und Frau wechselten einen verständnisvollen Blick.

»Was steht zu Befehl?« katzbuckelte jetzt Lefebre. »Vielleicht ein Weißwein gefällig?«

»Nichts, danke!«

Des Besuchers Augen schauten verloren in die Ferne. Plötzlich heftete sich sein Blick auf eine Stelle der Wand, wo ein großer altertümlicher Schlüssel hing. Er erhob sich, um den Gegenstand seines Interesses näher zu betrachten.

»Der Kellerschlüssel!« erklärte der Grünzeughändler.

»Gutes Stück«, murmelte der »Detektiv«. »17. Jahrhundert, Zeit Ludwig XIII.«

»Der Herr ist Kenner?« meinte Frau Marie dienstbeflissen und schielte nach den zwei Banknoten, die auf dem Tisch lagen. »Uns liegt an dem Schlüssel nichts. Wenn der Herr ihn haben möchte, lassen wir uns einen neuen machen.«

»Vielleicht werde ich Ihnen den Schlüssel eines Tages abkaufen«, erwiderte der Fremde, aber mit so eigentümlicher Bedeutung, daß die Lefebres nicht wagten, weiter in ihn zu dringen. Entweder vermochte er sich nicht aus seinen Grübeleien loszulösen, oder etwas anderes machte ihn stutzig. Da er die Verlegenheit des Ehepaares wahrnahm, fügte er hinzu: »Über dem Drama von Luvercy lagert ein mysteriöser Schleier, und ich habe das Gefühl, gut daran zu tun, wenn ich darauf verzichte, ihn lüften zu wollen!«

»Sie betreiben ein recht gefährliches Geschäft«, meinte die Frau. »Großer Gott, so etwas wäre für mich nichts.«

»Gefährlich vielleicht, gute Frau, ich gestehe es ein. Tatsächlich sieht man sich oft von solch tückischen Finsternissen eingehüllt, daß man den Mut verlieren könnte.«

»Haben Sie Angst?« fragte Lefebre unwillkürlich. »Die Viper ist ja endgültig tot.«

»Das sicherlich – doch jener, der sich ihrer als Mordwaffe bediente, wird wohl noch unter den Lebenden weilen, und ich frage mich mit Entsetzen, wer er sein mag.«

»Mit Entsetzen«, wiederholte er mehrmals für sich. Dann raffte er sich auf, verabschiedete sich von dem Ehepaar und schritt langsam, nachdenklich, dem Ausgang zu.

»Was ist's mit dem Schlüssel? Mögen Sie ihn nicht mehr, oder sollen wir ihn für später reservieren, Herr?«

Auf Maries Frage drehte sich der Fremde um und meinte zögernd: »Nicht nötig. Ich verzichte auf den Schlüssel, das heißt, ich kaufe ihn nicht, gute Frau.«

Dann ging er und fuhr mit dem ersten Zuge nach Paris ab.

In Meaux stieg er aus. Dort erwartete ihn, ziemlich weit vom Bahnhof, ein Automobil mit Kabriolettkarosserie.


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