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XVI.

Lionel verfolgt seine Idee.

Der von der Gräfin Prase für den Ausflug nach Luvercy ins Auge gefaßte Donnerstag rückte näher.

Schon seit einigen Tagen war der Schloßverwalter von dem beabsichtigten Besuch in Kenntnis gesetzt worden. Am Vormittag des Tages selbst erklärte Lionel seiner Mutter, daß er vorausfahren wolle, um persönlich nachzusehen, ob alles in Ordnung sei. »Das Schloß ist so lange unbewohnt geblieben, daß es sicherlich eine Menge Kleinigkeiten gibt, die man sich anschauen muß, damit Gilberte bei ihrer Rückkehr nach Luvercy nicht enttäuscht ist. Und um das alles in Richtigkeit zu bringen, ist ›Papa Heurtebois‹ nicht der Mann.«

Lionel fuhr also noch sehr früh am Morgen in seinem kleinen Rennauto ab. Daß ihn aber Aubry in der Rue de Tournon vor Haus Nr. 47 erwarte, hatte er niemand, nicht einmal seiner Mutter, verraten.

Stolzerfüllt ob solcher Ehre, nahm Aubry an der Seite des Grafen Platz, und das Auto schlug bei wundervollstem Wetter die Straße nach dem Tal Chevreuse ein.

Aubrys rascher Erfolg und das Glück, das er bei der Entdeckung des Beschützers von Freddy entwickelt hatte, hatten nicht verfehlt, auf Lionel einen gewissen Eindruck zu machen. Er sagte sich daher, daß ihm ein so geriebener »Adjutant« recht nützlich sein und daß dessen Mithilfe bei Besichtigung des Schlosses manche interessanten Schlüsse zeitigen könnte. Bis jetzt hatte der tragische Hingang der Frau Guy Laval nirgends Verdacht erregt. Niemand vermutete ein Verbrechen dahinter. Nie hatte auch ein Lokalaugenschein unter diesem Gesichtswinkel stattgefunden. Nun tauchte ein Mensch, der Jean Mareuil hieß und den Beinamen »Freddy, die Natter« führte, auf, dessen unruhiges Benehmen derart auffiel, daß man mit Recht auf die Vermutung kommen konnte, er habe bei dem Tode der Frau Guy Laval irgendwie seine Hand mit im Spiel gehabt. Dieser Verdacht wurde durch seine Gabe, Schlangen zu beschwören, noch stärker unterstrichen. Den Mord, der ihm allerdings schwer nachzuweisen war, und zwar sowohl mangels an Beweisen als eines vernünftigen Grundes, hatte er als »Zweites Ich«, nicht als Jean Mareuil, sondern als »Freddy, die Natter« begangen. Nahm man einen derartigen Mord an, verlor das Drama von Luvercy seine ganze Rätselhaftigkeit.

»Denn, wissen Sie,« meinte der Graf zu seinem Begleiter, »daß die Viper entkommen ist, kann sehr wohl möglich sein, aber ganz unwahrscheinlich kommt es mir vor, daß sie durch die winzigen Ladenausschnitte in das Schlafzimmer meiner Tante gelangen konnte.«

Was hätte der Graf gesagt, wenn er gewußt hätte, was Jean Mareuil aus dem Bericht des Ehepaares Lefebre deduzierte: nämlich, daß die Viper aus der gleichen kleinen Ladenöffnung wieder herausgekrochen sein mußte, daß sie vor Mitternacht erschlagen und eingegraben wurde und die abgeschlossenen Türen des Zimmers erst gegen Morgen geöffnet worden waren.

»Die Sache ist sehr merkwürdig!« bemerkte Lionel.

»Halten zu Gnaden, Herr Graf, der Fall ist vielleicht nicht gar so widersinnig, als Hochdieselben annehmen. Jeden Tag erlebt man und hört man von merkwürdigen Todesfällen, welche sich dennoch auf höchst erklärliche, ich möchte sagen, gut bürgerliche Art abwickelten. Der Zufall ist zuweilen unerhört erfinderisch.«

»Stimmt, aber erinnern Sie sich der Begleitumstände an ›Freddy, die Natter‹, Aubry!«

»Alles recht nebelhaft, Herr Graf, ungemein nebelhaft.«

»Durchaus nicht. Höchstens schwebt ein leichter Schleier, wenn Sie wollen, eine noch unerforschte Verbindung zwischen dem Rätselhaften des Todes meiner Tante und den Indizien, Freddy betreffend. Aber es macht mir stellenweise den Eindruck, als handle es sich um eine zusammenhängende Kette, von der nur die mittleren Verbindungsglieder in Nebel gehüllt sind und im Leeren verschwinden. Es würde genügen, wenn einige wenige dieser Glieder dem Auge sichtbar würden, und die Kette wäre einwandfrei geschlossen.«

Aubry spitzte zweifelnd die Lippen.

»Wie schon erwähnt, Herr Graf, ich besinne mich nicht, Herrn Jean Mareuil jemals in Luvercy gesehen zu haben.«

»Aber zum Kuckuck, Aubry, Sie hätten ihn doch nur nachts in seinem ›Zweiten Ich‹ als Freddy sehen können.«

»Das gebe ich vollkommen zu, Herr Graf. Aber obwohl ich einen sehr leisen Schlaf habe, vernahm ich niemals, auch nicht in der Nacht, in der das Unglück geschah, auch nur das mindeste Geräusch.«

»Das beweist gar nichts. Erstens schliefen Sie im zweiten Stock, zweitens gibt es Menschen, die die Gabe besitzen, so leise zu sein wie Schlangen. Und Freddy gehört zu dieser Gattung Leute.«

Lionel ahnte nicht, wie treffend sein Urteil war, denn damals in der Nacht war ja die Jungfer Marie so lautlos nach ihrem Zimmer im zweiten Stock zurückgekehrt, daß niemand sie gehört hatte, um wieviel eher hätte sich ein Mann nachts um das Schloß herumschleichen können, ohne von den Bewohnern des zweiten Stockes vernommen zu werden.

»Aber nicht das bringt mich aus dem Konzept, Aubry,« fuhr Lionel fort, »daß Sie, der Sie im zweiten Stockwerk schliefen, oder ich, der in der ersten Etage mein Zimmer hatte, nichts hörten, sondern daß meine Cousine Gilberte, die schlaflos zusammen mit meiner Mutter in dem Ankleidezimmer dicht neben meiner Tante die Nacht verbrachte, nicht den leisesten Ton vernahm. Das wundert mich um so mehr, als ich doch meine Mutter genau kenne; sie erwacht beim kleinsten verdächtigen Geräusch.«

»Ich gebe zu, Herr Graf, daß Freddy auf lautlosen Katzensohlen einherschleicht, immerhin, halten zu Gnaden, ich vertraue mehr auf meine Operationen, als auf Hochdero bloße Annahmen. Ich habe mit ihm letzte Nacht gesprochen, ohne daß Fourcade es merkte. Die Java kümmert sich um nichts, sie läßt alle Fünf gerade sein. Ich ließ so ein paar Worte fallen, daß ›man etwas machen könnte‹ ... So etwas liebt er. Einzubrechen lockt ihn ... er scheint das Geschäft zu kennen. Ich kriege ihn, Herr Graf, ich kriege ihn.«

»Gut, wir wollen ja sehen, wer von uns beiden ihn zuerst ›kriegt‹. Ob Sie ihn früher dazu bringen, einzubrechen, oder ob ich ihn des Mordes an meiner Tante überführe. Ach, Aubry, wenn man oft wüßte, wenn ich nur eine Ahnung gehabt hätte, dann wäre ich in jener herrlichen Sommernacht vor fünf Jahren in den Park hinuntergegangen, eine Zigarette zu rauchen, statt droben in meinem Zimmer wie ein Schafskopf zu schlafen.«

Aubry warf ihm einen verschmitzten Seitenblick zu. Seine ganze angeborene Bauernschlauheit kam zum Durchbruch, als er jetzt dem Grafen sagte: »Ei, Herr Graf erzählten mir doch eine Unmenge von sonderbaren Geschichten und allerhand Teufelszeug über das ›Zweite Ich‹, das ›Doppelte Bewußtsein‹ usw. Sind daher Herr Graf auch fest davon überzeugt, damals in der Nacht wirklich in Ihrem Bett geschlafen zu haben?« – Und mehr und mehr in seine rustikale Grundnatur und den Dialekt seiner Heimat zurückverfallend, legte Aubry den gewählten Redestil, den er sich angeeignet hatte, ab und platzte mit den Worten heraus: »Zum Teufel, ich stehe für nichts und für niemanden mehr ein, nicht für mich, nicht für wen andern!«

Das war jetzt schon das zweitemal, daß man Lionel gegenüber eine derartige persönliche Anspielung machte – seinerzeit der Polizeipräfekt und nun der Hausbesorger. Der Graf ärgerte sich. Mißmutig drehte er sich um und schwieg.


Das Gittertor des Schlosses stand weit offen.

Heurtebois, der Verwalter, eilte herbei. Das heißt, er tat nur, als beschleunige er seine Schritte, denn sein dicker rheumatischer Körper verbot ihm jede schnellere Bewegung.

Der alte ausgediente und reich dekorierte Feldwebel hatte einen sehr hübschen Soldatenkopf, dessen martialischer Ausdruck noch durch einen Backenbart, den sich Heurtebois nach seinem Ausscheiden aus dem Militärstande hatte wachsen lassen, erhöht wurde und der zusammen mit dem weißen Schnauzbart seinem Träger das Aussehen verlieh, als habe der greise Haudegen schon den Übergang über die Beresina mitgemacht. Dieser Mann, der den Eindruck eines unverwüstlichen Überlebenden der Großen Armee erweckte, war schon wegen seines Äußern für den Kastellanposten in einem verlassenen Schlosse wie geschaffen. Schloß und Schloßwart schienen einem längst versunkenen Jahrhundert anzugehören.

Als Gilberte nach dem Tode ihrer Mutter unweigerlich erklärt hatte, nicht mehr nach Luvercy zurückkehren zu wollen, hatte die Gräfin den Heurtebois, der eine vollkommene Vertrauensperson war, engagiert.

Heurtebois empfing die Ankommenden auf das artigste. Aber sie gaben sich mit ihm nicht lange ab, sondern wandten sich nach dem Schloß, dessen sämtliche Fenster im Strahle der herrlichen Junisonne weit offen standen.

Das sehr vornehme Gebäude stammte aus der Zeit Ludwigs XIV. Es hatte einen Haupttrakt und zwei vorgeschobene Seitenflügel, die einen Ehrenhof umschlossen. Der Mittelbau hatte ein Hochparterre, einen ersten Stock und das sehr geräumige Mansardengeschoß mit französischem Dach und hohen Kaminen. Wilder Wein und dichter Efeu bedeckten die Außenmauern.

Lionel und Aubry betraten nicht sogleich das Schloß, sondern schritten erst längs des rechten Seitenflügels hin, den ein weiter Rasenplatz mit der Orangerie verband, einem langgestreckten Bauwerk mit runden Fenstern, etwa fünfzehn an der Zahl, die mit kleinen viereckigen Scheiben verglast waren.

Am Eck des Schlosses, von wo aus man einen Blick auf den weitläufigen, halb verwilderten Park hatte, blieben beide stehen.

Hier lag das Schlafzimmer der verstorbenen Frau Laval. Das eine westliche Eckfenster blickte nach der Orangerie, das andere nach Süden und in den Park. Ersteres war damals in der Nacht hinter seinem eisernen Rolläden, die nur einen kleinen herzförmigen Ausschnitt hatten, offen gewesen.

Der Boden hatte sich hier etwas gesenkt, so daß die aufwärts zu sich verjüngende Grundmauer hier über das Bodenniveau sich erhob und das Hochparterre in einer Höhe von über zwei Metern über der Erde lag, so daß jedes der beiden Fenster außer Reichweite eines aufrecht stehenden Menschen war.

Der Hof war gepflastert, namentlich auch die etwa fünfundzwanzig Meter breite Fahrstraße zwischen der Orangerie und dem Schloßflügel, in welchem das Eckzimmer der Verstorbenen lag. In der Orangerie war bekanntlich die schwarz-weiße Viper untergebracht gewesen.

»Alles in allem genommen,« murmelte Lionel, »hat die Version, die man allgemein annimmt, viel Wahrscheinlichkeit für sich. Schaut man sich die Sache an Ort und Stelle an, leuchtet sie einem ein. Die Viper entkommt. Kaum hat sie die Orangerie verlassen, bemerkt sie den hellen Ladenausschnitt, kriecht näher, klettert an dem Efeu empor und ... nur verstehe ich nicht, wieso Gilberte nicht von dem Rascheln der Blätter alarmiert wurde?«

»Halten zu Gnaden, Herr Graf«, bemerkte Aubry listig. »Was man ländliche Stille nennt, setzt sich aus einer Unmasse von Geräuschen zusammen.«

»Hm ... hm ...« schüttelte Lionel ungläubig den Kopf. »Ich kann es mir nicht denken, daß Gilberte nichts gehört haben sollte, falls sich die Schlange durch die dichten Efeuranken bis zu dem Ladenausschnitt emporarbeitete. Schauen Sie selbst her, Aubry! Kaum vier Meter trennen das Fenster des Schlafzimmers meiner Tante von dem Fenster des Ankleidekabinetts, in welchem Gilberte die Nacht schlaflos zubrachte. Meine Mutter und meine Cousine befanden sich also in allernächster Nähe von dem Betätigungsfeld der Schlange, als sie ihre angebliche Kletterpartie unternahm. Ferner besinnt sich meine Mutter ganz genau darauf, auch in ihrem Zimmer – Sie wissen ja, wie heiß es damals war – das Fenster bei geschlossenen Außenladen offengehabt zu haben. Gilberte hätte also unter allen Umständen das Emporkriechen der Viper vernehmen müssen, denn sie war wach, unruhig lauschte sie auf jedes Geräusch nebenan im Zimmer ihrer Mutter, und so ein junges, dreizehnjähriges Mädel ist gar feinhörig. Die Schlange mag immerhin durch den Ladenausschnitt eingedrungen sein, aber ich bezweifle, daß sie an der Mauer und dem Efeu empor zu dem Ladenausschnitt gelangte.«

»Man müßte sie also durch den Laden hineinpraktiziert haben?«

»Ich weiß es nicht. Unmöglich wäre es nicht. Ich las einmal eine ähnliche Geschichte ...«

»Und ohne das geringste Geräusch hineinpraktiziert, Herr Graf?«

»Gewiß, Aubry. Man müßte in dem Fall annehmen, daß der betreffende Mensch dabei weniger Lärm machte als die Schlange beim Emporklettern am Efeu. Aber ich gebe zu, daß dies schwer anzunehmen ist, namentlich wenn man in Erwägung zieht, wie hoch über dem Boden sich der herzförmige Ladenausschnitt befindet.«

»In der Tat!« lächelte der Hausbesorger überlegen.

Sie traten etwas zurück, um den Flügel des Schlosses, wo sich das geheimnisvolle Drama abgespielt hatte, besser betrachten zu können.

Durch die geöffneten Fenster der Parkfront konnten sie in das Zimmer der Frau Laval blicken, dann in den Billardsaal, das Speisezimmer, das Rauchzimmer – Räume, die für sie kein Interesse hatten – und um den Flügel herum befand sich das zweite Eckfenster des Schlafzimmers von Frau Laval, anschließend daran das Fenster des Ankleidekabinetts, des Schlafzimmers von Gilberte und eines Toilettenraumes, der am Ende des Gebäudes gegen das Hofgitter zu lag.

»Wer bewohnte eigentlich das Zimmer im ersten Stock über dem Schlafzimmer meiner Tante?« fragte plötzlich Lionel.

»Herr Guy Laval«, erwiderte der Hausbesorger. »Nämlich, seit seine Gemahlin krank war, denn die Herrschaften hatten sonst nicht getrennte Schlafzimmer.«

Lionel dachte nach. Er suchte sich die Allüren und den Charakter dieses Onkels, den er nur wenig gekannt hatte, des ständig abwesenden Gatten einer entzückenden Frau, in das Gedächtnis zurückzurufen. Und doch ... Guy Laval liebte seine Frau zärtlich, niemand hatte je daran gezweifelt, aber er war eine Art Abenteuergenie, der immer von Entdeckungen träumte, kurzum ein zerstreuter Mensch mit manchmal ganz exzentrischen Einfällen. Er suchte geradezu Gefahren und war ein professionsmäßiger Wagehals ... ein Beweis: die Viper, die er zu reizen liebte. Mit einem Worte: Guy Laval war ein unbesonnener Hansdampf. Hatte er sich eine Unbedachtsamkeit zuschulden kommen lassen? Welche? Das war schwierig, sich vorzustellen. Und wie hätte eine solche Unbesonnenheit dazu führen können, daß die Viper in das Hochparterrezimmer gelangte? Nein, eine solche Annahme erschien widersinnig. Warum hatte sich aber Guy Laval nach dem Tode seiner Gattin gar so – so auffallend und irrsinnig gebärdet und in Zentralafrika auf so ehrenvolle, wenn auch schreckliche Art den Tod gesucht?

»Sagen Sie mir, Aubry, hat Herr Guy Laval ...«

»Ich bitte, Herr Graf!«

»Nichts ... nichts.«

Lionel hatte überlegt. Sich Aubrys gegen Jean Mareuil zu bedienen, war in der Ordnung, doch gegen Guy Laval wäre nicht das gleiche gewesen. Der Graf von Prase hatte die edelmännische Denkungsart seines Blutes. Weiß Gott, was man an das Tageslicht befördern könnte, würde man da herumstöbern, weiß Gott, was sich oft hinter einer nach außen restlos glücklich erscheinenden Ehe verbergen mag? – Sie betraten das Schloß.

Skizze der Etage

A Ehrenhof, B Gang, C Zimmer Gilbertes, D Ankleidekabinett mit Feldbett, E Schlafzimmer der Frau Laval, F Billardsaal, G Salon, I Bett der Frau Laval, J Fenster zu der Orangerie, K Billard, L Konsole.

In dem Schlafzimmer der verstorbenen Frau Guy Laval war nichts verändert worden. Sie gelangten in dasselbe von dem Gang aus, der rings um den Ehrenhof lief und in den sämtliche Türen des Hochparterres mündeten. Dieser Gang bildete zwei rechte Winkel, beziehungsweise teilte sich in einen Mitteltrakt und einen östlichen und einen westlichen Flur (siehe Skizze). In westlicher Richtung war die Tür zum Schlafzimmer der Frau Laval die letzte des Mitteltraktes. Trat man in das Zimmer ein, hatte man zur linken Hand die Vollwand, die das Zimmer vom Billardsaal trennte. In der Mitte dieser Wand stand der Kamin, der von den Schränken flankiert wurde. Sie wiesen keinerlei Merkwürdiges oder irgendwelche Ritzen auf. Den Kamin schloß ein eiserner Vorhang, genau wie damals in der kritischen Nacht, der die Möglichkeit eines Eindringens oder einer Flucht auf diesem Wege verneinte.

Rechts blickte man durch das ominöse westliche Fenster nach der Orangerie, links durch das südliche in den Park.

Das Bett stand mit der Stirnseite an der Wand des Ankleidekabinettes, das zum westlichen Flügel gehörte, und war weiß lackiert. Es wies keinerlei Himmel auf, lediglich einen himmelblauen Vorhang, der von goldenen Reifen herab zwischen Wand und Bett hing.

Neben dem Bett führte eine Seitentür in das Ankleidekabinett.

Lionel untersuchte sorgfältigst den Verschluß der Gangtür. Man erinnere sich daran, daß Frau Laval einen selbsttätigen Riegel hatte anbringen lassen, den sie von ihrem Bett aus mittels Schnur in Tätigkeit setzen konnte, um nicht aufstehen zu müssen, wenn sie nachts ihrer Jungfer läutete. Dieser Zugriegel war noch vorhanden und verursachte, wenn man ihn spielen ließ, einen trockenen, kurzen Klappton.

Lionel schickte den Hausbesorger in die Garage, ein Schmierkännchen zu holen. Dann ölte er den Riegel des Verschlußmechanismus gut ein. Aber der klappende Ton blieb, ein Zeichen, daß er immer bestand. Im angrenzenden Ankleidekabinett hätte man ihn also hören müssen. Da Gilberte jedoch nichts gehört hatte, so folgte daraus, daß Frau Laval ihn nicht in Tätigkeit gesetzt und die Tür, die am Abend geschlossen, und wie die Gräfin Prase festgestellt, am Morgen noch immer geschlossen gewesen war, nachts nicht geöffnet wurde.

Da nebenan die Gräfin und Gilberte schliefen – die eine in jenem leichten, Krankenwärterinnen eigenen Schlaf, während die andere überhaupt nicht schlief, sondern mit weit offenen Augen und lauschend wach dalag – so bildeten die einzigen Zugänge zu Frau Lavals Zimmer die beiden herzförmigen Ladenausschnitte. Darüber kam man nicht hinweg. Wollte man annehmen, daß Frau Laval, obwohl sie unfähig war, sich zu erheben, dennoch aufgestanden war, entweder um die Tür zu öffnen, oder um die Außenläden der Fenster aufzumachen, so hätte unbedingt Gilberte das Geräusch ihrer schwankenden Tritte durch die dünne Verbindungstür vernommen, die unten an der Schwelle nur einen so feinen Schlitz aufwies, daß Gilberte den schwachen Lichtschein der Nachtlampe in dem Zimmer ihrer Mutter zwar als ganz dünne Linie wahrnahm, der aber viel zu eng war, um der einen Meter langen und entsprechend dicken Schlange Durchlaß zu gewähren.

Auch die Besichtigung des Ankleidekabinetts zeitigte keinerlei Resultat. Lionel konnte nirgends eine weder sachliche noch abstrakte Spur von irgend etwas Außergewöhnlichem entdecken. Aubry beteiligte sich höchst lässig und unaufmerksam an allen diesen Untersuchungen. Er schien absolut ungläubig und wiederholte immer wieder, sich uninteressiert umblickend: »Man kann nicht gleichzeitig zwei Hasen hetzen, Herr Graf. Wir haben uns nicht mit einem etwa begangenen Verbrechen zu beschäftigen, sondern mit einem wahrscheinlichen, künftigen Einbruch.«

Schließlich begann er Lionel auf die Nerven zu gehen. Er schickte daher den Hausbesorger auf die Station zurück, damit er wieder nach Paris abfahre.

Mit größerem Eifer ging jetzt der Graf auf eigene Faust ans Werk. Er begab sich in den ersten Stock und unterwarf das Zimmer, das Guy Laval während der Krankheit seiner Gattin bewohnt hatte, einer peinlichsten Untersuchung.

Verlorene Liebesmühe! Der Raum bot nicht den mindesten Verdacht.

An eine Geschichte von Conan Doyle sich erinnernd, die ihm schon einmal eingefallen war, stieg nun Lionel wieder in das Zimmer seiner verstorbenen Tante hinab, um festzustellen, ob nicht irgendein Klingelzug der Schlange als Kletterobjekt hatte dienen können. Vielleicht, daß sie durch ein Loch im Plafond an einer derartigen Schnur herabglitt? Eine solche Klingelschnur befand sich allerdings zu Häupten des Bettes von Frau Laval, bestand jedoch nur aus einem dünnen, seidenumsponnenen Draht, an dessen Ende in Reichweite von Frau Laval eine Druckbirne hing. Sie war aber viel zu schwach, als daß sich die Viper an ihr hätte herunterlassen können. Überdies wiesen weder Plafond noch Mauer die geringste Öffnung auf.

Ziemlich entmutigt begab er sich in das Dorfwirtshaus zum Essen und wartete die Ankunft seiner Mutter, Gilbertes und Jean Mareuils ab.


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