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VII.

Das verräterische Album.

Der Tag graute, und in den Bäumen begrüßte das erwachende Volk der Spatzen geschwätzig zwitschernd den werdenden jungen Morgen, als Graf Prase nach Hause kam.

Es war dies seine gewohnte Heimkehrstunde.

Wenn seine Kusine zufällig vor Sonnenaufgang wachgeworden und die Idee gehabt hätte, vom offenen Fenster aus den Liebreiz des knospenden Tages zu genießen, hätte sie daher nichts Verdächtiges dahinter gefunden, daß der junge Lebemann sein Tagwerk zu einer Stunde beschloß, in der die meisten anderen Menschen es begannen.

Aber überrascht hätte es sie, daß Lionel sich nicht nach der Küche begab, um einen erfrischenden Schluck irgendeines moussierenden Getränkes zu sich zu nehmen, sondern geradeswegs in die Bibliothek ging, wo er zunächst den Katalog durchsah und dann mehrere Bücher in ernsten Einbänden aus den Fächern herausnahm, um sie heimlich unter seinem Überzieher zu verstecken, als fürchte er, man könnte ihn mit dieser »vornehmen Last« überraschen. Dann stieg er mit äußerster Vorsicht nach seinem Zimmer empor.

Aber seine Mutter hörte ihn dennoch, denn sie hatte ein feines Ohr und einen leichten Schlaf. Obwohl sie ganz gut geschlafen hatte, war doch ihr erster Gedanke, wenn sie nachts für einige Minuten aufwachte, daß Lionel und Aubry das Palais Jean Mareuils beobachteten. Was trieben sie? Was würden sie entdecken? Nichts vielleicht ... Diese Idee hatte sie wie das Ticktack einer Weckeruhr im Schlafe begleitet und war frühmorgens, als Lionel, der Träger eines Geheimnisses oder einer Enttäuschung, heimkam, zum Reveillesignal geworden.

Sie kämpfte mit der Versuchung, aus dem Bett zu springen, in einen Schlafrock zu schlüpfen und sich lautlos zum Schlafzimmer hinauszustehlen. Aber da die Gräfin nur wenig die »Einbrecherkunst« beherrschte, fürchtete sie, daß sie beim Öffnen der Tür Geräusch machen könnte. Vielleicht klang das Schloß, knarrten die Angeln oder krachte das Holz ... in der Stille des Morgens würde all das deutlich durch das ganze Haus widerhallen und Gilberte, die in nächster Nähe schlief, davon erwachen. Die Gräfin bezwang daher ihre Neugierde. Sie wußte genau so gut wie ihr Sohn, daß man unbedingt alles vermeiden mußte, was Gilbertes Verdacht hätte erregen können, und daß es absolut nötig war, in nichts den gewohnten Gang der Dinge zu verändern. Die geringste Unvorsichtigkeit vermochte alles zu verderben. Denn Gilberte gehörte zu jenen eigenwilligen jungen Mädchen, die imstande waren, einen Mann zu heiraten, nur weil sich ihre Familie einer derartigen Verbindung widersetzte. Die Gräfin gab sich in diesem Punkt keinen Illusionen hin. Um Jean Mareuil aus dem Felde zu schlagen, mußte in Gilbertes Herzen selbst der ersehnte Verzicht großwerden und reifen. Sie sollte sich völlig frei und unabhängig bis zu der entscheidenden Stunde fühlen. Der Versuch, auf sie irgendeinen Einfluß auszuüben, erschien zwecklos, wenn es nicht gelang, sie einem Faktum gegenüberzustellen, das imstande war, einen völligen Meinungsumschwung bei ihr zu erzeugen. Nein, nein, nur keine Unvorsichtigkeit! Kein Besuch Lionels vor der normalen Zeit. Keine beim ersten Tagesschein knarrende Tür!

Überdies erinnerte sich die Gräfin, daß Gilberte um neun Uhr ausreiten wollte. Jean Mareuil hatte das tags zuvor arrangiert. Er besaß einen sehr frommen und gut gerittenen irischen Cob, das Ideal von einem Jungmädchen-Reitpferd. Man hatte verabredet, daß er Punkt neun Uhr den Cob schicken würde und daß Mareuil mit Gilberte am Vormittag einen Ritt in den Bois unternehmen werde.

Während dieses Stelldicheins zu Pferde hatte also die Gräfin Muße und Ruhe, mit Lionel zu sprechen.

Alle möglichen Erwägungen und Pläne im Geiste verarbeitend, ließ die alte Dame die Stunde ihres gewöhnlichen Aufstehens herankommen. Ja, sie gefiel sich sogar mit einer gewissen Selbstbeherrschung darin, nicht zu früh aufzustehen. Mit innerer Genugtuung zwang sich diese willensstarke Frau, die immer Herrin ihrer selbst blieb, ihre Toilette länger als sonst in die Länge zu ziehen, weil sie fühlte, daß ihre Natur einer Lehre und ihre Geduld einer Probe bedürfe.

Als sie ihr Arbeitszimmer betrat, erklang unten auf dem Pflaster Pferdehufschlag. Der Portier öffnete beide Gitterflügel, und Jean Mareuil ritt auf einem prachtvollen Braunen ein, gefolgt von einem Reitknecht, der an der Hand den für Gilberte bestimmten Cob führte.

Der Reitknecht sprang aus dem Sattel und hielt den Braunen Mareuils, der gleichfalls abstieg und der Auffahrt zuschritt.

»Hm!« murmelte die Gräfin, »wieviel Uhr ist es denn? ... Ein halb neun Uhr.«

Jean Mareuil war stehengeblieben. Aus einem Fenster des ersten Stockes rief ihm Gilberte lustig herab: »Edler Ritter, Sie sind etwas zu früh gekommen!«

»Ich bitte um Vergebung, die Pferde standen bereit, ich auch ... ich langweilte mich ...«

»Nett von Ihnen! ... Ganz einverstanden! ... Gut geschlafen?«

»Herrlich!«

»Wollen Sie ein wenig im Salon warten? Ich werde mich beeilen. In höchstens zwanzig Minuten bin ich unten.«

Die Gräfin wollte sich in den Salon verfügen, um Mareuil zu empfangen, da trat Lionel bei ihr ein.

Der Graf hatte sich gar nicht niedergelegt und nicht einmal die Zeit genommen, irgendeinen Hausanzug anzuziehen.

»Eine Sekunde, Mama!« sagte er. »Als ich Mareuil ankommen sah, bin ich rasch die Treppe hinabgesprungen, um dir eine wichtige Mitteilung zu machen. Es gibt was Neues. Allerdings sehe ich noch nicht ganz klar; immerhin möchte ich dir jetzt schon erzählen, was ich weiß und gesehen habe. Vorerst bedeutet es nur einen Anfang, jedoch einen vielversprechenden.«

»Faß dich kurz!« drängte die Gräfin.

»Etwas Ungeheuerliches habe ich dir zu vermelden«, erwiderte Lionel, seine Mutter mit bösem Lächeln fixierend. »Etwas Unerhörtes.«

Die alte Dame zuckte mit keiner Wimper, aber ihr Inneres durchfieberte eine perverse Freude.

»Du weißt ja, was ›das zweite Ich‹ ist?« fuhr Lionel grinsend weiter, »was das Wort ›Doppelnatur‹ bedeutet?«

Die Gräfin ging, alle näheren Erklärungen beiseite schiebend, direkt auf das Ziel los. Ihr sonst so ausdrucksloses Gesicht strahlte vor freudigem Staunen.

»Was du sagst!« rief sie. »Jean Mareuil ...«

»So ist es, Mama! Du bist also im Bilde?«

»Ich sah das Stück ›Der Staatsanwalt Hallers‹.«

»Ich auch. Infolgedessen habe ich auch gleich alles kapiert. Doch dürfen wir noch kein Triumphgeschrei loslassen, denn es steht uns noch ein schweres Stück Arbeit bevor. Ich wittere irgendein Geheimnis, aus dem wir Nutzen ziehen können. Vorerst weiß ich aber nur das eine, daß Jean Mareuil heute nacht als Apache verkleidet sein Palais verließ und mehrere Stunden ausblieb.«

»Gott stehe uns bei!« stammelte die Gräfin bebend.

»Ich wollte dir diese Mitteilung machen, ehe du Jean Mareuil empfängst.«

»Da tatest du recht!«

»Und nun geh zu ihm hinein, bitte. Sobald er weg ist, reden wir weiter. Ich zeige mich nicht, denn ich bin nicht präsentabel. Immerhin wäre ich begierig, sein Gesicht zu sehen, nach allem, was sich heute nacht ereignete. Was wird er wohl für einen Ausdruck haben? Halt! Wenn wir durch die Glastür gucken, können wir ihn unbemerkt beobachten.«

»Ein Versuch wäre interessant«, erwiderte die Gräfin. »Probieren wir's.«

Das Palais war kein moderner Bau. Es war unter dem zweiten Kaiserreiche errichtet worden, einer Epoche, wo die Architekten es noch für ganz selbstverständlich hielten, im Herzen eines Gebäudes einen dunklen Gang zu lassen. Ein derartiger Gang zog sich längs des Salons hin. Um ihn zu erhellen, blieb Herrn Guy Laval nichts anderes übrig, als Glasscheiben in die Verbindungstür einsetzen zu lassen. Die Frage war damit auf gut Glück, aber nicht recht befriedigend gelöst, denn die kleinen Scheiben, hinter denen tiefste Finsternis brütete, machten auf die Leute, die sich im Salon befanden, gerade keinen sehr anheimelnden Eindruck, zumal die im Hintergrunde angebrachte Tür noch durch hohe Blattpflanzen maskiert wurde.

Dieser dunkle, mit dicken Teppichen belegte Gang bot Lauschern und Spähern die willkommensten Möglichkeiten. Auf leisen Sohlen betraten die Gräfin und ihr Sohn den Gang und blickten durch die Glasscheiben der Tür und zwischen den Blättern einer Palme hindurch in den Salon.

Im hellen Licht eines Fensters sahen sie Mareuil sitzen. Von einem Tisch hatte er eines der dort umherliegenden Albums genommen und blätterte Seite um Seite langsam um.

Vollkommen ausgeruht, sah er mit seiner frischen Gesichtsfarbe und den leuchtenden Augen aus wie ein Sportsmann in bester Form, der seine zehn Stunden hintereinander, ohne ein einziges Mal aufzuwachen, durchgeschlafen hat. Schlank und graziös in der Reitdreß, in gefälliger Pose und von der Sonne günstig beleuchtet, machte Jean den Eindruck, als sitze er irgendeinem Modemaler Porträt, und war das Urbild eines jener kultivierten Kavaliere, deren angeborene Vornehmheit sie niemals, auch wenn sie allein sind oder selbst in den elendsten und verzwicktesten Lagen, verläßt.

Lionel fiel der Apache ein. Und als er jetzt dieses Janushaupt sah, dessen Antlitz ihm in voller Schönheit entgegenstrahlte, während er das andere in düsterer Erinnerung hatte, bemächtigte sich eine ungeheure Verwirrung des Grafen. Schon einmal, letzte Nacht erst, empfand er dieses grauenhafte Gefühl, als sich Jean Mareuil auf dem Vorbalkon seines Fensters gezeigt. Seitdem hatte Lionel in verschiedenen Fachwerken, die er sich aus der Bibliothek geholt, verschiedene Abhandlungen über das geheimnisvolle Problem, das nervenerschütternde psychologische Rätsel des »Zweiten Ich«, gelesen. Doch weit entfernt, bei diesem Studium jenes seelische Gleichgewicht, das Wissen und Erkenntnis verleihen, gefunden zu haben, fühlte sich der Graf erst recht unbehaglich und verwirrt. Ja, er zweifelte zur Stunde daran, ob er Herr seiner Sinne sei; er zweifelte an seinem Gedächtnis, an seinem gesunden Verstand.

Die Gräfin, die, nicht durch eigenen Augenschein befangen, keine so tiefliegenden Gründe zum Staunen hatte, nahm zuerst eine Merkwürdigkeit wahr.

Jean Mareuil betrachtete die Photographien des Albums nicht mit der Gleichgültigkeit eines Mannes, der sich nur die Wartezeit vertreiben will; er betrachtete sie vielmehr eine nach der anderen mit gespanntester Aufmerksamkeit, und je länger sich dieses Betrachten hinzog, um so deutlicher verrieten seine Gesichtszüge ein tiefes, angestrengtes Nachgrübeln.

Irgend etwas beschäftigte ihn in seinem Geiste. Man sah es ihm an den gerunzelten Brauen, dem starren Blick und den zusammengekniffenen Lippen an, daß er nach irgendeiner Erinnerung suchte, die ihm unterbewußt vorschwebte, die er aber nicht zu ergründen und zu finden vermochte.

Er schloß das Album, warf es zu den übrigen Büchern auf den Tisch und schritt, in Gedanken versunken, langsam auf und ab.

Endlich machte er eine Geste, als wolle er einen quälenden Gedanken von sich abschütteln, nahm wieder in einem Fauteuil Platz und begann völlig gleichgültig seinen Reitstiefel mit der Gerte abzuklopfen.

Die Gräfin erachtete den Moment für gekommen, um sich zu zeigen.

Sie trat ein, während Lionel sich zurückzog.

Die alte Dame war keine Freundin vom Dreschen leeren Strohs. Jean Mareuil gewann sofort die Überzeugung, daß sie diese Unterhaltung zu zweien auszunutzen wünschte.

Nach einigen wenigen banalen Worten erklärte sie: »Ich bin sehr froh, Herr Mareuil, Sie nicht in Gilbertes Anwesenheit sprechen zu können. Ich beschwöre Sie, trachten Sie doch, meine Nichte zu bewegen, nach Luvercy zurückzukehren. Helfen Sie mir darin, da Sie doch auf das junge Mädchen einen so großen Einfluß haben! Stehen Sie mir, bitte, bei, ihr diese ungesunden Wahnideen auszutreiben!«

»Mit dem größten Vergnügen«, erwiderte Mareuil. »Aber Sie müssen mir Zeit lassen. Ich glaube nicht, daß derartige Furchtpsychosen von heute auf morgen verschwinden können. Meiner unmaßgeblichen Meinung nach ist hierzu große Geduld erforderlich. Aber was an mir liegt, will ich gern tun.«

»Wenn Sie Luvercy kennen würden, Herr Mareuil, bin ich sicher, daß Sie Gilberte viel überzeugungsvoller zureden würden. Es ist ein Jammer, von einem Palace-Hotel in das andere herumzuzigeunern, wenn man einen solchen Schatz wie Luvercy besitzt. Möchten Sie nicht einmal nach Luvercy fahren? Lionel würde Sie hinbegleiten.«

Möglich, daß die Gräfin bei diesem Vorschlage irgendeinen Hintergedanken hatte, Mareuil schien dies jedoch nicht zu beargwöhnen, denn er antwortete nur: »Warum nicht, Gräfin? Wenn Sie es wünschen! ...«

»Ich glaubte nämlich, Sie gestern dahin verstanden zu haben, daß auch Sie gern an der Suche nach der Mörderschlange teilnehmen möchten«, meinte hierauf die alte Dame mit gewinnendem Lächeln.

»Nein, gnädigste Gräfin«, schüttelte Mareuil den Kopf. »Ich habe darüber nachgedacht, als ich mich von Ihnen verabschiedete. Meinem Dafürhalten nach blieb von diesem Drama nichts übrig als lediglich ein kindliches Furchtgefühl in der Seele eines jungen Mädchens. Diese Furcht wird schwinden, wenn jene, die Gilberte lieben, der Zeit helfen. Da ich überdies glaube, daß die Viper längst verendet ist, wäre eine Nachsuche nicht nur völlig unnütz, sondern im Gegenteil auch noch schädlich. Gilberte könnte darin nur eine Bestätigung ihrer Wahnidee erblicken. Wenn Ihr Fräulein Nichte meinen Besuch in Luvercy als eine Art Nachforschung, als Anfang einer Suche nach der Viper auslegen sollte, wäre es zweifelsohne vorzuziehen, ganz auf einen derartigen Besuch meinerseits zu verzichten.«

»Sie brauchte ja nichts davon zu wissen.«

»Verzeihung, Gräfin, aber ich scheue jetzt schon davor zurück, ihr, mag es sein, was es wolle, zu verhehlen. Was für einen schrecklichen Eindruck müßte es ihr auch machen, wenn sie erfahren sollte, daß ich hinter ihrem Rücken im Park von Luvercy herumstöberte? Nichts könnte sie in ihrem Glauben, die Mörderschlange lebe noch, mehr bestärken. Nein, Gräfin, lassen wir das für den Augenblick.«

Obwohl die Gräfin Mareuil äußerlich zustimmte, merkte man ihr dennoch eine gewisse Enttäuschung an. Sie wollte gerade ein paar beifällige Worte zur Antwort geben, als Gilberte, gestiefelt und gespornt, um den Hals eine hohe weiße Reitkrawatte und auf dem Lockenkopfe einen runden steifen Herrenhut, eintrat.

Wenige Minuten später ritt die kleine Kavalkade aus dem Tor.

Die Gräfin blieb im Salon und ergriff das Album, das Mareuil so aufmerksam und eifrig durchgesehen hatte.

Es enthielt alle ehedem von Frau Laval gemachten Aufnahmen. Eine Unmasse! Auf jeder Seite war sie dargestellt, teils allein, teils mit Bekannten und Freunden, hier beim Golf oder Tennis, dort, wie sie ihren Lieblingspony kutschierte. Alle diese Lichtbilder bildeten Erinnerungen an frohe Feste, Reisen, Landpartien und Kostümbälle, teure Andenken an glückverklärte, sonnige Tage, eine unschätzbare Zusammenstellung des intimen Lebens einer entzückenden Frau auf der Höhe ihrer Jugend, ihrer Schönheit und ihres Glückes; lachende, malerische Aufnahmen: einmal als Alpinistin, Jägerin oder Kraftwagenlenkerin, das andere Mal als Faschingspierrette, Bühnenkönigin oder im Brautkleide an der Seite ihres Gatten. Man sah sie dargestellt, wie sie als junge Mutter die kleine Gilberte in den Armen wiegte oder keck, unter einem schicken Hütchen hervorlugend, als Silhouette vor den Pyramiden stand, oder als »La Giralda«. So verewigte diese wehmütige Sammlung allen Glanz und allen Liebreiz der Dahingeschiedenen.

Und dieses Album hatte auf Jean Mareuil einen so tiefen Eindruck gemacht? Die Gräfin suchte sich den Gesichtsausdruck des jungen Mannes zu vergegenwärtigen. Sie analysierte seine Miene und ward sich klar, daß Jean Mareuil den Ausdruck eines Menschen zeigte, der das Bild einer Persönlichkeit sieht, von der er das dunkle Gefühl hat, ihr einmal begegnet zu sein. Aber er weiß nicht mehr bei welcher Gelegenheit und sucht vergeblich in seinem Gedächtnis.

Unter anderen Verhältnissen hätte eine solche Mutmaßung – und alles in allem handelte es sich auch nur um eine solche – auf die Gräfin keinerlei Eindruck gemacht. Nunmehr aber lag die Sache anders, nunmehr, da sie von einem »zweiten Ich« Mareuils gehört hatte. Auf das höchste erregt, ergriff sie ein unbändiges Verlangen, noch mehr zu erfahren. Daher fühlte sie sich sehr angenehm berührt, als Lionel den Salon betrat.

»Weißt du, was er sich eben anschaute?« fragte sie ihren Sohn. »Die Photographien deiner Tante!«

Lionel blieb, kaum daß er im Salon war, stehen und fixierte seine Mutter mit stechendem Blick.

»Also, reden wir jetzt miteinander«, sagte sie. »Bringen wir ein wenig Ordnung in unsere Angelegenheit. Berichte mir Punkt für Punkt, was ihr, du und Aubry, heute naoht gesehen habt.«

Lionel leistete der Aufforderung Folge und fügte dann hinzu: »Recht viel medizinische Werke enthält die Bibliothek nicht. Immerhin fand ich einiges, das mich über das merkwürdige Phänomen des zweiten Ich unterrichtete. Es soll vorkommen, daß sich ein Mensch verdoppelt, das heißt, daß er zwei ganz voneinander verschiedene, ja sogar sich im Charakter widersprechende Wesen in sich vereinigen kann, die sich gegenseitig gar nicht kennen oder kaum wahrnehmbar miteinander in Verbindung stehen. Zuweilen tritt das zweite Wesen nur zeitweise im Leben des ersten Wesens auf. Manchmal aber auch periodisch an einem ganz bestimmten Tage, zu einer bestimmten Stunde und verschwindet dann wieder. Das zweite Wesen kann sich aber nur kurz manifestieren. Es kommen jedoch auch Fälle vor, wo das zweite Ich an Bedeutung gewinnt und sich dem ersten Ich so angleicht, daß es ein Viertel, sogar die Hälfte des Lebens des Betreffenden für sich in Anspruch nimmt. Endlich führt man Beispiele an, wo das zweite Ich das erste vollkommen vernichtete. Der vom zweiten Ich besessene Mensch wird dann ein ganz neuer, dessen Seele und Charakter in nichts mehr seiner Erstpsyche gleichen.«

»Du erzählst mir da nichts Neues, mein Sohn. Es ist die Geschichte des Bankiers Williams und die sehr fein und künstlerisch geschaffene Geschichte vom ›Staatsanwalt Hallers‹. Der erste verwandelte sich in einen vollkommen anderen Mann. Der zweite – eine sehr gelehrt ausgedachte und auf Grund ernster wissenschaftlicher Studien herausmodellierte Romanfigur Lindaus – ist bei Tage Amtsperson, bei Nacht Dieb.«

»Stimmt! Taine, Azam, Dufay und Ribot gehen in allen Punkten miteinander konform. Wenn du willst, gebe ich dir ihre Werke oder Aufsätze zu lesen. Du wirst darin eine Unmenge Beispiele über das ›Zweite Gewissen‹ finden, analog den Fällen Williams und Hallers. Richtiger ausgedrückt, ist es eine Krankheit des Ich.«

Die Gräfin grübelte eine Zeitlang nach. »Und du behauptest, Lionel, daß die beiden Ich nichts voneinander wissen?« meinte sie dann. »Das heißt, daß beider Gedächtnisse ganz unabhängig voneinander arbeiten? Daß die Erinnerungen von Mann Nr. 1 nicht die von Mann Nr. 2 sind?«

»Das ist mindestens die Regel, aber man vermutet, daß zwischen den beiden Denkvermögen gewisse Brücken sich bilden können, so daß nebelhafte Erinnerungen, vage Suggestionen entstehen.«

»Ah!« – Die Gräfin griff wieder nach dem Album.

»Das klingt ja alles recht verführerisch«, meinte sie dann wieder mit düsterem Ausdruck. »Wir fahren aber lediglich mit der Stange im Nebel hierum. Du hast Jean Mareuil als Apachen fortgehen und wieder nach Hause kommen sehen. Gut, das beweist doch noch lange nicht, daß es sich um ein zweites Ich handelt. Er kann sich ganz einfach vermummt, maskiert haben.«

»Vielleicht – aber das wäre dann sehr verdächtig. Doch davon ist keine Rede, Mama. Man brauchte nur seinen Gang und vor allem sein Gesicht anzusehen, um zu erkennen, daß eine Maskierung nicht in Frage kommt. Nur durch ein ungeheures pathologisches Wunder wäre eine solche Transformation erklärbar.«

»Zugestanden! Dann wollte es eben der Zufall, daß du Zeuge eines außergewöhnlichen Geschehens warst, das sich weiß Gott wann wiederholt.«

»Um dieses Wesentliche festzustellen, werden wir, wie du dir doch wohl denken kannst, Mama, Nacht für Nacht Mareuils Palais scharf beobachten.«

Wieder überlegte die Gräfin ein Weilchen.

»Wir haben es mit einer Krankheit, mit einer Geisteskrankheit zu tun«, sagte sie. »Aber weißt du, daß dies nicht genügen würde, Gilberte diesem Burschen zu entfremden? Sie hat ein so gutes Herz, wird ihn pflegen, für ihn sorgen, ihn heilen wollen.«

»Unsinn! Es kommt nur darauf an, wie man ihr die Geschichte serviert. Man heiratet ja auch keinen Dieb, keinen Mörder! Und wenn es sich herausstellt, daß ein Dieb oder Mörder das Verbrechen im Zustande geistiger Unzurechnungsfähigkeit beging, so sperrt man ihn zwar nicht ins Gefängnis, aber in ein Irrenhaus. Man kann so einen Narren wohl lieben unter Umständen, auch pflegen; aber heiraten? Ausgeschlossen!«

»Nun, wir werden ja sehen, wie die Sache läuft«, erwiderte die Gräfin. »Vorerst können wir nichts anderes tun, als die Spur weiterverfolgen. ›Qui vivra, verra‹, sagt der Franzose. Sicher ist noch gar nichts. Daher ist es gut, zwei Eisen im Feuer zu haben. Seit zwei bis drei Tagen legte ich mir noch einen anderen Plan zurecht und verfolgte auch dessen Richtlinie während des kurzen Zwiegespräches, das ich eben mit Mareuil hatte. Und ich werde vorsichtshalber den Plan weiterspinnen. Im Falle sich deine Entdeckung zu lange hinzieht, habe ich es dann nicht zu bereuen, eine andere Offensive vorbereitet zu haben.«

»Was für eine Art von Offensive?«

»Kümmere dich nicht um meine Pläne, du hast mit deiner Beobachtung ohnehin genug zu tun. Und dann ... es ist eine Frauenidee, die Idee einer Mutter ... laß mich ganz allein vorgehen.«

Lionel schüttelte etwas spöttisch, aber doch mit einer gewissen Bewunderung den Kopf. Immer die gleiche, dachte er offenbar.

»Wenn du mir Gerechtigkeit widerfahren läßt, mußt du zugeben, Lionel, daß ich mich nicht geirrt habe. In Mareuils Leben gibt es ein Geheimnis! Seine Träumereien, seine Geistesabwesenheit und Zerstreutheit haben ihren Grund. Das siehst du jetzt selbst.«

»Ja. Der ›andere‹, der Apache, das ist gewiß ein dunkler Punkt. Auch ist es meine feste Überzeugung, daß sich die Vorgänge von heute nacht oftmals wiederholen.«

»Eigentlich ist dies Mysterium schrecklich. In seinem eigenen Leben ein Geheimnis zu haben, das man außerstande ist zu entziffern, ist wirklich furchtbar! Und doch liegt eine Art von Komik darin, Lampen und Schlüssel zu sammeln und alles kennenlernen und ergründen zu wollen.«

In der Tat berührten beide hier einen der dunkelsten und drohendsten Punkte der menschlichen Natur, eine Frage, an die auch der mit den stärksten Nerven begabte Geist nur mit Zittern herangeht. Sie schwiegen. Ihre Blicke versenkten sich in das große Unbekannte der Dinge.


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