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X.

Beim Herrn Polizeipräfekten.

»Der Herr Polizeipräfekt wird Sie sofort empfangen. Bitte einstweilen Platz nehmen zu wollen«, meldete der Bureaudiener.

»Gut«, nickte Graf Prase.

Lionel brauchte nicht lange zu antichambrieren, denn alsbald ertönte ein Klingelzeichen, das wie durch eine geheime Feder den Kanzleidiener von seinem Stuhl hinter dem Schreibpult emporschnellen ließ, wo er sich die Zeit damit vertrieb, bereits benutzte Briefumschläge durch Wenden wieder gebrauchsfähig zu machen.

»Bitte, mein Herr!« rief er und öffnete Lionel eine Doppeltür, deren dicke Polsterung aussah, als sollte sie das Gebrüll der armen Sünder, die hinter ihr verhört wurden, abdämpfen.

Graf Prase betrat ein großes, im nüchternsten Amtsgeschmack ausgestattetes Kabinett, in dessen Mitte sich ein mit Akten und Papieren bedeckter schwarzer Schreibtisch befand. Dahinter saß ein verschrumpftes schnauzbärtiges Männlein mit energischem Profil und dunklen Augen, aus deren Pupillen ein unheimliches Feuer sprühte. Der alte Herr telephonierte gerade mit leiser Stimme. Es sah aus, als spräche er in ein vernickeltes Ohr hinein.

Ohne sich in seinem gemurmelten Ferngespräch stören zu lassen, warf der Polizeipräfekt auf den Eintretenden einen seiner alles durchbohrenden Blicke, deren vernichtende Wirkung seinen Untergebenen nur allzugut bekannt war, und wies Lionel mit der Linken einen Fauteuil an, der neben dem Schreibtisch im grellsten Licht des Fensters stand.

Dieser kleine, weißhaarige Allgewaltige war einst ein rothaariger, arger Hitzkopf gewesen. Doch hatte er im Laufe seines langen Lebens gelernt, seinem jähzornigen Naturell einen Zaum anzulegen, und hatte sich eine außerordentliche Selbstbeherrschung angeeignet.

Er war streng und unnahbar, dabei von logischer, klarer Urteilskraft. In seinem ganzen Charakter lag etwas Eckiges, Geradliniges, das sich auch in seinem Äußern manifestierte, zum Beispiel in den aufgerichteten, an den Schläfen scharfkantig zugestutzten Borstenhaaren seines eigensinnigen Schädels.

Ohne sich zu beeilen, beendete er seine telephonische Befehlserteilung, hängte dann den Hörer gemächlich ein, studierte die vor ihm auf dem Löschblatt liegende Visitenkarte Lionels und sagte in eisigem Tone: »Herr Graf Lionel Prase?«

Ziemlich kleinlaut stotterte Lionel: »Allerdings, Herr Polizeipräfekt. Ich komme mit einer Empfehlung des Herrn Präsidenten Cordier.«

»Jawohl!« nickte der Polizeigewaltige, indem er das Wort mit tiefstem Ernst aussprach und möglichst in die Länge dehnte.

»Nun denn, die Sache ist die ...« begann wieder Lionel schüchtern. Er war gewohnt, die Leute von oben herab anzuschauen und ihnen auf Grund seiner eingebildeten geistigen Überlegenheit und usurpierten Selbstherrlichkeit, die auf seinesgleichen eine gewisse Macht ausübte, mitten ins Gesicht zu blicken. Hier aber stand er einem wirklichen Mann gegenüber, der ihm schon wegen seines Alters, noch mehr jedoch durch den energischen Ausdruck seines Gesichtes und seine ganze knorrige und reservierte Haltung maßlos imponierte.

»Ich höre!« erwiderte der Polizeipräfekt gelassen.

Lionel platzte heraus:

»Kennen Sie vielleicht einen Mann ...«

»Wie bitte?« unterbrach ihn der Präfekt. »Was weiter?«

»Das ist eigentlich alles, was ich sagen wollte, Herr Polizeipräfekt. Doch haben Sie keine Besorgnis! Ich komme nicht hierher, um Sie auszufragen, sondern um ein nützliches Werk zu vollbringen, um womöglich der Polizei einen guten Dienst zu leisten ...«

»Ich zweifle nicht im mindesten daran; hierfür bürgt ja Ihre Empfehlung. Sie wollen mich fragen, ob ich einen Mann kenne, den man ›Freddy, die Natter‹, nennt, und ich antworte Ihnen: ja, ich kenne ihn.«

»Sie wissen also, wer er ist, und sein wirklicher Name dürfte Ihnen auch nicht unbekannt sein?«

»Vielleicht, doch das gehört nicht zur Sache. Hat Sie der Mann geschädigt? Wollen Sie sich über ihn beschweren?«

»Nein, durchaus nicht, Herr Polizeipräfekt.«

»Dann verstehe ich nicht recht ...«

»Verzeihung, Herr Präfekt, aus zwei Gründen möchte ich mit Ihnen über ›Freddy, die Natter‹, reden. Zunächst, weil vielleicht das Treiben dieses Apachen ...«

»Oh, oh! Ist ›Apache‹ nicht am Ende ein etwas starker Ausdruck?«

»Das Treiben dieses – Burschen«, verbesserte sich Lionel, aus dem Konzept gebracht, »steht mit der Lösung der Frage eines tragischen Todes von jemand in Verbindung.«

»Wirklich?«

»Gewiß. Herr Präfekt, mit dem Tod meiner Tante Laval, die in der Nacht vom 19. auf den 20. August in Luvercy vor fünf Jahren starb.«

Diese Erklärung machte offensichtlich auf den Präfekten einen gewissen Eindruck, überraschte ihn wenigstens. In seinen klugen Augen blitzte es auf. Die Falten seiner Wangen zuckten ein wenig. Das war aber auch alles, indessen viel zu wenig, um seine Gedanken erraten zu können.

Lionel glaubte bemerken zu müssen: »Dies ist zwar nur eine Annahme von mir, und mit keinem anderen als mit Ihnen würde ich darüber sprechen. Ich bin auf einer Spur ... erlassen Sie mir, nur vorläufig, mich näher darüber zu äußern.«

Der Präfekt hüllte sich wieder in völlige Unnahbarkeit und machte eine zustimmende Geste.

Lionel fuhr fort: »Der zweite Grund, weshalb ich hier bin, ist, ich will gerade nicht behaupten stichhaltiger, jedenfalls aber dringender.« Lionel begann, etwas unsicher geworden, wie die Katze um den heißen Brei herumzugehen. »Herr Polizeipräfekt, ich habe eine entzückende Kusine, die Tochter der bedauernswerten Frau Guy Laval. Nun, diese meine Kusine, Gilberte, ist mit Herrn Jean Mareuil so gut wie verlobt. Was halten Sie davon, Herr Präfekt?«

Noch nie hatte ein so unerbittlicher Blick Lionels Inneres durchwühlt.

Endlich erklärte der alte Herr: »Ich bitte, sich ohne viel Umschweife und Hemmungen auszudrücken. Ich verstehe Sie nicht.«

Lionel wurde immer verwirrter. Er suchte jetzt die Geschichte von einer anderen Seite anzupacken.

»Es gibt paradoxe, anormale Situationen, die der Polizei nicht verborgen sein können. Sollte letzteres der Fall sein, erachte ich es für die Pflicht eines darüber unterrichteten Menschen, die Polizei aufmerksam zu machen.«

»Ah, ah! Wenn ich richtig verstehe, wollen Sie mich über eine ›paradoxe Situation‹, über eine ›anormale Tatsache‹ aufklären? Das ist sehr interessant.«

Lionel sah sich in eine Lage gedrängt, die er unbedingt hatte vermeiden wollen. Er konnte seine Verstimmung nicht verbergen und antwortete trocken:

»Ich bin kein Angeber, sondern, wie ich glaube, ein Gentleman, und es würde mir vollkommen widerstreben, jemand auszuspionieren, ja ich würde dies unbedingt zurückweisen. Es wäre mir lediglich wissenswert, ob die Polizei über das, was vorgeht, sich auf dem laufenden befindet; ob sie diese mysteriöse Geschichte im Auge behält, denn schließlich, Herr Präfekt, handelt es sich doch um das Wohl meines Freundes.«

Der Polizeipräfekt bemerkte seine Verlegenheit. Er lächelte, ohne daß sich jedoch hierbei sein Gesicht aufheiterte.

»Ich will Ihnen etwas helfen, Graf Prase«, sagte er. »Glauben Sie mir, daß ich durchaus die höchst natürlichen Gefühle würdige, die Sie zu mir hertrieben, und die Skrupeln, die Sie jetzt daran hindern, sich frei auszusprechen. Sie können beruhigt sein. Beide von Ihnen genannten Namen sind uns auf der Polizei bekannt. Wir wissen, welche allerdings ziemlich außergewöhnlichen Beziehungen zwischen beiden bestehen. Alles, was Sie uns vorbringen könnten, wäre uns nichts Neues. Wir behalten, wie man sagt, die Angelegenheit im Auge. Es ist ein merkwürdiger Fall, und ich gestehe Ihnen ein, daß er auch mich wiederholt in meinem Innern beschäftigte. Daher kann ich Sie wegen Ihrer Besorgnis hinsichtlich Ihrer Familie nicht tadeln. Diese Besorgnis ist jedoch nach meinem Dafürhalten unbegründet. Ich bin zwar nicht unfehlbar, immerhin glaube ich, daß Herr Jean Mareuil durch und durch Ehrenmann ist.«

»Woraus folgen würde, daß ›Freddy, die Natter‹, kein Verbrecher ist!«

Der Präfekt ließ sich mit der Beantwortung dieser Frage etwas Zeit. Dann sagte er:

»Ich muß Ihnen reinen Wein einschenken. Der Mann, den Sie so artig mit ›Freddy, die Natter‹, betiteln, war nicht immer ein anständiger Mensch, auch will ich nicht behaupten, daß er jetzt einen absolut einwandfreien Lebenswandel führt. Er ist faul ... ein lichtscheuer Bursche, nicht wahr, und war früher einer jener Nachtstrolche, die einen auf menschenleerer Straße um Feuer angehen. Sie verstehen mich, ich brauche mich darüber nicht näher auszulassen. Es mag Ihnen genügen, wenn ich Ihnen mitteile, daß durch die Vermittlung einer hochstehenden Persönlichkeit darin Ordnung und Wandel geschaffen wurde und daß ein Busenfreund von Herrn Jean Mareuil ängstlich über die Rechtschaffenheit ›Freddys, der Natter‹, wacht. Dank diesem wachsamen und diskreten Verbündeten, der in Paris eine viel beneidete Position einnimmt, wird der sogenannte Freddy niemals ins Zuchthaus wandern oder vor die Geschworenen kommen, vorausgesetzt, daß nicht wieder die geheimnisvolle Macht der bösen Instinkte in ihm die Oberhand gewinnt, was ich nicht annehmen will und kann.

Hiermit glaube ich, Sie in befriedigender Weise über alles, was Sie beunruhigte, aufgeklärt zu haben?«

Auf jede Silbe eine nachdrückliche Betonung legend, erwiderte Lionel mit gedämpfter Stimme: »Sind Sie auch all dessen absolut sicher, Herr Polizeipräfekt? Würden Sie Ihren Kopf wetten, daß nicht Jean Mareuil, beziehungsweise Freddy, etwas auf dem Kerbholz hat, etwas früher begangen hat, was den Betreffenden nach Guyana oder auf das Schafott bringen könnte?«

»Was Sie da sagen, ist ernst, Graf Prase. Soll ich einen Sekretär rufen, der Ihre Aussage zu Protokoll nimmt?«

Lionel wehrte heftig ab: »Nein, nein! Wie ich Ihnen ja schon vertraulich mitteilte, handelt es sich ja nur um einen Verdacht.«

»In bezug auf jene alte Geschichte, das Drama van Luvercy? Ist es so?«

»Ich bitte um Vergebung. Sobald ich Beweise in Händen habe, werde ich sie Ihnen unterbreiten. Bis dahin nehmen Sie an, daß ich Ihnen nichts gesagt habe.«

»Ich stehe jederzeit zu Ihrer Verfügung.«

»Haben Sie oft Fälle des ›Zweiten Ich‹ zu beurteilen, Herr Polizeipräfekt?«

»Öfter, als man glauben sollte, Herr Graf. Einige davon sind ganz offiziell, sozusagen etikettiert, viele mehr okkult. Wer von uns ist eine Einheit? Bildet nicht unser Gewissen den Tummelplatz von Böse und Gut? Büßt nicht der arme Sünder, der einen Mord oder einen Diebstahl beging, nur dafür, daß er einen Moment ein anderer war, eine Person, die nach vollbrachter Tat im Nichts verschwand? Sagen Sie selbst, Herr Graf von Prase, ob Sie stets und überall die gleiche Persönlichkeit sind? Wollte ich Ihnen aus Ihren Personalakten ein paar Notizen auf das Geratewohl herausgreifen und zur Äußerung vorlegen, Notizen, die Ihr ›Zweites Ich‹ betreffen, weiß ich genau, daß Sie mir zur Antwort geben würden, die beiden Gewissen bestünden nebeneinander, ohne miteinander etwas gemein zu haben.«

Lionel bemühte sich, die Frage seines Gegenübers als vorzüglichen Witz aufzufassen. Immerhin ärgerte es ihn, daß man ihm, wenn auch nur als rhetorisches Wortspiel, die Maske des ›Doppelten Gewissens‹ aufsetzen wollte. Nichts konnte ihm ungelegener kommen. Daher beeilte er sich, Abschied zu nehmen.

Der Polizeipräfekt begleitete seinen Gast bis zu der Tür.

»Auf Wiedersehen, Graf«, sagte er artig. »Und wenn Sie meiner bedürfen, kommen Sie nur ungescheut zu mir ... ich denke hierbei an das Drama von Luvercy!«

Auch Lionel dachte in diesem Moment daran, anderseits ging ihm die schicksalsschwere Äußerung des Präfekten im Kopfe um: der sogenannte Freddy wird niemals ins Zuchthaus wandern noch vor die Geschworenen kommen, vorausgesetzt, daß nicht wieder die geheimnisvolle Macht der bösen Instinkte in ihm die Oberhand gewänne!

Mit diesen Worten war Lionel ein ganzer Feldzugsplan vorgezeichnet, über den er in teuflischer Freude nachgrübelte.

Er verbeugte sich und erwiderte den kurzen und höflichen Abschiedsgruß des kleinen alten Herrn.


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