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VIII.

Fräulein Java.

Es ist wohl unnötig, zu bemerken, daß Fräulein Gilberte Laval im Herrensitz ritt. Das war nicht weiter merkwürdig. Sie gehörte zu jenen modernen Reiterinnen, die sich endgültig vom Damensattel mit seiner steifen Ausrüstung, vom langen Kleid und Zylinder emanzipiert haben.

Vielleicht bedauerte dies auch Jean Mareuil insgeheim. Aber als Sportsmann würdigte er nichtsdestoweniger den hübschen und korrekten Sitz des jungen Mädchens, die es loshatte, ihrem Tier die richtigen Hilfen zu geben, was bei einer Frau selten ist. In ruhigem und sicherem Tempo ging der Cob leicht unter ihr dahin.

Gurt an Gurt nahmen sie die Hindernisse beim Taubenschießstand. Jean Mareuil schlug dann vor, im Pavillon von Armenonville eine kleine Erfrischung zu nehmen.

Die Pferde schwitzten. Es war, als hätte sich der Kalender geirrt, so juliwarm war der Frühlingstag. Vom Groom auf ein paar Pferdelängen gefolgt, ritten Mareuil und Gilberte jetzt im Schritt unter dem grünen Blätterdach der Bäume dahin.

Sie hatten den Bois nach allen Richtungen kreuz und quer durchstreift.

»Ich meine also, es bleibt beim 2. Juni, in einem Monat«, sagte er. »Wegen der verschiedenen Formalitäten glaube ich nicht, daß wir früher heiraten können.«

»Abgemacht, am 2. Juni?«

»Abgemacht!« Mareuil streckte ihr seine behandschuhte Rechte hin.

Dem Schenkeldruck folgend, drängten sich die Pferde aneinander.

Hand in Hand schauten sich ihre Reiter glückverklärt und lächelnd in die Augen. Nur unwillig trennten sie sich, als eine kleine Gesellschaft unter Lachen, Plaudern und Lederknirschen an ihnen vorübergaloppierte.

»Wo gehn wir dann hin?« fragte Gilberte.

»Nach der Hochzeit? ... Wenn es Ihnen recht ist, nach Luvercy.«

»Ist das Ihr Ernst?«

»Nein, ich mache nur Spaß, obwohl man nie etwas voraussagen kann.«

»Komisch, daß Sie an Luvercy dachten, Jean. Es war mein Jungmädchentraum, mit Ihnen dort glücklich zu sein.«

»Mit mir?«

»Gewiß. Damals waren Sie für mich allerdings erst der Ritter – wie soll ich mich ausdrücken? –, der Ritter der Märchen, der große Unbekannte ... das unbeschriebene, weiße Blatt in meinem Lebensbuche, und doch zeichneten Sie auf dieses Blatt bereits Ihre Silhouette ab. In Luvercy steht eine alte Steinbank. Oft nahm ich dort an der Seite Ihres Phantoms, Ihres Idealbildes Platz. Wirklich zu schade, daß man solche Träume nicht realisieren kann.«

»Das hängt nur von Ihnen ab!«

Gilberte verzog ungläubig das Mündchen.

»Und doch bin ich kein Hasenfuß«, meinte sie. »Nicht Furcht ist es im eigentlichen Sinne des Wortes. Es ist etwas Ärgeres. Mein ganzes Wesen bäumt sich dagegen auf, schreckt davor zurück, nach Luvercy zurückzukehren. Es ist, als würde man mich auffordern, mich ins Leere, ins Feuer zu stürzen. Selbst wenn Sie mich bitten würden, Jean ...«

»Nichts liegt mir ferner«, erklärte Mareuil ernst. »Vorhin erst lag mir die Gräfin, Ihre Tante, im Ohr, Sie zu überreden, Ihre Idiosynkrasie gegen Luvercy abzulegen. Doch nein! Ich bin im Gegenteil der Ansicht, daß Sie sich in keiner Weise Gewalt antun sollen.«

»Ich bin töricht, ich sehe es ein; denn die Viper muß schließlich doch mal sterben, ist vielleicht schon tot. Und doch sind meine Nerven mächtiger als meine Vernunft. Sie glauben doch auch, daß die Viper nicht mehr existiert?«

»Davon bin ich überzeugt, besitze sogar die Gewißheit. Tatsächlich. Ich bin meiner Sache sicher, so sicher, als hätte ich sie mit eigenen Augen verendet gesehen.«

»Sie machen mich neugierig!«

»Ich kann das nicht näher erklären. Vielleicht ist es eine Offenbarung, eine innere Erkenntnis.«

»Warum trachten Sie dann nicht, auch mir diese Erkenntnis mitzuteilen?«

»Weil dazu noch Zeit ist; denn solche nervöse Affektionen wie die Ihrigen, Gilberte, müssen langsam ausheilen. Und ich möchte nicht, daß Sie in den langwierigen, aber unbedingt zur Gesundung führenden Heilungsprozeß störend eingreifen. Daher werden Sie es nie erleben, daß ich Sie dränge, nach Luvercy zurückzukehren. Im Gegenteil, ich bitte Sie sogar, gar nicht an so etwas zu denken.«

»Ich verstehe Sie nicht recht.«

»Und doch ist es vernünftiger; denn es gibt Neigungen, Angewohnheiten und Wahnideen, die man besser nicht von vorn, sondern auf Umwegen bekämpfen muß, indem man tut, als beachte man sie gar nicht.«

»Summa summarum, reden Sie mir Luvercy aus?« meinte Gilberte erstaunt. »Das überrascht mich!«

Eine vage Idee durchzuckte sie flüchtig. Doch nahm der Gedanke in seiner nebelhaften Form keine rechte, faßbare Gestalt an. Erst später, in dramatischer Lage, sollte sich Gilberte über ihr Gefühl bei Mareuils Worten, die ihr seltsam, rätselhaft, ja unverständlich schienen, klarer werden. Sie erinnerte sich, daß diesem Gespräch ein kleines, peinliches Schweigen folgte und daß sie ihren Verlobten auch nicht weiter fragte, zumal sie in Armenonville eingetroffen waren. Als sie dann wenige Minuten später an einem der kleinen Tische auf der Terrasse Platz nahmen, hatte Gilberte es nicht mehr gewagt, auf die Sache zurückzukommen, denn sie hatte vorhin in Jean Mareuils Augen einen verstörten und beunruhigenden Blick aufflackern sehen, den sie nicht wieder wachrufen wollte.

Armenonville war stark besucht. Im Schoße üppigen Grüns bildete es mit seinem bunten Blumenflor und idyllischen kleinen See einen der entzückendsten landschaftlichen Punkte in der Umgebung von Paris. In der leuchtenden Frische des herrlichen Morgens atmete alles hier Reichtum, Eleganz und Luxus. Der Anblick der vielen schönen Frauen und wundervollen Toiletten, die feine, kultivierte Lebensart einer erlesenen Gesellschaft, das Liebreizende des Frühlings, das alles, überstrahlt von dem warmen, durch knospende Zweige gemilderten Licht strahlenden Sonnenscheins und durchweht vom Duft der Wälder und den Parfums der Mode, vereinigte sich zu lebenbejahendem Genuß. In das diskrete Halblaut der Gespräche mischte sich das Gezwitscher der Vögel, Taubengegurr und Schwingenschlag und ab und zu das Wiehern eines Pferdes, und die Autos gaben mit gedämpftem Gebrumme den Unterton an.

Selig saßen Jean Mareuil und Gilberte beieinander und freuten sich des Daseins. In ihren hohen Kristallkelchen schillerte die Orangeade goldhauchdurchsonnt, in der Eiskreme steckten die langen Strohhalme. Ihre jugendlichen, an Geist und Seele gesunden Körper durchflutete ein physisches Wohlbehagen. Freudig blickten sie in die Zukunft, und die Macht der großen Liebe zog sie zueinander hin.

Da wurde Gilberte plötzlich blaß und machte eine jähe Bewegung.

»O,« rief sie, »es ist wirklich zu dumm!«

Mareuil folgte ihrem Blick.

In einiger Entfernung schritt eine hochgewachsene Frau von außerordentlicher Schönheit zwischen den Tischen umher und sammelte in einer Art von Schale Trinkgelder ein.

Unter einem Walde üppigsten, tiefschwarzen Haares blitzten die wundervollen, dunklen Augen unerschrocken, herausfordernd und keck. Eine Unmenge mit Similisteinen besetzter Schildpattkämme hielten ihre schweren Flechten zusammen, und geringelte Locken umspielten ihre Schläfe und gebräunten Wangen. Das schwarzrote, etwas theatralische Kleid modellierte verführerisch ihre gerundeten und harmonischen Formen. Selbst in der Entfernung verriet Ihr Vorstadtprofil eine feine Linie. Ihre hohen Schnürschuhe brachten den edlen Spann ihres Fußes und die Konturen der Wade voll zur Geltung. Ein entzückender schwarzer Pudel mit einer hellgrünen Seidenmasche im Stirnschopfe begleitete seine Herrin auf Schritt und Tritt. Aber nicht das war es, was eine Bewegung unter den mondänen Gästen bei ihrem Vorüberschreiten auslöste, die Damen etwas zurückweichen ließ und ihnen kleine Schreie entlockte, sondern etwas ganz Ungewöhnliches.

Wie einen lebenden Halsschmuck und gedrehte Armspangen trug sie auf sich eine Unzahl kleiner, schillernder und glatter Schlangen, die sich ihr um den Nacken und die bis zur Schulter entblößten Arme wanden.

»Bitte, bitte, gehen wir!« bat Gilberte. »Kommen Sie, Jean, entfernen wir uns!«

Die Trinkgeldschale ausstreckend und ab und zu eine der Schlangen zurechtrückend, kam die Frau langsam auf den Tisch Gilbertes zu. Man hörte sie mit fremdartigem Akzent immer wiederholen: »Für die Schlangenbeschwörerin, meine Damen und Herren! ... Danke, danke verbindlichst ... danke ...«

»Ich geh', Jean. Hören Sie?«

»Aber nein, das würde ich nicht dulden, Gilberte! ... Kellner!«

Ein »Ober« flitzte herbei. Mareuil drückte ihm eine Hundertfranknote in die Hand.

»Geben Sie das dem kleinen Mädchen dort! Sie soll machen, daß sie hingeht, woher sie gekommen ist, und nicht hier vorübergehen! Verstanden?«

Der Ober verbeugte sich. Man sah, wie er an das Mädchen herantrat und mit ihr sprach. Sie nahm die Banknote, nickte und blickte zu Mareuil hinüber.

Den anfangs gleichgültigen Blick durchzuckte plötzlich für eine Sekunde ein merkwürdiger Blitz. Infolge der Entfernung nahmen es Mareuil und Gilberte nicht wahr. Sie merkten nur, wie die dunklen Augen der Fremden sie einen Augenblick abwechselnd anstarrten.

Jedermann erklärte sich das Erstaunen des Weibes damit, daß sie über die Art ihrer Entlohnung verwirrt war. Den Rücken kehrend, entfernte sie sich lässigen und wiegenden Ganges. Bei ihrem Kommen hatte sie auf dem Sande eine kleine gelblederne Reisetasche abgesetzt. Sie öffnete sie jetzt und packte unter dem wachsamen Auge des Pudels die Schlangenknäule in den seltsamen Behälter ein. Die Kellner bildeten um sie, die Serviette unter dem Arm, einen neugierigen Kreis. Als sie fort war, kehrte der Ober, der sie hatte »expedieren« müssen, zu seinen Tischen zurück.

»Was ist das für eine Gauklerin?« fragte ihn Mareuil.

»Sie heißt Java«, erwiderte der Ober. »Der Herr kennen nicht die Java? Ihr Hauptbetätigungsfeld bilden die obskuren Kneipen. Sie ist der Stolz des Spielhöllenviertels und der ›Porte Maillot‹. Manchmal kommt sie auch bis hierher. Man duldet sie, weil sie sich immer anständig benimmt. Überdies, man mag darüber lachen oder nicht, leistet sie nicht Alltägliches. Die Gnädigste fürchtet sich vor Schlangen?«

»Was bin ich schuldig?« fragte Mareuil und zog einen zweiten Hunderter aus seiner Brieftasche.

Beim Bezahlen schob Gilberte dem Kellner das herausgegebene Kleingeld hin.

Der Ober strahlte.

»Küsse vielmals die Hände!« sagte er mit tiefer Verbeugung. »Ein wahrhaft fürstliches Trinkgeld, gnädige Frau.«

»Haben Sie gehört?« wandte sich Gilberte an ihren Verlobten. »Er hat zu mir ›gnädige Frau‹ gesagt. In Ihrer Gesellschaft macht mir das Eindruck. Er ist der erste, der zu mir ›gnädige Frau‹ gesagt ... ›Frau Jean Mareuil‹ ... Ach, Jean, wie himmlisch ist es doch heute morgen!«

Zehn Minuten später stiegen sie wieder zu Pferde.

Kaum hatten sie Armenonville hinter sich, so trafen die Reiter mit Java zusammen.

Lässig stand sie mit ihrem Pudel und ihrer Ledertasche am Wegrande und betrachtete sie, einen nach dem anderen, namentlich Jean. Finster zog sie die Brauen zusammen, und ihren frechen Mund umspielte ein böses Lächeln.

»Unverschämte Person!« ärgerte sich Gilberte.

Kaum waren sie an ihr vorüber, rief ihnen eine Stimme halblaut nach: »Freddy! ... Freddy!«

Der Pudel sprang laut bellend an den Pferden empor.

»Freddy!« wiederholte die Stimme rauh.

»Drehen Sie sich nicht um, Jean!« bat Gilberte. »Es wäre mir peinlich.«

Der Cob fing plötzlich im Stechtrabe zu gehen an, denn die kleine, sonst so leichte Hand seiner Reiterin hatte die Zügel gestrafft. Mareuil lächelte seine Verlobte verliebt und etwas spöttisch zugleich an. Sie aber drehte sich ab, damit er nicht zwei dicke Tränen in ihren Augen entdecke, und trieb ihr Pferd auf dem harten Boden zum Galopp an.


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