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XIII.

Ein listiger Plan.

Im Palais von Neuilly war noch niemand der eingeladenen Gäste, als Lionel und Mareuil ihrem Taxi entstiegen. Die Gräfin musterte mit einem letzten häusfraulichen Blicke das Büfett, während Gilberte die Neger der Jazzband um das Klavier gruppiert hatte und ausgelassen vor Freude die Takte des neuesten Mode-Blues zu Ende spielte. Es bot ein sehr unterhaltsames Bild, diese verteufelte kleine Nixe, ganz rosa angehaucht von Lustigkeit, singen zu hören und ihr zuzusehen, wie sie die Tasten meisterte und dabei auf ihrem Klaviersessel nach dem Rhythmus der amerikanischen abgehackten Weise hin und her tanzte, und rings um sie die fünf schwarzen Gesichter mit frohem Grinsen, das vielleicht zu ihrem Geschäft gehörte, jedenfalls aber Heiterkeit erweckte.

Lionel und Mareuil hüteten sich, diese bezaubernde Katzenmusik zu unterbrechen. Jean betrachtete die Szene mit wohlwollendem Entzücken, während der junge Graf eine Terrakottabüste ergriff und mit dieser »Dame ohne Unterleib« einen wütenden Bambula exekutierte.

Das Ganze beendete eine allgemeine Lachsalve.

Das Gesicht der erhitzten Gräfin tauchte auf.

»Gilberte?« rief sie. – »Tante?«

Die alte Dame nahm Mareuil unter den einen, ihre Nichte unter den andern Arm und schleppte sie in einen angrenzenden Salon.

»Liebe Kinder, es tut mir leid, aber Gilberte hat mir gesagt, daß ihr die Hochzeit auf den 2. Juni angesetzt habt, und das ist unmöglich. Das ist viel zu bald. Bis dahin kann ich nicht alle Vorbereitungen getroffen haben. Ihr habt ja keine Ahnung! Laßt mir mindestens vierzehn Tage länger Zeit. Wie wäre der 25. Juni? Wollt ihr? Macht mir das große Vergnügen, ja?«

Sie hielt noch immer Gilberte untergefaßt. Diese machte sich jetzt schmollend los und erklärte: »Nein, Tante. Es bleibt beim 2. Juni.«

Die Gräfin blickte den etwas verlegen dastehenden Mareuil fragend an.

»Am 2. Juni kann ich nicht!« stöhnte die alte Dame. »Oder alles geht verkehrt. Und ich will, daß alles gelingt und die Hochzeit ein schönes Fest sei, denn ich bin dafür verantwortlich.«

»Ob's schief geht oder nicht«, trotzte Gilberte. »Am 2. Juni ist die Hochzeit.«

»Der 25. Juni wäre der Vortag des Grand Prix. Wir zögen wirklich den 2. Juni vor, Gräfin.«

Die Gräfin verlegte sich auf das Bitten. »Ihr seid wirklich nicht vernünftig und sehr wenig nett. Ich bitte euch ja nur um vierzehn Tage Aufschub.«

»Ich kann tun, was ich will!« sagte Gilberte bissig.

»Ach so? Du vergißt, daß ich das Recht habe, deine Hochzeit auf vierzehn Tage zu verschieben, wenn es mir richtig erscheint.«

»Das wärst du imstande zu tun?« fragte Gilberte zornbebend.

»Bitte, bitte, meine Damen!« legte sich Mareuil in das Mittel.

»Nein, ich werde es gewiß nicht tun«, entgegnete die Gräfin, plötzlich wieder besänftigt. »Aber wenn du so mit mir sprichst ... Komm, gib mir einen Kuß! Nicht weinen, Kindchen, nicht weinen! Hör' zu, Gilberte, wir wollen einen Pakt miteinander schließen? Du weißt, wie sehr ich wünsche, daß du wieder nach Luvercy gehst. Also, raffe dich auf, kämpfe deine lächerliche Angstpsychose nieder und versprich mir, wieder nach Luvercy zu gehen. Es wäre mein heißester Wunsch, daß wir dort deine Hochzeit feiern. So schön wäre es, so gemütlich! Nur in Luvercy bist du wirklich zu Hause. Dort ruht auch deine arme Mama. Wegen der Nähe von Paris würde auch eine Menge Menschen zur Feier kommen. Versuche es mindestens einmal. Gehst du diese Woche nach Luvercy, Gilberte, akzeptiere ich den 2. Juni als Hochzeitstermin.«

Schon bei den ersten Worten der Gräfin hatte es Mareuil durchzuckt, doch ließ er sie höflich und zustimmend lächelnd zu Ende reden.

»Ich bin nicht dafür, daß sich Gilberte Gewalt antun soll«, meinte er bescheiden.

»Schwörst du mir, Tante, daß über das Datum meiner Hochzeit nicht mehr debattiert werden wird, wenn ich deinen Wunsch erfülle?« fragte Gilberte.

»Ich schwöre es dir!« erwiderte die Gräfin in sanftem, mütterlichem Tone. »Es bedeutet zwar für mich ein schweres Stück Arbeit, aber ich habe mindestens das befriedigende Gefühl, in bezug auf Luvercy meine Pflicht getan zu haben. Deine Mama hat immer gewünscht, daß du dort heiratest.«

»O, um dort zu heiraten, gehe ich nicht hin. Ich will nur hingehen, weil du es verlangst, aber einmal und nie wieder.«

»Mehr will ich gar nicht. Ist der erste Schritt getan, folgen alle weiteren nach, und du wirst vielleicht selbst erstaunt sein, heute über vierzehn Tagen in Luvercy installiert zu sein.«

»Ausgeschlossen! Bitte, rechne ja nicht damit, Tante!«

»Ich schlage vor, Donnerstag nach Luvercy zu fahren, Herr Mareuil. – Ah, er schwebt schon wieder in den Wolken! ... Donnerstag, Herr Mareuil, per Auto. Paßt Ihnen das?«

»Aber ... aber ... gewiß, gnädigste Gräfin. Donnerstag nachmittag?«

»Ja, das ist gerade recht«, pflichtete Gilberte bei. »Zeit genug, um hin und zurück zu fahren.«

»Kleine Schäkerin!« drohte ihr die Tante mit dem Finger.

»Wieso?« Gilberte zuckte die Achseln. »Ich muß dich schon kolossal lieben, um deine Bedingungen anzunehmen.«

»Wenn du jemand ›kolossal lieben‹ würdest, glaube ich eher, daß du ...«

Die Jazz schnitt der alten Dame das Wort ab. Lionel hatte das Zeichen gegeben, als er das erste Auto anrollen sah.

Gilbertes Stimme mischte sich in den pathetischen Ton eines aufdringlichen Saxophons.

»Also, es bleibt dabei, Tante. Der 2. Juni. Ich werde es allgemein bekanntmachen.«

»Ja!« rief die Gräfin, sich nach der Empfangstür des Salons wendend.

Plötzlich fiel ihr jedoch etwas ein. Sie machte kehrt und sagte zu Jean Mareuil: »Ich habe ganz vergessen ... ich habe im Odeon eine Loge, und es würde mich sehr freuen, wenn Sie mit uns kämen. Man wiederholt den ›Staatsanwalt Hallers‹, wissen Sie.«

»Mama, die Leute rücken an!« warf Lionel dazwischen.

Mißbilligend zuckte die Gräfin mit den Schultern und entfernte sich eiligst.

Während das kleine Fest seinen Verlauf nahm, suchte Lionel seine Mutter auf und zog sie mit sich in eine Fensternische, wo sie ungestört waren und niemand sie belauschen konnte.

»Du legst also großen Wert darauf, daß Gilberte nach Luvercy zurückkehrt?« fragte er.

»Eigentlich nein, mein Sohn. Ich wollte nur das Datum der Hochzeit hinauschieben und damit Zeit gewinnen. Leider packte ich die Sache ungeschickt an. Als ich dann sah, daß ich nachgeben mußte, suchte ich nach einem Ausweg, um den Schein einer Kapitulation zu vermeiden. Luvercy fiel mir ein. ›Do ut des‹, heißt es. Die Ehre war gerettet. Im übrigen habe ich doch einen Plan ...«

» ...der jedenfalls gut ist ... ich will weiter nicht fragen. Nur zwei Worte möchte ich mit dir jetzt reden. Ich hatte vorhin mit Mareuil ein ganz lehrreiches Zwiegespräch ...« Und Lionel berichtete, wie er an Mareuils Arm die Tätowierung entdeckte und was dann folgte, indem er namentlich das Entsetzen Mareuils scharf unterstrich, das er zu empfinden schien, sobald die Sprache auf das Drama von Luvercy kam.

Die Gräfin hörte ihm gespannt zu.

»Es mag sehr wohl etwas dahinterstecken«, sagte sie. »Was eigentlich, habe ich keine Ahnung. Es wäre auch zu langwierig, schwer und gewagt, auf dieser Spur weiterzuarbeiten. Denn die Zeit drängt. Bis zu der geplanten Hochzeit haben wir nur noch vier Wochen. Das ist ausschlaggebend. Rasch muß gehandelt werden, mit möglichster Intensität und auf die sicherste Art. Es ist erforderlich, das entscheidende Mittel zu finden, um die Heirat zu vereiteln. Ich habe daher auch reiflich über unsere Chancen nachgedacht und halte es für das Zweckmäßigste, für den Augenblick darauf zu verzichten, herauszubekommen, welche Rolle Jean Mareuils ›Zweites Ich‹ in dem Drama von Luvercy spielte – wenn er überhaupt eine Rolle darin spielte, was unbewiesen ist. Mein Plan ist ...«

»Laß hören!«

Die Gräfin blickte sich vorsichtig um, ob wirklich niemand sie belauschen könne. Die Besorgnis war überflüssig, denn es herrschte ein lebhaftes Treiben im Saale. Kaum durchdrangen die Töne der Jazz das Tohuwabohu der Stimmen, der Ausrufe, der fröhlichen Unterhaltung und des munteren Gelächters. Überdies spielte Gilberte heute eigentlich die Rolle der Hausfrau. Die offizielle Verkündigung ihrer baldigst stattfindenden Verehelichung machte sie zum Mittelpunkt der Glückwünsche und des Festes. Alles umringte sie, lächelte ihr zu, schmachtete sie an und erwies ihr zarte Aufmerksamkeiten. Bald würde die Gräfin Elisabeth von Prase wieder die arme Verwandte sein, binnen kurzem in den Hintergrund zurücktreten und der »Frau Jean Mareuil« die Schlüssel übergeben.

Die Gräfin benutzte diese günstige Gelegenheit, sich ihrem Sohne ungestört zu offenbaren.

»Mein Plan ist der«, fuhr sie fort. »Du selbst hast mich auf die Idee gebracht, Lionel, als du mir von deinem Besuche bei dem Polizeipräfekten erzähltest. Auch dir fiel eine Bemerkung des Präfekten auf. Er meinte, Jean Mareuil-Freddy könnte unter Umständen wieder zu Fall kommen, wenn die Versuchung an ihn herantreten würde. Wir wollen nicht annehmen, daß er gemordet hat, aber daß er einen Diebstahl auf dem Gewissen hat, erscheint höchst wahrscheinlich.«

»Verstehe, Mama, wir müssen ihn wieder zum Diebe machen. Darin besteht doch dein Plan? Du kannst dir denken, daß auch ich schon daran dachte.«

»Ja, wir müssen aus ihm wieder das machen, was er zweifellos gewesen ist, und wenn er noch nicht gestohlen hat, ihn dazu verleiten. Hör' zu, mein Junge! Bis zum zweiten Juni mußt du so vorgehen, daß ›die Natter‹ ein Einbrecher wird oder wieder einer wird. Gelingt dies, so wird es meine weitere Sorge sein, die Eheschließung zu vereiteln.«

»Vergiß nicht, Mama, daß Gilberte in Jean Mareuil bis über beide Ohren vernarrt ist! Vielleicht könnte sie sich der Hoffnung hingeben, ihn zu ›retten‹!«

»Mag dem sein, wie ihm wolle, mein Sohn, die Hochzeit würde auf alle Fälle ›ad calendas graecas‹ verschoben werden. Das Recht hierzu hätte ich, es wäre sogar meine Pflicht. Dann hätten wir freies Spiel. Übrigens kenne ich die Frauen. Zu sehen, wie sich jemand als Verbrecher oder als entartete Doppelnatur entpuppt, wirkt auch auf die glühendste Liebe wie eine kalte Dusche.«

Lionel beugte sich vor der Überlegenheit seiner Mutter. Nun offenbarte sich ihm auf einmal ihre Größe und ihr achtunggebietender, starker Charakter. Blindlings ordnete er sich daher dem Willen der Mutter unter und fragte: »Was soll ich tun?«

»Aubry hat mit Freddy, Jean Mareuils ›Zweitem Ich‹, in Verbindung zu treten und sich möglichst rasch in sein Vertrauen einzuschleichen. Er muß ihn ködern, aufklären, bestechen. Hierzu genügen ein paar Tage. Gewinnt er den Eindruck, daß jener so weit ist und reif, bei sich bietender Gelegenheit der an ihn herantretenden Versuchung zu unterliegen, sind wir es, welche diese Gelegenheit künstlich schaffen werden.«

»Soll ich persönlich auch mit eingreifen?«

»Nein, du nicht. Dich kennt Mareuil, unseren braven Aubry kennt er aber nicht. Meinem Gefühl nach darf man nicht mit dem Feuer spielen. Eine dunkle Erinnerung, ein leichter Kontakt zwischen den beiden Polen des ›Doppelten Ich‹ würden genügen, um alles zu verderben.«

»Mit einem Widersacher haben wir auch noch zu rechnen.«

»Du meinst den Mann, von dem der Präfekt sprach, der darüber wacht, daß Freddy Jean Mareuil nicht kompromittiere? Ich habe diesen Gegner nicht vergessen. Es kommt darauf an, seine Persönlichkeit festzustellen, und vor allem, hinter seinem Rücken zu handeln. Du hast keine Ahnung, wer dieser verborgene Gott sein könnte?«

»Nicht die blasseste, Mama. Über diesen Punkt schwieg sich der Präfekt restlos aus, und Aubry hatte noch keine Zeit, das Nachtleben von ›Freddy, der Natter‹, auszubaldowern.«

»Nun, und das Frauenzimmer, die Java?«

»Vorerst kann ich noch nichts Bestimmtes sagen. Aber ich glaube kaum, daß wir von dieser Seite großen Widerstand zu befürchten haben. Sie gehört meiner Ansicht nach zu der Kategorie von Weibern, deren Ideal es ist, die Sklavin eines ›Schreckens von Batignolles‹ oder eines ›Tigers von Ménilmontant‹ zu sein. Weder der Strafbogen ›Freddys, der Natter‹, dürfte sie interessieren, noch dürfte ihr die Unbescholtenheit und Ehrenhaftigkeit ihres Kavaliers sehr am Herzen liegen. Was letzteres anbetrifft, eher das Gegenteil.«

»Solange wir darin nicht klar sehen, ist es besser, wenn Aubry sie ausschaltet und im geheimen manövriert.«

Von weitem verfolgte Lionel mit dem Auge Jean Mareuil und Gilberte, die miteinander tanzten. Im Geiste sah er die eintätowierte blaue Schlange am Arme des jungen Mannes.

»Wenn Gilberte das wüßte!« murmelte er.

Dann stellte sich Lionel seinen Nebenbuhler vor, nicht von einem englischen Schneider angezogen, sondern mit einer Apachenmütze auf dem Kopf, ohne Kragen und Krawatte und in Pantoffeln, jenen Jean Mareuil, den er nachts hatte dahinschleichen sehen. Der mondäne Tango verwandelte sich in einen Schiebetanz und Gilbertes Antlitz in Javas Gesicht.

»Wenn sie wüßte«, wiederholte er und blickte seine Mutter mit grimmiger Freude an.

»Hab' keine Angst, sie wird es erfahren!« erklärte die Gräfin.

Diese hart ausgesprochenen Worte versetzten Lionel unwillkürlich in Staunen.

»Aber du hast sie doch sehr gern?« rief er.

»Gewiß! Doch in erster Linie bin ich Mutter. Und – arbeite ich nicht auch in ihrem Interesse? Darf ich, der ich für ihr Glück und ihre Zukunft verantwortlich bin, zugeben, daß sie das Opfer eines Halbnarren wird, der nachts den Apachen mimt?«

Lionel mußte seiner Mutter innerlich recht geben, immerhin verwirrte es ihn, wie leichten Herzens sie ihm Gilbertes Träume zum Opfer brachte. Denn sie hätte nicht anders gehandelt, auch wenn der Verlobte ihrer Nichte eine einwandfreie Persönlichkeit gewesen wäre. Hier lag ein Schulbeispiel jener leidenschaftlichen Mutterliebe vor, die in heißem Ungestüm und wilder Glut alles andere ihren elementaren Instinkten opfert.

»Du tanzt nicht?« fragte die Gräfin.

»Doch«, erwiderte Lionel nachdenklich. »Aber ich nehme an, daß Mareuil mit uns soupieren wird, und dann hätte ich keine Gelegenheit mehr, mit dir unter vier Augen vor dem Theater zu sprechen. Wegen des Stückes hast du mir nichts zu sagen? Ich glaube, das Sujet ist dem von Hamlet ›nachempfunden‹?«

»Was willst du damit sagen?«

»Du kennst das Sujet nicht? Dann wandelst du, ohne es zu wissen, in Shakespeares Spuren, Mama. Na, rufe dir deine klassischen Erinnerungen etwas ins Gedächtnis zurück! Hamlet verdächtigt seine Mutter und seinen Stiefvater, den König, seinen Vater, umgebracht zu haben. Er lädt sie zu einer improvisierten Theatervorstellung ein, die von fahrenden Schauspielern gegeben wird und den vermuteten Mord auf die Bühne bringt. Das königliche Mörderpaar erschrickt, verrät sich. Hamlet beobachtet die Königin und seinen Stiefvater heimlich und erlangt durch diesen Kunstgriff die Gewißheit ihrer Schuld.«

»Aber, mein Lieber, in dem Stück ›Der Staatsanwalt Hallers‹ kommt weder ein Mord noch sonst etwas vor, was nur die geringste Ähnlichkeit hätte mit den Vorgängen beim Hinscheiden deiner Tante«, meinte die Gräfin, ohne mit der Wimper zu zucken.

»Das wollte ich auch gar nicht sagen, aber ich denke doch, du wirst mich verstanden haben?«

»Du willst sagen, daß ich es für nützlich erachte, Mareuil in ein Stück mitzunehmen, das seinen Fall behandelt? Ja, da hast du recht. Ich möchte feststellen, ob ein derartiges Stück nicht in ihm eine starke, seelische Erregung auslöst. Es ist mir wichtig, zu erfahren, in welchem Grade ihn sein ›Zweites Ich‹ beeinflußt. Denn darüber besteht kein Zweifel, daß ihn zuweilen ein beängstigendes Bewußtsein überfällt. In seiner Geistesabwesenheit, in seinem Versonnensein, vom Album gar nicht zu reden, findet man Beweise dafür. Wenn die beiden Bewußtseinssphären auch nur ein ganz klein wenig miteinander in Verbindung treten, wie das zuweilen nebelhaft der Fall ist, würde es uns ein gutes Stück vorwärtsbringen.«

»Worin?«

»Wir wollen die Haut des Bären nicht verkaufen, ehe der Bär nicht erlegt ist, mein Junge. Wenn ein solcher Fall eintritt, ist genug Zeit, um die möglichen Folgerungen daraus zu ziehen. Aus gewissen Annahmen Schlüsse zu ziehen, erschien mir immer richtig und vernünftig, aber man muß bei den allgemeinen Richtlinien bleiben und nicht von ihnen abweichen, indem man allzu minutiös alle Wenns zerfasert. Im übrigen reden wir schon zu lange miteinander, mein Sohn. Wir wollen zu keinerlei Kritik Anlaß geben. Geh tanzen, geh!«

Als Lionel sich mit der lärmenden Lustigkeit, für die er in der Gesellschaft bekannt war, mitten in den Wirbel der tanzenden Paare stürzte, beendeten gerade Mareuil und Gilberte ihren Tango und wechselten miteinander ernste Worte.

»Gilberte, Sie können sagen, was Sie wollen,« meinte Mareuil, »ich finde das System verkehrt. Wie bei allen nervösen Affektionen ist auch hier eine schrittweise Behandlung notwendig.«

»Aber ich ziehe es vor, nicht bis zum 25. Juni warten zu müssen.«

»Es ist das sehr tapfer von Ihnen, und ich persönlich bin Ihnen dafür ganz unaussprechlich dankbar. Aber vernünftig ist es nicht, das kann ich nur wiederholen.«

»Wissen Sie, daß Sie mir etwas Angst machen? Ich muß meinen ganzen Mut zusammennehmen, und jetzt wollen Sie ihn mir rauben? Man sollte denken, Jean ... Sagen Sie, bis jetzt waren Sie doch fest davon überzeugt, daß die Viper nicht mehr existiert. Haben Sie Ihre Ansicht geändert?«

»Nein, durchaus nicht.«

»Ihre Art zu reden, kommt mir so merkwürdig vor. Und gerade jetzt, wo ich Ihres Beistandes bedarf, lassen Sie mich im Stich. Wenn ich einwilligte, nach Luvercy zu gehen, so geschah es in erster Linie, weil Ihre Sicherheit mir Sicherheit verlieh. Ich fühlte, daß Ihr Vertrauen auch mich mit Vertrauen zu erfüllen begann. Und nun werden Sie auf einmal schwankend ...«

»Ich schwöre Ihnen, Gilberte ...«

»Nein, nein, ich gewinne den Eindruck, daß Sie nur eine gewisse Zuvorsichtlichkeit heuchelten, um mir mein Selbstvertrauen wiederzugeben, nämlich – als von einer Rückkehr meinerseits nach Luvercy noch keine Rede war. Jetzt aber scheinen Sie zu erschrecken, weil Sie simuliert haben. Ihr Schrecken ist größer als der Schrecken, den mir selbst Luvercy je einflößte.«

»Ich bin darüber entzückt.«

»Wieso?«

»Weil wir uns dann dort nur so lange aufhalten werden, als notwendig ist, um Ihr Wort einzulösen, und weil Sie erst wieder nach Luvercy zurückkehren werden, wenn sich Ihre Nerven von selbst vollkommen beruhigt haben, was ich für wesentlich erachte.«

»Meinen Sie das im Ernst?«

Mareuil wich ihrem Blicke aus.

»Aus keinem andern – materielleren Grunde fürchten Sie für Ihre Gilberte etwas in Luvercy? Sie schauen so finster drein, weichen meinen Blicken aus! Jean, ich lese in Ihren Augen eine große Angst! Seien Sie offen, sagen Sie mir die Wahrheit!«

»Sie meinen, ich hätte einen anderen Grund, den Aufenthalt für Sie in Luvercy zu scheuen – abgesehen davon, ob ich die Gewißheit besitze, daß die Viper tot oder nicht tot sei? Nun, Liebste, wo ein Wille ist, ist auch ein Weg. Wie Sie wissen, möchte ich einen Besuch von Luvercy auf den einen Tag, den Donnerstag, vorerst beschränkt wissen ...«

»O, das ist zu arg!« entrüstete sich Gilberte.

»Ich liebe Sie!« gab er schlicht zur Antwort.

Bestürzt fragte sich das junge Mädchen: Fürchten wir uns jetzt beide vor Luvercy? ...


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